12
- Jeremy -
» F ran, entschuldigen Sie, dass ich so früh anrufe, aber ich werde in den nächsten Tagen nicht in der Stadt sein.«
Ein müdes Gähnen folgt, bevor sie nuschelt: »Ich weiß. Wir hatten gestern drüber gesprochen, schon vergessen?«
»Nein, das meine ich nicht.«
Sie muss mir meine Panik anhören, die mir im Nacken sitzt, denn plötzlich klingt sie hellwach. »Jeremy, was ist passiert?«
»Ich muss dringend nach Seattle. Der Flug geht bald. Ich wollte Ihnen nur kurz Bescheid geben.«
»Seattle?«
»Private Gründe. Ich kann jetzt nicht drüber reden.«
»Okay.«
»Ich bin dennoch telefonisch für Sie da. Ich weiß nur nicht, wie lange ich weg sein werde.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Mir ist egal, wo Sie sind, Hauptsache ich kann Sie auf dem Laufenden halten.«
»Auf alle Fälle. Also, ich muss dann, sonst verpasse ich den Flieger.«
»Gute Reise! Und viel Glück. Sie hören sich an, als könnten Sie das brauchen.«
»Danke und bis bald.«
Okay, Fran weiß Bescheid. Laut Anzeige der Uber-App ist das Taxi in drei Minuten vor dem Haus. Was fehlt? Ich blicke mich um und klopfe meine Jacke ab. »Schlüssel, Papiere, Handys. Reisetasche steht im Flur. Dann kann es losgehen.« Mit Mom hatte ich gestern noch telefoniert. Sie ist also fürs Erste ruhiggestellt und ich brauche keine Überraschungsanrufe ihrerseits befürchten. Meine Eltern haben recht schnell begriffen, dass ich in meinem Job viel um die Ohren habe und sie dementsprechend selten besuche. Wobei Mom bei ausbleibenden Anrufen keine Ausreden akzeptiert.
Keine fünf Minuten später sitze ich auf der Rückbank eines in die Jahre gekommenen Ford Maverick und werde von einem jungen, sehr freundlichen Inder zum Flugplatz chauffiert. Er lässt mir keine Möglichkeit, über irgendetwas nachzudenken, sondern bombardiert mich in einem fort mit Informationen, die ich gar nicht wissen will. Wie zum Beispiel seinen Vornamen, Herkunft, Familienstand und dass er auf ein Haus spart.
Es ist kurz nach sieben, als mich Mohit am Flughafen absetzt. Mit indischem Akzent ruft er mir noch hinterher: »Alles Glück der Welt, Sir.«
Ich stocke einen Moment und weiß nicht recht, wie ich darauf reagieren soll, da ich die ganze Fahrt über kein einziges Wort gesagt habe. Als ich mich umdrehe, um ihm zu danken, ist er fort.
»Hey, du bist schon da.«
Ich wirbele herum und stehe einem ernst dreinblickenden William gegenüber. Erleichterung durchflutet mich, während William offensichtlich unschlüssig ist, wie er mich begrüßen soll, darf, will – wie auch immer. Den Gurt meiner Reisetasche hänge ich mir über die Schulter, gehe auf ihn zu und ziehe ihn in die Arme.
Für den Bruchteil einer Sekunde versteift sich William, ehe er meine Umarmung erwidert und mich fest an sich drückt.
Gegen seine Halsbeuge nuschle ich ergriffen: »Danke, das tut gut. Du glaubst gar nicht, wie sehr.« Ich halte ihn auf Abstand. »Und danke, dass du das für mich tust.«
»Mach nicht mehr draus, als es ist.« William wirkt verlegen und deutet auf die Drehtür hinter uns. »Lass uns gehen. Wir checken ein und holen die Tickets. Nach der Sicherheitskontrolle brauche ich dringend einen Kaffee.«
»Spitzenidee.«
Am Gate suchen wir uns ein Bistro und setzen uns anschließend in den Wartebereich.
»Hast du in der Zwischenzeit was Neues erfahren?«, erkundigt sich William.
