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- William -
D er Aufzug braucht eine Ewigkeit in die vierte Etage. Zumindest kommt es mir so vor. Jeremy ist in sich gekehrt, sagt keinen Ton. Er wirkt aufgeregt und versucht dennoch, ruhig zu bleiben.
Kurz bevor die Türen auffahren, spüre ich seine Anspannung, die sich regelrecht auf mich überträgt. Glaubt er allen Ernstes, Brody und Audrey würden direkt dahinter auf ihn warten?
Das ist natürlich nicht der Fall. Nachdem wir den Aufzug verlassen, werfen wir einen Blick links und rechts den Flur entlang, der wie leer gefegt ist, um uns anschließend geradeaus zu halten, ganz wie die liebenswerte Hilda an der Info sagte. Eine erstaunliche Frau und wie es scheint, absolut geeignet für diesen Job.
Der Geruch von Desinfektionsmittel ist hier um ein Vielfaches stärker als unten und schlägt mir sofort auf den Magen. Aber so ist es immer in Krankenhäusern und ich bin sicher nicht der Einzige, der ein ungutes Gefühl hat, sobald er die langen Gänge betritt. Im Gegensatz zur Notaufnahme, wo es turbulent zugeht, wirken die Stationen zuweilen dermaßen still, dass es einen fast erdrückt. Bedingt durch meinen Beruf hielt ich mich schon etliche Male in Kliniken auf. Es gab die eine oder andere Situation, in der ich darauf gewettet hätte, der Sensenmann stünde neben mir. Nicht selten lief es mir eiskalt über den Rücken. Ich bin niemand, der an Geister glaubt. Aber ganz ehrlich, wenn es einen Ort außer dem Friedhof gibt, wo ich sie mir durchaus vorstellen könnte, dann in einem Krankenhaus. Auch wenn die Menschen hier sind, um zu genesen, wirkt es mitunter schaurig.
Vor einer offenstehenden Tür halten wir an.
»Guten Tag, wir möchten uns nach Kendra Wolders’ Befinden erkundigen«, spricht Jeremy eine junge Frau an, die eine Patientenakte auszufüllen scheint.
Sie blickt auf und mustert uns einen kurzen Moment, ehe sie aufsteht und auf uns zukommt. Ich versuche ihren Blick zu lesen, aber der könnte alles bedeuten.
»Guten Tag. Gehören Sie zur Familie?«
Jeremy reicht ihr die Hand. »Jeremy Vega.« Er deutet auf mich. »William Powell. Wir sind Freunde von Mrs. Wolders.«
Sie erwidert Jeremys Handschlag und verzieht eigenwillig den Mund. »Schwester July. Ich darf Ihnen keine Auskunft geben, Mr. Vega. Das wissen Sie sicher. Allerdings können Sie gern auf den behandelnden Arzt warten. Vielleicht macht er eine Ausnahme und sagt Ihnen, wie die OP verlaufen ist.«
»Wir warten, danke.«
July legt sanft ihre Hand an Jeremys Oberarm. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Wartebereich. Sie sind nicht die Einzigen, die auf baldige Nachricht hoffen. Leider kann ich nicht sagen, wie lange es noch dauert. Sie werden Geduld haben müssen.«
Hinter einer Glastür sehe ich einen blonden Mann auf einem Stuhl sitzen und eine dunkelhaarige junge Frau mit dem Rücken zu uns vor dem Fenster stehen. Sie sind allein. Ich gehe davon aus, dass es sich bei den beiden um Brody und Audrey handelt.
Als July die Tür öffnet, springt der Mann auf und die junge Dame wirbelt zu uns herum. Schlagartig wird mir klar, wieso Jeremy bei ihrem ersten Treffen sofort geahnt hat, dass Audrey seine Tochter ist. Es ist beinahe erschreckend, wie ähnlich sich die zwei sehen.
Während ich mich im Hintergrund halte, schweift mein Blick über Brody. Er vermittelt nicht den Eindruck, auf den Kopf gefallen zu sein, und die Gemeinsamkeiten zwischen Jeremy und Audrey sind dermaßen verblüffend, dass es selbst einem Blinden auffallen müsste. Ist es möglich, gewisse Dinge einfach nur nicht wahrhaben zu wollen? Denn wer Audrey, Brody und Jeremy in einem Raum vorfindet, würde niemals auf die Idee kommen, Brody wäre der Vater.
