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- William -
E rklärt mich für verrückt, aber ich saß gestern Abend doch tatsächlich auf meiner Couch und hoffte, Jeremy würde sich bei mir melden. Und obwohl wir nichts dergleichen ausgemacht hatten, war ich ehrlich gesagt ein wenig enttäuscht. Richtig, ich hätte ihn genauso gut anrufen können. Nur wirkte er bei seinem Besuch dermaßen gestresst, dass ich ihm nicht auf den Keks gehen wollte.
Ich hatte nicht einmal den Kopf dafür, um an meinem Skript zu arbeiten. Na, immerhin gibt es die erste Überschrift: Kapitel 1. Wirklich keine Glanzleistung. Das hatte ich mir leichter vorgestellt. Wie sich herausstellte, besteht eben doch ein gewaltiger Unterschied darin, einen Artikel zu schreiben oder einen Roman. Die Erkenntnis ereilte mich, als ich vor meinem Rechner saß und auf die jungfräulichen Seiten des geöffneten Dokuments starrte. Jedes verdammte Mal, wenn ich meine Finger auf die Tastatur legte, kam mir etwas anderes in den Sinn, worüber ich minutenlang nachdachte, bis ich bemerkte, dass ich nicht ein einziges Wort getippt hatte. Also schloss ich das Programm und fuhr den Computer wieder runter. Es ist zwecklos, sich zu irgendetwas zwingen zu wollen. Neben Jeremy hing mir auch noch das Gespräch mit Peter und Chase nach.
Ich muss irgendwann gegen Mitternacht auf der Couch eingeschlafen sein. Auf der ich nun mit abartigen Rückenschmerzen liege, während der Fernseher läuft. Irgendwas klebt mir an der Wange, aber ich bin nicht wach genug, um dem auf den Grund zu gehen.
»Ein Shopping-Kanal? Wie ist das denn passiert?«, murmle ich erstaunt, nachdem ich die Augen öffne. Ein Schönling mit einem übertriebenen Grinsen und aufpolierten Zähnen will mir gerade weismachen, dass ich diesen Tag nicht überlebe, sollte ich nicht sofort diesen und keinen anderen Bodyformer kaufen. Ich schnaube und hieve mich mühsam in eine sitzende Position. Mein Blick fällt auf das Sofakissen und mir wird klar, worauf ich die ganze Nacht gelegen haben muss: meinem Handy. Na klasse.
Ich reibe mir die Wange und wische das Display sauber. »Du armes Ding, hab dich wohl vollgesabbert, hm?«
»Guten Morgen. Für alle, die jetzt erst zuschalten, ich bin Greg und werde Ihnen wieder wundervolle …«
»Ach, halt die Klappe, Greg«, grummle ich und würge den Schnösel mitten im Satz ab, als ich den Fernseher ausschalte.
Draußen ist es noch dunkel. Gut. Dann habe ich zumindest nicht verschlafen. Ein Blick auf die Uhr bestätigt mir meine Einschätzung. Es ist kurz vor fünf. Na super, wieder eine Nacht, in der ich nur ein paar Stunden Schlaf bekommen habe. So langsam helfen auch keine Wundercremes gegen Augenringe mehr, um den Schlafmangel zu vertuschen.
Plötzlich klingelt mein Handy und ich zucke unwillkürlich zusammen. Verdammt, ein Anruf um diese Zeit bedeutet nie was Gutes.
»Powell«, brumme ich in den Hörer.
»William, du musst sofort ins Büro kommen!«, poltert Jefferson, einer meiner Journalisten.
»Was ist denn los?«
»Schalt den nächstbesten Nachrichtensender ein, dann weißt du es.«
Ich angle die gerade von mir geworfene Fernbedienung vom Tisch und stelle den Fernseher wieder an. »Du kannst mir auch genauso gut sagen, was los ist.«
»Vor einer halben Stunde gab es in Seattle eine heftige Schießerei.«
»Das ist unschön. Aber du weißt, wie es läuft. Warum rufst du mich also an?«
»Sicher weiß ich das, Boss. Ich dachte nur, es würde dich interessieren, dass dies eine erneute missglückte Razzia im Zusammenhang mit dem Waffenschieberring ist, von dem vor zwei Jahren einige Mitglieder hier in San Francisco hochgenommen wurden. Du weißt schon, die Sache, bei der der halbe Hafen in die Luft flog?«
»Ach du Scheiße!« Augenblicklich muss ich an Jeremy denken. »Wurde wer verletzt?«
»Ja. Zwei Schwerverletzte und drei Tote.«
»Namen?«
»Das FBI zeigt sich wie immer zugeknöpft. In einer Stunde werden wir mehr erfahren. Dann wird Direktor Edwards eine Pressekonferenz abhalten.«
»Alles klar. Bereite schon mal alle darauf vor.«
»Wird gemacht.«
Mein Hirn rotiert und durchforstet sämtliche Kontakte, die ich in Seattle habe. Und zu meiner grenzenlosen Überraschung tue ich das nicht, um an eine Story zu kommen. »Ha, genau.« In der nächsten Sekunde höre ich das Klingelzeichen und schicke Dankesgebete zum Himmel, dass nicht besetzt ist.