»Bisher nicht. Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, die Nachrichten zu lesen.«
»Okay, soll ich dich auf den neusten Stand bringen?«
»Sicher.«
»Jefferson, ein Kollege von mir, hat mich auf der Herfahrt angerufen. Die Pressekonferenz war vor ungefähr einer Stunde.«
»Lass hören.«
»Kendra befindet sich im OP. Die Ärzte geben natürlich ihr Bestes, können aber noch nicht sagen, wie es um sie steht. Was logisch ist. Wie es scheint, ist die Razzia von Kendra auf einen anonymen Tipp hin angesetzt worden. Na ja, du kennst die Verfahrensweisen eures Vereins. Sie erzählen viel, sagen nur nicht wirklich etwas. Zwischenzeitig konnten sie die anderen identifizieren. Sie gehören zum Waffenschieberring. Allerdings sind es relativ unbedeutende Lichter in deren Hierarchie, die wohl im Auftrag diesen Anschlag organisiert haben. Tut mir leid, aber mehr habe ich auch nicht. Vielleicht erfahren wir mehr, wenn wir dort sind.«
»Ich fühle mich wie der letzte Idiot. Ich weiß nicht einmal, in welches Krankenhaus Kendra gebracht wurde.«
»Kannst du niemanden anrufen?«
»Ist im Moment etwas kompliziert«, gebe ich leise zu.
William zieht die Stirn kraus und beugt sich zu mir. »Was ist los, Jeremy? Hast du Ärger?«
Ich blicke mich kurz um. Dann schaue ich William an. »Du weißt, dass ich dir keine Interna erzählen darf, oder?«
»Ja, schon klar. Sag mir nur, ob du damit klarkommst.«
Seine Sorge ist wie Balsam für meine Seele. »Das werde ich, egal wie es ausgeht.«
»Das klingt nicht wirklich gut.«
»Ist es auch nicht. Aber ich kann im Moment nichts weiter unternehmen, als abzuwarten, da ich in einer echt blöden Situation bin. Man legte mir ans Herz, für eine Weile von der Bildfläche zu verschwinden.«
»Ich verstehe nicht. Verschwinden?«
»Na ja, offiziell bin ich im Urlaub. Und wenn das heute mit Kendra nicht passiert wäre, stünde ich in diesen Minuten bei dir auf der Matte und hätte dich gefragt, ob du mit mir deinen Recherchen nachgehen und vielleicht ein paar Tage zu Chase und Peter fahren willst.«
William reißt erstaunt die Augen auf. »Du wolltest mit mir Urlaub machen?«
Ich zucke die Schultern. »Natürlich nur, wenn du dir hättest freinehmen können, und natürlich erst nach unserem heutigen Kino-Date. Aber wie du siehst, scheint das Schicksal andere Pläne mit mir zu haben.«
»Mit uns«, entgegnet William entschlossen.
Ich lächle und nicke. »Okay, mit uns.«
»Ach übrigens, ich war so frei und habe uns Zimmer reserviert. Und ein Leihwagen steht ebenfalls bereit. Ich hoffe, das war nicht zu voreilig.«
»Himmel, daran habe ich mit keiner Silbe gedacht. Du denkst wirklich an alles, oder?«
»Na ja, ich stecke nicht so tief drin wie du. Von daher … Aber weißt du was, ich könnte noch einmal einen Anruf tätigen. Vielleicht bekommen wir raus, wohin sie Kendra gebracht haben.«
»Bist du sicher?«
»Moment, das haben wir gleich.« Es dauert etwas, bis William grinst und ins Handy raunt: »Ja, Schätzchen, ich bin’s schon wieder. – Was? – Nein, darum kümmert sich Jefferson. Aber du kannst mir sagen, in welches Krankenhaus Agent Wolders gebracht wurde. – Liebes, frag nicht so viel. Weißt du, bei deiner Neugier solltest du dir vielleicht doch überlegen, wieder zu uns zurückzukommen. – Du bist mein Engel. Danke, Schatz. – Wie bitte? – Ja, ist möglich, dass wir uns im Krankenhaus über den Weg laufen. – In Ordnung, man sieht sich. Bye!«
Ich sollte froh sein, dass William seine Kontakte für mich nutzt, dennoch schleicht sich Eifersucht zu all den anderen aufwühlenden Gefühlen, die mich im Augenblick voll im Griff haben.
William steckt sein Handy in die Tasche und lächelt mich zufrieden an. »Caroline kann mir einfach nichts abschlagen«, erklärt William.
»Sie scheint eine gute Freundin zu sein«, murmle ich.
»Ist sie.« William legt seine Hand auf meine. Ich schaue zu ihm auf.
Er blickt mich eindringlich an, als er betont: »Eine alte Freundin.«
Ich zucke beiläufig mit den Schultern. So sehr ich mich auch bemühe, offensichtlich bin ich in Williams Gegenwart nicht fähig, mich wie ein erwachsener Mann zu benehmen. Meine Gemütsregungen sind unangemessenen und absolut fehl am Platz.
