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as für ein verrückter Tag. Ich bin fertig auf den Röhren und will gar nicht wissen, wie es in Jeremy aussieht. Seit wir aus dem Krankenhaus raus sind, hat er kein einziges Wort gesagt. Mittlerweile haben wir unsere Reisetaschen geholt, aus dem Motel ausgecheckt – das Gesicht der Rezeptionistin war goldig – und sitzen im Auto.
»An was hast du gedacht?«, frage ich in die Stille.
»Hm?«
»Ich meine, was wollen wir zu essen holen?«
»Ich habe keinen Schimmer. Lass uns einfach gucken, was uns über den Weg läuft, oder besser gesagt, woran wir so vorbeikommen.«
»In Ordnung.«
Stille.
Ich hatte mir vorgenommen, nichts zu sagen, solange er nicht von selbst anfängt, aber ich schaffe es nicht. Ich muss wissen, was in ihm vorgeht. »Wie geht es dir?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Erzählst du mir, was Brody gesagt hat?«
Jeremy seufzt und schüttelt den Kopf. »Gott, ich bin ein Idiot, oder? Da nimmst du dir die Zeit, um für mich da zu sein, und ich lasse dich im Regen stehen. Entschuldige bitte.«
»Hey, ganz ruhig. Wann hättest du es mir denn erzählen sollen?«
»Auf dem Weg ins Motel?«
»Egal, jetzt ist auch ein toller Zeitpunkt.«
»Du wirst es dir denken können, Brody und Audrey wissen über mich Bescheid. Ist das nicht total verrückt?«
»Ja, das hatte ich angenommen. Spätestens, als ich das erste Mal mit Audrey vom Kaffeeholen zurückkam. Die Kleine ist übrigens der Knaller.«
Daraufhin berichtet Jeremy, was zwischen ihm und Brody gelaufen ist, als Audrey und ich nicht im Zimmer waren.
»Der Mann verdient einen verdammten Orden«, entfährt es mir prompt.
Jeremy lacht. »Wem sagst du das. Weißt du, was mich am meisten ärgert?«
»Dass Kendra so ein Miststück ist? Sorry, das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Na ja, nur weil sie im Krankenhaus liegt, wird es nicht weniger wahr. Aber nein, das ist es nicht. Ich hätte schon seit Monaten Kontakt mit ihnen haben können.«
»Du hast dich aus einem absolut verständlichen Grund zurückgehalten. Wer konnte denn ahnen, dass die zwei im Bilde sind? Und hey, wer konnte bitte davon ausgehen, dass sie mit dieser Situation so unglaublich gelassen umgehen? Wobei das anfangs sicher nicht der Fall war. Jetzt mach dich nicht selbst verrückt. Wer weiß, eventuell war es auch gut so. Wärst du aufgetaucht und hättest sie vor vollendete Tatsachen gestellt, wäre es womöglich ganz anders gekommen.«
»Kann sein. Oh, schau mal! Halt mal schnell an«, ruft Jeremy aus und zeigt auf eine Pizzeria, ein Stück die Straße runter. »Wie klingt Pizza?« Sein Blick huscht unschlüssig zu mir. »Glaubst du, Audrey mag Pizza? Was ist, wenn sie die hasst?
Ich sollte besser noch Pasta mitnehmen. Oh, vielleicht ist sie Vegetarierin. Was ist, wenn sie kein Fleisch isst?«
Was Jeremy zuvor zu ruhig und in sich gekehrt war, ist er jetzt umso aufgeregter, da ihn offensichtlich Bedenken plagen, irgendetwas falsch zu machen. Er wirkt dermaßen verloren. Ich parke in die nächstbeste Lücke am Straßenrand ein, bevor ich mich Jeremy zuwende. Meine Hand wandert auf sein Knie. »Hey, schau mich an.«
Er kommt meiner Bitte nach.
»Und jetzt tief durchatmen. Ich kenne keine Vierzehnjährige, die Pizza hasst.«
»Wie viele Vierzehnjährige kennst du denn?«, hakt Jeremy mit einem schiefen Grinsen nach.