Ausgerechnet ich stelle mir diese Frage? Ich bin doch das beste Beispiel dafür, etwas jahrelang zu ignorieren.
Vater und Tochter runzeln verwirrt die Stirn. Natürlich hatten sie mit dem Arzt gerechnet. Ihre Mienen wechseln von erwartungsvoll zu enttäuscht. Jedoch nur für einen kurzen Moment.
»Hallo.« Brody zwingt sich zu einem Lächeln, zieht Audrey an seine Seite und legt ihr einen Arm um die Schultern.
»Entschuldigen Sie, Mr. Stark, aber ist es okay für Sie, wenn die Herren mit Ihnen zusammen auf den Doktor warten?«, erkundigt sich July. Was ich sehr zuvorkommend finde. Denn die zwei gehören zu Kendras Familie, wir nicht. Somit haben sie ein Anrecht, hier zu sein.
Brody nickt und lächelt uns erneut angestrengt an. »Natürlich, kommen Sie rein.«
July verlässt leise den Raum. Dann geht Brody auf Jeremy zu und reicht ihm die Hand. »Sie sind ein Kollege von Kendra, richtig? Ich hoffe, mir spielt mein Gedächtnis keinen Streich, aber Sie waren doch vor zwei Jahren in San Francisco bei meiner Frau im Krankenhaus.« Seine Frage klang eher wie eine Feststellung, so als wäre seine Unsicherheit gespielt.
Ich sehe Jeremy an, wie er mit sich kämpft. Er umschließt Brodys Hand, schüttelt sie und will gerade zu einer Antwort ansetzen, als Audrey sich mit verschränkten Armen neben ihren Vater stellt und im abweisenden Tonfall sagt: »Dad, tu nicht so. Du weißt, dass er es ist.«
Ich zucke überrascht zusammen. Sie wissen es?
Jeremy sieht mich erstaunt an. Jupp, er denkt das Gleiche.
»Audrey, Schatz, sei nett«, maßregelt Brody liebevoll seine Tochter, die daraufhin einmal tief durchatmet und nun ihre Hand ausstreckt. »Sorry.«
Zögerlich umfasst Jeremy diese. Würde ich ihn nicht ein wenig kennen, fiele mir das Gefühlschaos überhaupt nicht auf, das er hinter einer freundlichen Fassade zu verbergen versucht.
»Jeremy Vega«, stellt er sich vor. »Sie haben recht. Wir sind uns bereits vor zwei Jahren begegnet.«
Ich stehe nur daneben und kann spüren, wie hier etwas Grundlegendes geschieht, während die zwei keinerlei Anstalten machen, ihre Hände voneinander zu lösen, und sich weiterhin mustern. Jeremy wirkt beinahe ängstlich. Im Gegensatz zu Audrey, die ihn prüfend und ja, auch ein bisschen provokant taxiert.
Mein Blick wird auf Brody gezogen, der nun hinter Audrey steht und ihr sanft über den Arm streicht. Beruhigend oder beschützend? Dem offenen Lächeln nach zu urteilen, das nicht nur mir, sondern ebenso Jeremy gilt, ist es wohl Ersteres. Ich muss gestehen, ein wenig überrascht zu sein. Hatte ich doch keinen Mann erwartet, der so ausgeglichen wirkt. Sicher, als wir eintraten, schien er verwirrt. Was nur logisch ist, da sie ja nicht mit uns gerechnet haben. Aber jetzt … Sein Blick ist allzu wissend und dennoch strahlt er eine tiefe Ruhe aus. Als hätte er viel Zeit gehabt, sich mit der Wahrheit – wenn er sie denn kennt – auseinanderzusetzen und diese zu akzeptieren, sich möglicherweise sogar mit ihr zu arrangieren.