Ein kleines Lächeln schleicht sich in Williams Gesicht, ehe er im Flüsterton anfügt: »Sie ist verheiratet.«
Ich könnte jetzt weiterhin so tun, als ginge es mich nichts an. Allerdings scheine ich für William ein offenes Buch zu sein. Er würde es mir nicht abnehmen. Und wie mir eben durch den Kopf ging, sollte ich mich nicht wie ein grüner Junge benehmen, sondern einfach zu dem stehen, was in mir vorgeht. Also erwidere ich sein Lächeln und sage überaus zufrieden: »Gut zu wissen.«
»Jeremy, ich befinde mich in keiner irgendwie gearteten Beziehung. Weder mit einer Frau noch mit einem Mann. Aber ich muss zugeben, ich fühle mich geehrt, dass dich die Möglichkeit nicht kaltlässt. Das zeigt mir, dass ich nicht allein damit bin.«
Erstaunt blicke ich zu ihm auf. »Bist du nicht.«
»Nein, verdammt!«, erwidert William ziemlich schroff. Ihm geht es also ebenso wie mir? Das beruhigt mich wiederum ungemein und lässt mich auf mehr hoffen.
»Und da wir das nun geklärt hätten, zurück zu Kendra. Sie wurde ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht, das in ihrem Fall das Virginia Mason Hospital war.« William legt eine kleine Pause ein, ehe er fragt: »Was wirst du tun, wenn wir in Seattle sind?« Er nimmt einen tiefen Schluck vom Kaffee.
Ich deute auf die Tasche, in der sein Handy verschwunden ist. »Ins Krankenhaus fahren?«
William lächelt. »Das ist mir klar. Ich meine, du wirst dort mit Sicherheit auf Audrey und … na ja, auf Audrey treffen. Was wirst du tun?« Williams Frage kommt stockend.
»Damit rechne ich natürlich. Was ich tun werde? Keine Ahnung, das wird sich ergeben. Wer weiß. Vielleicht erinnern sie sich gar nicht mehr an mich. Es ist immerhin schon zwei Jahre her, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und da hatten die zwei ganz andere Sorgen. Ach, und du kannst ruhig sagen, dass ich auf Audrey und ihren Vater treffen werde. Brody ist das für sie in allen Belangen, außer dass er eben nicht der Samenspender war.«
»Du weiß, dass ich das nicht abfällig rüberbringen wollte.«
»Und ich will dir damit sagen, dass ich kein Problem mit ihm habe. Er ist ein guter Mann, der sich all die Jahre aufopfernd um meine Tochter gekümmert hat. Brody hat sogar seine Karriere auf Eis gelegt, um für sie da zu sein. Er hat Audrey all das gegeben, was sie von Kendra nicht erwarten konnte und von mir, aus bekannten Gründen, nicht erhielt.«
»Dann muss ich mir keine Sorgen um dich machen?«
»Nein. Ich will einfach nur wissen, dass es Audrey und ihm gut geht.«
Sein verwirrter Blick trifft mich. »Audrey und ihm? Was ist mit Kendra?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich wünsche ihr nichts Schlechtes. Aber in erster Linie fliege ich nicht wegen ihr nach Seattle. Ich weiß, das klingt kaltherzig.« Die Frau hat meine Zuneigung vor zwei Jahren verspielt. Anfangs hasste ich sie. Mittlerweile bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich ihr nicht einmal mehr Hass entgegenbringen kann. Sie ist mir im Grunde gleichgültig. Das sollte sie vielleicht nicht sein, aber irgendwie musste ich einen Weg finden, mich mit der Situation zu arrangieren. Das war meiner.
