17
- William -
W ir steigen ins Auto und uns schlägt intensiver Pizzaduft entgegen. Zwischenzeitig ist mir der Hunger vergangen und ich stufe den Geruch eher als unangenehm ein.
Während ich uns auf dem kürzesten Weg in Krankenhaus fahre, erklärt Jeremy mir, was vorgefallen ist.
»Was willst du jetzt tun?«, frage ich, nachdem er geendet hat.
»Um ehrlich zu sein, würde ich die zwei liebend gern ins Auto verfrachten und aus Seattle fortbringen. Bloß werden sie nicht mitspielen. Zumal wir nicht wissen, wie es um Kendra steht. Lass uns erst einmal sehen, wie die Lage ist, und dann entscheiden wir. Eins ist jedoch klar, zurück nach Hause können sie nicht. Ich hoffe nur, die Police Officer im Krankenhaus stellen sich nicht so dusselig an wie die anderen.«
»Angenommen, Brody ließe sich darauf ein. Also, dass du sie aus der Stadt schaffst. Hast du überhaupt einen Ort, wo du sie unterbringen könntest?«
Laut Navi sind es noch fünf Minuten Fahrtzeit. Fünf Minuten, in denen alles passieren könnte, weshalb ich Gas gebe und sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen überschreite.
»Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist. Denn nicht nur der Ort ist unklar, sondern auch, wie wir sie hier wegbringen. Mit einem Linienflug wären sie jederzeit aufzuspüren.«
»Dann eben mit dem Auto. Vierzehn Stunden Fahrt sind jetzt nicht so schlimm«, sinniere ich, während mir nur ein Ort einfällt, den ich spontan in Betracht ziehen würde.
»Vierzehn Stunden?«, hakt Jeremy verwirrt nach.
»Wäre es vermessen, wenn ich mich um das Wohin kümmere?«, frage ich leise.
»Du? Das kann ich nicht verlangen, William.«
»Dir ist scheinbar immer noch nicht klar, dass du so gut wie alles von mir verlangen kannst.«
Stille.
Ich überhole zwei Autos und gebe erneut Gas. »Du weißt, dass ich das zum Teil spaßig meinte, oder?«, rudere ich zurück.
»Das ist es nicht, was mir die Sprache verschlägt«, gibt Jeremy bewegt zu, ehe ich seine warme Hand an meiner Wange spüre und unwillkürlich zu ihm blicke.
»Mir wird nur gerade einmal mehr bewusst, wie glücklich ich mich schätzen kann, dass du hier bist.«
Ich schlucke und übe mich in einem Lächeln. Was mir mehr als schwerfällt, da Jeremy Gefühle ins Gesicht geschrieben stehen, die mir ein klein wenig Angst machen. Nicht weil ich sie nicht erwidern würde, sondern weil sie existieren und alles so verflixt schnell geht.
»Schockiert es dich, wenn ich sage, ich wäre jetzt gern allein mit dir?« Ich nehme die nächste Ampel bei Gelb.
Er grinst. »Dir ist gar nicht klar, wie sehr du mir aus der Seele sprichst.« Es folgt ein Seufzen. »Ich verspreche hoch und heilig, wenn alles vorbei ist, werde ich mich für das ganze Chaos bei dir revanchieren. Wir gehen ins Kino, essen, was immer du willst.«
Es ist keinesfalls hilfreich und garantiert der unpassendste Zeitpunkt, um zu jammern. Vor allem, da ich in einem Affentempo durch Seattle rase. Vor uns liegen wichtigere Dinge als die Sache, die zwischen uns allmählich am Aufkeimen ist. Aufkeimen? Allmählich? Schwachsinn, ich stecke bereits bis zu den Ohren in etwas drin, das mir, wenn ich genauer drüber nachdenke, den Atem raubt, da es so verflucht intensiv ist. Und bei Gott, das ist es, ohne dass wir uns auch nur körperlich näher gekommen sind, außer uns hin und wieder zu küssen. Ein weiterer Punkt, der mich wahnsinnig macht. Ich will Jeremy mit jeder Minute mehr. Sobald uns das wankelmütige Schicksal, das hier offenbar Regie führt, auch nur eine Atempause vergönnt, kann ich an nichts anderes denken, als Jeremy berühren zu wollen. Ich dachte immer, ich wäre lange aus dem Alter raus, in dem man kopflos und notgeil durchs Leben torkelt. Wie es scheint, ist dieser Zustand keine Frage des Alters. Andererseits sehe ich einen Vorteil fünfundvierzig zu sein. Mein Verstand ist mit den Jahren gereift und heute in der Lage, meine Libido im Zaum halten. Dem Himmel sei Dank. Das wäre mir in meiner Sturm-und-Drang-Zeit sicher nicht geglückt.
Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Wer weiß, was uns noch erwartet.
»Weißt du was?«, frage ich leichthin, nachdem ich Jeremy einen schnellen Kuss auf die Handfläche gedrückt habe, womit ich ihm einen sehnsüchtigen Seufzer entlocke.
»Hm?«
»Ich möchte mal behaupten, dass noch niemand so ein großartiges Date hatte wie wir. Ich meine, schau dich um. Wir sind in Seattle. Wir haben haufenweise Pizza und Pasta. Und wir sind allein. Was will man mehr?«
Für eine Sekunde herrscht erneute Stille und ich glaube schon, abermals in ein Fettnäpfchen getreten zu sein, als Jeremy plötzlich losprustet und atemlos erwidert: »Hat dir mal einer gesagt, wie wundervoll du bist?«
»Ähm, nein … Oder warte, da gab es den einen Typen, der meinte …«
»Oh, sei ruhig«, brummt Jeremy amüsiert.
Die Stimmung kann nicht wirklich als gelöst bezeichnet werden, aber sie hat ein Level erreicht, womit wir arbeiten können.
Kurze Zeit später halte ich vor dem Haupteingang des Virginia Mason Hospital. »Beeile dich. Ich suche einen Parkplatz und komme nach, sobald ich telefoniert habe.«
Jeremy beugt sich zu mir, nimmt mein Gesicht zwischen die Hände und raubt mir einen glühenden Kuss, ehe er flüstert: »Komm so schnell du kannst.«
»Na logisch«, erwidere ich mit viel zu rauer Stimme. »Ich hatte nicht vor, noch einen Abstecher irgendwohin zu machen«, füge ich unbekümmert an, obwohl es in mir drin gänzlich anders aussieht. Denn sein Tonfall klang beinah flehentlich.
»Warte kurz. Ich hole nur eben meine Jacke aus dem Kofferraum.« Jeremy verlässt den Wagen, öffnet das Heck und schließt es sofort wieder, um davonzueilen.
Ich fahre auf den Besucherparkplatz um die Ecke. Es ist später Abend und sicher keine meiner glorreichsten Ideen, aber ich muss wissen, ob ich tatsächlich einen Ort für Brody und Audrey bieten kann, an dem sie sicher sind – sollte es notwendig werden.
»William? Was ist los?«, begrüßt mich Chase. Offenbar sind die zwei wieder vor den Fernseher eingeschlafen. Er hört sich an, als hätte er eine heiße Kartoffel im Mund.
»Ich brauche eure Hilfe. Hört Peter mit?«
»Sorry, er muss grad mal wohin. Was gibt’s?«
»Glaubst du, deine Schwiegermutter wäre bereit, kurzfristig Leute aufzunehmen, die sie nicht kennt?«
»Was? William, du klingst komisch. Was ist los?«
»Bin wieder da«, verkündet Peter.
»Ich kann euch nichts weiter sagen, als dass es einen außergewöhnlichen Notfall gibt, in dem mindestens zwei Personen womöglich einen sicheren Unterschlupf benötigen.«
»Machst du jetzt einen auf James Bond?«, foppt mich Peter.
Bei jeder anderen Gelegenheit wäre ich darauf eingegangen, aber nicht heute. »Peter, das ist mein Ernst. Zwei Menschen befinden sich höchstwahrscheinlich in Lebensgefahr und müssen eventuell untertauchen. Mir ist auf die Schnelle nur Eagle Rock eingefallen. Zumal man den Ort nicht sofort mit Jeremy in Verbindung bringen würde.«
»Halt mal. Ganz langsam. Wo bist du und was ist mit Jeremy?«
»Das ist jetzt alles viel zu kompliziert, um es zu erklären. Ich brauche ein Ja oder Nein. Den Rest erfahrt ihr später.«
»Mom würde dir niemals etwas abschlagen. Sie hat dich in ihr Herz geschlossen. Also, wann wärt ihr hier?«
»Es steht ja nicht fest, ob wir euer Angebot annehmen. Ich wollte es nur vorher abgeklärt haben, sollte der Fall eintreten, dass wir verschwinden müssen. Was eigentlich so gut wie sicher ist. Wie dem auch sei, ja oder nein?«
»Ich sagte doch schon ja.«
»Danke, Peter. Ich melde mich noch mal.«
»Aber, du –«
Den Rest höre ich nicht mehr, da ich auflege und das Handy in die Tasche stopfe. Ich werfe einen Blick auf die Rückbank und überlege, ob ich was zu essen mitnehmen soll. Nur sollte der, wie ich denke, unvermeidbare Fall eintreten, wird keiner den geringsten Anflug von Hunger verspüren. Ich atme tief durch und mache mich auf den Weg zu Jeremy.