»Erwischt, keine. Aber darum geht es nicht. Selbst wenn dem so wäre und Audrey Vegetarierin ist, wird Brody unter Garantie etwas für sie im Haus haben. Sie wird also nicht verhungern oder dich deswegen weniger achten. Mach dich nicht irre. Glaubst du, du bist der Einzige, der Bammel hat? Sie ist neugierig auf dich, das konnte man sehen. Was ich jedoch nicht gesehen habe, war Abneigung oder Derartiges. Du wirst sehen, alles wird gut.« Ich winke ab. »Wir sind auf dem Weg zu deiner Tochter, weil sie uns durch die Blume eingeladen hat. Was Besseres hätte dir nicht passieren können.«
»Und du glaubst, das beruhigt mich jetzt?«, seufzt Jeremy. Ihm steht Panik ins Gesicht geschrieben und ich kann nicht anders, als mich zu ihm rüberzubeugen, um ihn zu küssen. Meine Hand gleitet von seinem Bein hinauf in seinen Nacken. Die zweite schmiegt sich wie von selbst an seine Wange und ich intensiviere den Kuss, lasse meine Zunge über seine Unterlippe gleiten und bitte sanft um Einlass, den er mir bereitwillig gewährt.
Für einen kurzen Augenblick gibt es nur uns. Ich spüre, wie
sich Jeremys Anspannung löst. Mit einem unwilligen Geräusch löse ich mich von ihm und blicke ihn an. In diesen wenigen Sekunden hat sich das Innere des Wagens viel zu sehr aufgeheizt. Ich atme tief durch und sauge seinen Duft ein, der mir jetzt schon so vertraut ist, als würden wir uns Jahre kennen, bevor ich mich leise erkundige: »Geht’s wieder?«
»Kommt drauf an, worauf die Frage abzieht«, murrt Jeremy.
»Ich wollte dich nur von deiner Panik ablenken.«
Jeremy rutscht umständlich auf dem Beifahrersitz herum. »Okay, das ist dir gelungen.« Seine Hand legt sich auf meine, die weiterhin an seiner Wange ruht. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du hier bist.«
»Wenn du dich jetzt schon wieder bedanken willst, lasse ich mir was richtig Fieses für dich einfallen.«
Ein Mundwinkel wandert nach oben und er wackelt anzüglich mit den Augenbrauen. »Na, da wäre ich aber sehr gespannt.«
Ich pruste und gebe ihm einen sanften Schubs in Richtung Autotür. »Geh! Brody und Audrey warten auf uns und ich hab barbarischen Hunger.«
»Okay, ich bin ja schon weg.« Als er aussteigt, fragt er noch: »Irgendwelche Vorlieben?«
»Sicher, die haben allerdings nichts mit Pizza zu tun.«
»Du bist unmöglich«, brummt Jeremy, zwinkert mir dann aber zu, bevor er die Tür ins Schloss fallen lässt.
Während ich auf Jeremy warte, rufe ich Jefferson an.
»Hey, Boss, was gibt’s?« Ui, da hört sich jemand sehr euphorisch an.
»Wollte nur kurz horchen, ob bei euch alles im grünen Bereich ist.«
»Logisch, alles bestens. Hast du unseren Artikel im Netz gelesen?«
»Bin noch nicht dazu gekommen«, gebe ich offen zu.
»Du … Was?! Verdammt, ich
sollte wohl fragen, ob bei dir
alles in Ordnung ist.«
»Mach kein Drama draus. Ich bin hier voll eingespannt und hatte einfach nicht die Gelegenheit, ein Auge drauf zu werfen.«
»Das beruhigt mich nicht.«
Ich stöhne verzagt. »Jefferson, was sag ich immer?«
»Bleib bei den Fakten.«
»Ganz genau.«
»Also schön. Inwieweit bist du auf dem neusten Stand?«
»Seit unserem letzten Gespräch habe ich nicht viel Neues erfahren.« Die Details von Doktor Carpenter, Kendra betreffend, will ich jetzt nicht erwähnen. Sie sind in meinen Augen zu persönlich. Ja, auch als Journalist gibt es gewisse Grenzen für mich. Obwohl der Doc durch seine Erklärung, was die verwendete zerstörerische Munition anbelangt, Informationen preisgegeben hat, die jeden Sensationsreporter sofort zum Spekulieren bringen würde.
»Ich hatte gerade eine interessante Unterhaltung mit Caroline.«
»Du hast Caroline angerufen?«, frage ich erstaunt.