William nimmt meine Hand in seine und streicht mir mit dem Daumen über die Knöchel. »Sie hat dir mehr zugesetzt, als du mir gegenüber zugegeben hast, richtig?«
Ich atme tief durch und versuche meine aufkommende Wut zu unterdrücken. »Hat sie.«
»Gut, dass ich es weiß.«
Er klingt so entschlossen, dass ich frage: »Du wirst nicht an ihr Krankenbett treten und ihr etwas antun, oder?«
William lacht. »Das kommt drauf an.«
Es tut gut, zu wissen, dass jemand auf meiner Seite steht. Und ja, es tut gut zu wissen, dass dieser Jemand William ist. Der Mann schleicht sich immer mehr in mein Herz. Ich drehe meine Hand um und verschränke unsere Finger miteinander. »Ich hoffe, du weißt, wie froh ich bin, dass wir uns erneut über den Weg gelaufen sind. Und ich hoffe, du hast nicht sobald die Nase voll von meinen Dramen und suchst das Weite. Denn wenn wir alles halbwegs geklärt haben, würde ich mir sehr gern mehr Zeit für uns zwei nehmen.«
»Das klingt gut. Und nein, so leicht bringt mich nichts aus der Fassung.« Er lehnt sich zu mir und küsst mich sanft auf die Wange. »Ich bin hier und habe nicht vor, diesen Platz so schnell zu verlassen.«
Mir ist klar, was er damit sagen will, dennoch grinse ich und frage: »Ich dachte, wir steigen gleich in ein Flugzeug.«
»Schlaumeier«, kontert er und grinst ebenfalls so dümmlich wie ich.
Wir haben gute zwei Stunden Flug vor uns und sollten nicht die ganze Zeit Trübsal blasen. »Oh, übrigens, die Kinokarten ersetze ich dir natürlich.«
»Was erzählst du da wieder für einen Quatsch. Ich hatte sie nur reserviert. Wenn wir sie nicht abholen, werden sie automatisch für den Verkauf freigegeben. Also mach dir mal keine Sorgen um so etwas Unwichtiges.«
»Ich finde das nicht unwichtig. Denn immerhin hatte ich mich wirklich auf den heutigen Abend gefreut.«
»Dann werden wir das nachholen, ganz einfach.«
»Das werden wir.«
Pünktlich um zehn Uhr fünfzehn setzt die Maschine in Seattle auf. Innerhalb einer halben Stunde sitzen wir im Mietwagen und fahren zum Motel. Dort checken wir ein, bringen die Taschen auf unsere Zimmer und begeben uns auf direktem Weg ins Krankenhaus, das, wie der Zufall will, nur ein paar Gehminuten entfernt liegt. Sehr praktisch, da wir so nicht in Parkplatznöte geraten.
Als wir in der Notaufnahme eintreffen, ist die Hölle los und wir müssen uns einen Moment gedulden, bis die nette Lady an der Anmeldung Zeit für uns findet. Laut Namensschild heißt sie Hilda. Es ist immer wieder erstaunlich, wie passend Namen sein können. Hätte ich nur mit ihr telefoniert, hätte ich sie mir genauso vorgestellt, wie sie in Wirklichkeit aussieht. Ein rundes, knuffiges Gesicht, aus dem einem unter einer wilden, lockigen Haarpracht mit grauen Strähnen ein forscher, offener Blick entgegensieht. Klein und untersetzt, der Kasack ein wenig zu eng, weshalb er ihre Oberweite nur noch mehr unterstreicht und man leicht eingeschüchtert ist. Sie wirkt resolut. Dennoch ist sie höflich und zuvorkommend und hat offensichtlich alles im Griff.
Endlich sind wir an der Reihe und sie stützt sich mit einem freundlichen Lächeln auf dem Tresen ab und fragt: »So, Jungs, was kann ich für euch tun?«
William und ich wechseln einen schnellen, erstaunten Blick, ehe ich ihr meine Marke unter die Nase halte und frage: »Wir wollen zu Special Agent Wolders. Können Sie uns sagen, ob sie schon aus dem OP raus ist und wenn ja, wo wir sie finden?«
»Okay, Kinders, gebt mir eine Sekunde.« Hilda plumpst in ihren Schreibtischstuhl und tippt in Windeseile etwas am Rechner ein. »Wie war noch mal der Name?«
»Kendra Wolders. Sie ist heute früh mit Schussverletzungen eingeliefert worden.«
»Ach ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Meine Güte, so viel Blut.« Sie stockt und blickt entschuldigend zu uns hoch. »Sie ist noch im OP. Aber Sie können hochgehen und im Wartebereich Platz nehmen.« Sie deutet auf eine Tür hinter uns. »Da durch. Mit dem Aufzug in die vierte Etage und dann einfach geradeaus weiter. Dort melden Sie sich bei der Stationsschwester. Sie zeigt Ihnen, wo Sie warten können.«
»Vielen Dank, Hilda.«
Sie wird doch glatt rot. Es scheint sich nicht oft jemand bei ihr zu bedanken.
»Ach was, ist schließlich mein Job. Ich drücke die Daumen, dass alles gut wird.«