»Verdammt, Powell, ich wusste, dass du anrufst«, begrüßt mich Caroline, eine alte Studienkollegin, die es vor Jahren in den Norden verschlagen hat und die sich bisher als perfekte Informantin erwies.
»Schätzchen, gib mir was, womit ich was anfangen kann.«
»Muss ich es dir jedes Mal aufs Neue erklären? Ich arbeite für das FBI und nicht für dich.«
»Ach, komm schon! Du weißt, du hast dann was bei mit gut. Habe ich je eine Schuld nicht beglichen?«
Ein leises Seufzen, ehe sie flüstert: »Was willst du wissen?«
»Namen, Liebes. Mehr nicht. Für den Rest warten wir auch artig bis zur Pressekonferenz.«
»Namen, mehr nicht? Was ist los, bist du krank?«
»Schatz, ernsthaft, es ist wirklich wichtig für mich.«
»Halt mal! Das ist was Persönliches, richtig?«
»Macht das einen Unterschied?«
»Im Grunde nicht. Du hast recht.«
»Also?«
»Ich weiß bislang von zwei Agents, die es nicht überlebt haben, und einem, der schwer verletzt ist. Bei dem dritten Toten und dem zweiten Verletzten handelt es sich um Personen, deren Identitäten noch nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnten.«
»Okay.«
»Es hat die Agents Havering und Archer erwischt. Bei der Schwerverletzten handelt es sich um Special Agent Wolders, die die Leitung des Teams innehatte und sich somit auch verantwortlich für diesen Einsatz zeichnet. Ihre vorläufige Prognose sieht nicht gut aus. Sie musste reanimiert werden. Ihr Zustand ist nicht stabil gewesen, als sie ins Krankenhaus gebracht wurde.«
»Scheiße!« Übelkeit steigt in mir auf und ich ringe um Fassung.
»Du sagst es. Scheinbar sind sie mitten in einen Hinterhalt geraten. Sie hatten keine Chance. Der Rest von Wolders Team wird gerade befragt.«
»Danke, Caroline. Mehr muss ich im Moment nicht wissen. Wenn du das nächste Mal hier bist, ruf an.«
»Das war’s schon?«
»Ja, ja. Bis bald.«
Verdammt, ich muss Jeremy anrufen. Sofort! Und das tue ich auch umgehend.
»William? Sorry, ich habe im Moment keine Zeit. Kann ich dich später zurückrufen?«
»Du weißt es also schon?«
Kurzes Schweigen, ehe er nachhakt: »Die Sache in Seattle?«
»Genau.«
»Ja, einer meiner Agents hat mich vor ein paar Minuten darüber informiert«, erklärte Jeremy hektisch.
»Du wirst hoch fliegen, oder?«
»Ich muss.«
»Weil ihr vor zwei Jahren gemeinsam in diesem Fall ermittelt habt oder aus einem anderen Grund?«, frage ich vorsichtig nach.
Stille.
»Jeremy, sag was.«
»Ich fliege nicht als Agent hoch«, gibt er leise zu, als würde er sich für irgendwas schämen.
»Das ist gut.«
»Meinst du? Ich habe dort eigentlich nichts zu suchen. Aber …«
»Ich verstehe dich, wirklich.«
»Es kommt dir nicht überstürzt vor?«
»Du willst wissen, ob es Audrey gut geht. Also nein, das ist nicht überstürzt, sondern völlig normal. Verdammt, du bist ihr Vater.«
»Es steht nicht gut um sie, weißt du?«
»Um Kendra? Ja, ich weiß.«
»Ernsthaft? Woher?«
»Ich habe meine Quellen.« Und ohne darüber nachzudenken, frage ich: »Möchtest du, dass ich dich begleite?«
Erneute Stille. Ich höre ihn nur schwer atmen, ehe er seufzt und wispert: »Das würdest du tun? Einfach so?«
»Sicher.«
»Aber du kannst doch nicht …«
»Was? Einem Freund zur Seite stehen? Sag ja und ich bin dabei.«
»Was ist mit deinem Job?«
»Es gibt Leute, die mich für ein paar Tage vertreten können. Der Chronicle wird nicht gleich untergehen, weil ich nicht da bin.« Diese Aussage erwischt mich selbst eiskalt. Dennoch entspricht sie der Wahrheit. Niemand ist unersetzlich, auch ich nicht. Und vielleicht ist jetzt der Moment gekommen, andere Prioritäten zu setzen.