Jeremy räuspert sich und tritt einen Schritt zurück, um mich behutsam an seine Seite zu ziehen und vorzustellen. »William Powell, ein sehr guter Freund von mir. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, wenn wir uns Ihnen anschließen, um auf Neuigkeiten zu warten.«
Audreys Vater lächelt erst Jeremy an, ehe er sich mir zuwendet. »Brody Stark. Schön Sie kennenzulernen, Mr. Powell. Natürlich sind Sie beide herzlich eingeladen, uns Gesellschaft zu leisten.« Er blickt zu Audrey. »Nicht wahr, Schatz?«
Die Schultern beinahe bis zu den Ohren hochgezogen murrt sie gelangweilt: »Von mir aus.«
Ich muss mir das Grinsen verkneifen, da sie die typischen Teenagermanieren an den Tag legt. Vierzehn ist immer ein schwieriges Alter. Noch nicht erwachsen, aber auch kein Kind mehr. Einerseits will sie stark sein, andererseits würde sie sich jetzt sicher gern in die Arme ihres Vaters flüchten. Es fällt ihr bestimmt extrem schwer, mit all dem klarzukommen, was gerade mit ihrer Mutter geschieht. Und dennoch … Irgendwas fühlt sich hier falsch an. Richtig! Sie wirken nicht wie zwei Menschen, die in tiefer Sorge um einen Familienangehörigen sind.
»Das ist sehr nett von Ihnen«, gebe ich höflich zurück.
Plötzlich schieben sich Starks Augenbrauen zusammen und er neigt den Kopf zur Seite. »Entschuldigen Sie, kann es sein, dass Sie etwas mit dem San Francisco Chronicle zu tun haben?«
Audrey verdreht die Augen. »Du wirst jetzt bitte nicht in den Fanmodus verfallen, Dad.«
Brody hebt die Hände und grinst verlegen. »Versprochen, Schatz.«
Die zwei sind so süß zusammen. Ihre Verbundenheit ist unübersehbar. Was mich gedanklich zurück zu Jeremy bringt. Es muss ihm alles abverlangen, das zu sehen und gleichzeitig zu akzeptieren, dass er das nicht haben wird, da er aus Rücksichtnahme seiner Tochter gegenüber den Weg der Zurückhaltung gewählt hat. Einmal mehr wächst meine Hochachtung für ihn. Nicht jeder hätte so entschieden.
Jeremy ergreift das Wort. Offensichtlich froh drum, dass er nicht mehr im Mittelpunkt steht. »Er ist dort Chefredakteur«, erklärt er und klingt dabei herzerwärmend stolz.
Ich werfe ihm ein dankbares Lächeln zu, ehe ich mich an Audrey und Brody wende: »Das ist wirklich nichts Außergewöhnliches.«
»Jetzt freut es mich gleich noch mehr, Sie kennenzulernen, Mr. Powell. Auch wenn die Umstände alles andere als glücklich sind. Wollen wir uns nicht setzen?«
Audrey nimmt erneut ihren Platz am Fenster ein und starrt gedankenverloren hinaus, während wir es uns an einem Tisch bequem machen. So bequem es eben auf Stühlen möglich ist, die nicht über eine rückenschonende Ergonomie verfügen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Jeremy sich zurücklehnt und sein Blick auf seiner Tochter ruht. Daher nehme ich das Thema wieder auf, welches Brody dankenswerterweise angeschnitten hat. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
Jeremy hat mir zwar erzählt, Brody hätte seine Karriere für Audrey aufgegeben und würde von zu Hause aus arbeiten, allerdings ist mir nicht in den Sinn gekommen, mich zu erkundigen, was genau Brody tut. Aber warum hätte ich auch? Mir wäre im Traum nicht eingefallen, dass ich den Mann irgendwann persönlich kennenlernen könnte.
»Ich bin Werbetexter«, erklärt Brody. »Daher komme ich in den Genuss von überregionalen Tageszeitungen. Mein Arbeitgeber hat erst kürzlich wieder eine Anzeigenkampagne im Chronicle geschaltet. Nichtsdestotrotz bin ich seit Jahren ein treuer Leser Ihrer Berichterstattung.« Er grinst und deutet auf Audrey. »Ja, ich gebe zu, ein glühender Fan zu sein, wie meine Tochter bereits so eloquent verraten hat.«
Audrey wirft ihrem Vater einen stechenden Blick zu und schnaubt, bevor sie ihm zuzwinkert. »Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts, Dad.«
Ich lache. »Tja, da kann ich mich nur bedanken.«
Obwohl ich mich über Brodys Worte freue und nur zu gern weiterhin vom aktuellen Problem ablenken würde, fühlt es sich nun doch falsch für mich an. Also schweige ich.
Brody scheint mein Dilemma zu verstehen, denn er hakt ebenfalls nicht nach oder forciert ein andersgeartetes Thema.
Somit versickert die oberflächlich gelöste Stimmung wie Wasser im Wüstensand und wird durch angespanntes Stillschweigen ersetzt.