»Sicher. Immerhin ist sie die Pressesprecherin des FBI in Seattle. Ich dachte, in der Zwischenzeit sollte sie uns mehr berichten können.«
Mir war nicht klar, dass Jefferson den Mut aufbringen würde, Caroline zu kontaktieren. Bisher war ich ihre Verbindungsperson zum Chronicle. Ich muss wohl oder übel akzeptieren, dass die Welt sich auch ohne mich weiterdreht. Jefferson agiert zurückhaltend, wenn ich da bin – was eigentlich ständig der Fall ist –, aber offenbar hat er keine Scheu, die sich ihm bietenden Möglichkeiten auszuschöpfen, sobald ich aus dem Haus bin. Ich wusste immer, er wäre
irgendwann ein würdiger Nachfolger für mich. Ihn jetzt in Aktion zu erleben ist dennoch ein seltsames Gefühl. Ich komme mir vor, als gehöre ich langsam zum alten Eisen. Das entspricht wohl der Realität. Ich schüttle meine merkwürdigen Gedanken ab und konzentriere mich erneut auf unsere Unterhaltung. »Stimmt auch wieder. Also, was erzählt sie?«
»Die Ermittlungen sind in vollem Gang. Das übliche Blabla, du kennst das. Allerdings hat sie sich von mir erweichen lassen, mit ein paar kleinen Details rauszurücken, die ich ziemlich bedenklich finde. Dass der Waffenschieberring aus naheliegenden Gründen an Sturmgewehre rankommt, ist keine Überraschung«, erklärt Jefferson ironisch. »Was jedoch sehr zum Nachdenken anregt, ist die Tatsache, dass sie in diesem Fall Black Talon
-Geschosse verwendet haben. Die Dinger hinterlassen nicht nur ein faustgroßes Loch, sondern schreddern sämtliche inneren Organe. Es ist also kein Wunder, dass die Verluste trotz des Einsatzes schusssicherer Westen derart hoch sind. Das bekräftigt zudem die Theorie eines Hinterhalts. Ich meine, es ist eh total hirnrissig gewesen, ohne ein SWAT Team und lediglich mit einer Handvoll Agents dort aufzukreuzen. Da muss jemand an einer ziemlichen Hybris gelitten haben, wenn du mich fragst. Ach, und noch was. Carolin ließ durchblicken, sie gingen mittlerweile von einem persönlichen Rachefeldzug aus.«
»Du liebe Güte! Hat sie einen Verdacht geäußert, auf wen genau sie es abgesehen hatten?«
»Nein. Nachdem ich sie das fragte, nahm sie mich in die Pflicht, die Information fürs Erste für mich zu behalten. Keinerlei Berichterstattung in diese Richtung, sonst rollt dein Kopf – so ihre Worte. Ernsthaft, William, die Frau kann einem Angst einjagen.«
»Und ich würde sie an deiner Stelle ernst nehmen. Carolin
ist nicht bekannt für ihre Großherzigkeit gegenüber Personen, die ihr Vertrauen missbrauchen. Und wenn du sie auch zukünftig kontaktieren willst …«
»Jaja, das habe ich durchaus begriffen.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich Jeremy mit Tüten und Kartons bewaffnet aus der Pizzeria eilen. »Ich muss Schluss machen. Schick mir eine SMS, solltest du mehr erfahren.«
»Boss, es macht mich nervös, dass du …«
»Ich melde mich. Bis bald«, würge ich ihn ab.
Mein Handy verschwindet gerade rechtzeitig in der Tasche, als Jeremy die hintere Beifahrertür öffnet und mir der würzige Duft nach Oregano und Co um die Nase weht.
»Das riecht himmlisch«, stelle ich begeistert fest, während mir Jeffersons Worte im Kopf herumspuken.
»Und es riecht nicht nur gut, es sieht obendrein noch lecker aus«, bestätigt Jeremy, als er neben mir sitzt und die Autotür zuzieht. Er blickt mich an und zieht die Augenbrauen zusammen. »Was ist los?«
Einen Moment grüble ich darüber nach, ob ich es ihm sagen soll oder nicht. Aber ich kann es ihm keinesfalls verheimlichen. Wozu sollte das auch gut sein, außer dass er sauer auf mich wird, sollte er später feststellen, ich hätte ihm Informationen vorenthalten. Andererseits, vielleicht weiß er es schon. Wäre ja möglich, dass er jemanden hat, der ihn ebenfalls auf dem neusten Stand hält. »Schnall dich an. Ich erzähl’s dir auf dem Weg.«