»Das ist unerwartet, aber ich würde mich freuen, wenn du mitkämst.«
»Dann bin ich dabei. Hast du schon einen Flug gebucht?«
»Ich bin gerade am Packen. Die nächste Maschine müsste gegen acht Uhr starten.«
Das beantwortet nicht meine Frage. »Jeremy, hast du ein Ticket?«
»Was? Ähm … Shit! Nein.«
»Also gut, pack du in Ruhe weiter. Ich kümmere mich um den Flug und ruf dich gleich noch mal zurück.«
»Danke.«
»Keine Ursache. Und Jeremy?«
»Hm?«
»Alles wird gut.« Warum ich das sage, obwohl ich weiß, dass Kendras Aussichten ziemlich schlecht stehen, will mir nicht in den Kopf. Aber irgendwie muss ich ihn beruhigen.
»Wir werden sehen«, flüstert Jeremy.
»Jetzt pack deine Sachen. Bis gleich.«
»Okay.«
Ich hole meinen Laptop aus meinem Arbeitszimmer und stelle ihn vor mir auf den Tisch. Im Hintergrund laufen die Nachrichtensender heiß und überschlagen sich mit Pseudoneuigkeiten, nur um ihre Zuschauer vor der Glotze zu fesseln, damit sie nicht abschalten.
Der Flug ist fix gebucht und ich rufe Jeremy zurück.
»Hey, ich bin’s noch mal. Also, die Tickets sind hinterlegt. Wir sollten spätestens halb acht am Flughafen sein. Schaffst du das?«
»Das kriege ich hin.«
»Gut, wir treffen uns am Schalter von Delta Air, okay?«
»In Ordnung.«
Als Nächstes rufe ich im Chronicle an.
Jefferson ist augenblicklich in der Leitung. »William?«
»Hör zu, du musst für mich übernehmen.«
»Ich … was?!«
»Frag nicht lange. Ich brauch dich jetzt dort. Du bist der beste Mann, den ich habe.«
»Schmier mir keinen Honig ums Maul, Boss. Sag mir, was los ist!«
»Ist was Persönliches. Kann ich auf dich zählen, ja oder nein?«
»Natürlich kannst du. Aber was Persönliches?«
»Ja, stell dir vor, ich verfüge über ein Privatleben«, gebe ich knarrig zurück. Jeffersons Reaktion sollte mich nicht verwundern und ganz sicher nicht verärgern. Denn immerhin ist das hier eine Premiere – für ihn wie für mich. Nur, ich hab’s eilig und will dringend Jeremy sehen.
»Okay, ich frag ja schon nicht mehr. Wie lange wirst du weg sein?«
»Kann ich nicht sagen. Ab halb elf bin ich wieder erreichbar. Also wenn du mich brauchst, ruf an.«
»Ich komm klar, Boss. Hör mal, geht’s dir gut? Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Mir geht’s gut. Und du hilfst mir damit, dass du deinen Job machst.«
»Okay. Ich gebe mein Bestes.«
»Das weiß ich, sonst hätte ich dich nicht angerufen. Also, wir hören uns.«
»Bye!«
Ich lege das Handy neben mir auf die Couch und lehne mich zurück, um für einen kurzen Moment die Augen zu schließen und mich zu sammeln. Die Sache macht mich nervös. Wie muss es dann erst Jeremy gehen? Dumme Frage. Schließlich war er dermaßen durch den Wind, dass er ganz vergessen hat ein Flugticket zu buchen.
Nun denn, auf in den Kampf. Ich weiß zwar nicht, was mich in den nächsten Tagen erwartet, aber eins steht fest, ich sollte zuerst einmal duschen, mich anziehen und ein paar Klamotten zusammenpacken. Ein Plan, der für den Moment durchaus überschaubar ist.
Meine Augenlider fliegen auf, als mir noch etwas einfällt. Erneut fahre ich den Laptop hoch.