12

»Lux?«, höre ich Nico rufen, aber ich bin wie gelähmt und starre nur auf den Schädel, die rissigen Zähne und die klaffenden Löcher, die einmal Augen waren. Als Nico neben mich tritt, klammere ich mich, am ganzen Leib zitternd, an sein T-Shirt.

»Ein … ein Schädel«, sage ich mit einem Keuchen.

Nico folgt meinem Blick nach unten und macht große Augen. »Ach, du Scheiße.«

Er lässt mich los, und mir zittern so sehr die Knie, dass ich beinahe stolpere. Plötzlich steht Brittany auf der einen Seite neben mir, Eliza auf der anderen, und sie halten mich an den Ellbogen fest.

Nico hebt den Schädel vorsichtig mit beiden Händen hoch.

»Um Gottes willen!«, schreit Brittany auf.

Amma kniet schon neben Nico. »Was glaubst du, wie lange der schon hier liegt?«

Jake ist auf die andere Seite von Nico getreten, die Machete baumelt in seiner Hand. Er setzt seine Sonnenbrille auf, um ihn zu begutachten. »Lange, würde ich sagen. Schau doch mal, wie verwittert er ist.«

Nico hebt den Schädel näher ans Gesicht, und mir verschwimmt alles vor den Augen.

»Du hast gesagt, dass ihnen diese Insel im Zweiten Weltkrieg als Zwischenstation diente, oder?«, fragt Amma, die jetzt so nah neben Nico steht, dass sich ihre Schultern berühren. »Ich meine, jemand könnte verwundet worden und hier gestorben sein. Oder krank. Vielleicht war er vergraben, aber etwas hat ihn ausgebuddelt.«

Das Bild kriecht sofort durch mein Gehirn – ein Dschungelgeschöpf, das am Boden kratzt, einen Leichnam ausgräbt, beißt, reißt …

»Süße, nimm einen Schluck Wasser, ja?«

Eliza steht mit einer Thermoskanne vor mir, und obwohl das Wasser warm ist und einen leichten chemischen Nachgeschmack hat, trinke ich gierig. Die Übelkeit lässt ein wenig nach.

Nico schaut nicht mal zu mir rüber.

»Vielleicht wurde er ja auch kaltgemacht, weißt du?«, sagt er zu Jake. »Wenn du hier draußen Streit mit jemandem kriegst, würde doch keiner mitbekommen, wenn du ihn … einfach erledigst?« Er wendet sich wieder dem Schädel zu, seine braunen Augen strahlen. »Das wäre doch total krank, oder? Wenn wir einen Typ gefunden hätten, der in den Vierzigern ermordet wurde?«

Mittlerweile geht es mir wieder besser, und ich bin mir unangenehm bewusst, dass ich die Einzige bin, die angesichts der Sache ausgeflippt ist. Klar, ich bin diejenige, die den Schädel gefunden hat, aber jetzt, wo der Schock ein wenig nachlässt, komme ich mir … dumm vor. Als hätte ich völlig überreagiert.

Grinsend hält Nico den Schädel in einer Hand.

»Also, das ist doch mal ein echtes Abenteuer. Zu einer verlassenen Insel segeln, sich durch den Dschungel kämpfen und einen alten Soldaten finden, der umgebügelt wurde.« Er dreht den Schädel noch einmal in der Hand. »Was für eine coole Geschichte! Wenn die Leute das Ding in der Susannah sehen, werden sie fragen, was es damit auf sich hat, und ich kann ihnen erzählen …«

»Verzeihung, aber was hast du da gerade gesagt?«

Nico wendet sich mir zu, die Augenbrauen dicht zusammengezogen. »Der Schädel. Hey.« Er kommt näher und streicht mir mit der freien Hand die Haare aus dem Gesicht, doch bei dem Gedanken, dass diese Finger vor einer Minute noch den Schädel berührt haben, ist mir sofort wieder übel und schwindlig.

»Du hast ihn gefunden, Babe«, fährt er, immer noch lächelnd, fort. »Willst du deine persönliche Trophäe etwa nicht an Bord haben?«

»Das war mal ein Mensch.« Meine Stimme ist zu laut. Über uns fliegt ein Vogelschwarm aus vollen Kehlen kreischend in den Himmel, und plötzlich spüre ich den Schweiß, der mir den Rücken hinunterrinnt, und dass meine Haare nach wie vor an meinen Wangen kleben. Ich sehe wahrscheinlich furchtbar aus, und ich wünschte, ich hätte nichts gesagt, wünschte, ich könnte es sehen wie die anderen – als cooles Artefakt, ein bisschen makaber, aber aufregend.

Vielleicht kann man so aber auch nur reagieren, wenn man noch nie persönlich mit dem Tod in Berührung gekommen ist. In ihren letzten Monaten zeichnete sich bei meiner Mutter unter der Haut die Form der Knochen ab. Ich stelle mir vor, diese Knochen wären auf dem Boot von jemandem, als Pendant zu einem Tiki-Becher aus Plastik oder einem Glas mit Muscheln …

Brittany, die neben mir steht, ist ebenfalls ein wenig blass, und als sie meine Hand nimmt und zur Unterstützung drückt, ist ihr Griff so fest, dass es wehtut.

»Lux hat recht«, sagt sie. »Du kannst ihn nicht einfach mitnehmen.«

»Er ist uralt«, hält Amma dagegen und verschränkt die Arme vor der Brust. »Und es ist bloß ein Schädel. Wer auch immer das war, ist lange tot, Brittany. Es ist jetzt bloß noch ein … Gegenstand. Es ist kein Mensch mehr.«

»Wenn Lux ihn nicht auf der Susannah haben will, sollte er nicht aufs Boot gebracht werden«, sagt Eliza entschlossen, und mein Gesicht wird noch heißer, weil die anderen jetzt Partei ergreifen und über eine Sache debattieren, die ich losgetreten habe.

Auf einmal tritt Jake vor und nimmt Nico den Schädel aus der Hand. »Schau, Kumpel«, sagt er ruhig, »wahrscheinlich bringt es Unglück, Knochen an Bord zu schaffen, was meinst du? Ich nehme ihn und begrabe ihn irgendwo. Aber wir sollten ein paar Fotos davon machen oder irgendwas, um zu dokumentieren, dass wir ihn gefunden haben und so.«

Einen kurzen Moment lang denke ich, Nico könnte mit ihm diskutieren oder versuchen, sich durchzusetzen. Mir wird klar, dass ich keine Ahnung habe, wie ich reagieren werde, falls er das tut. Ich will keinen Streit vom Zaun brechen, aber ich will das Ding wirklich, wirklich nicht an Bord haben. Und was noch wichtiger ist, ich will mich nicht erklären müssen. Ich will, dass Nico es versteht, dass er sich daran erinnert, was ich ihm über meine Mutter erzählt habe, und versteht, warum ein menschlicher Schädel nicht unbedingt meiner Vorstellung von der Entdeckung eines vergrabenen Schatzes entspricht.

Doch Nico nickt zu Jakes Worten. »Ja, da ist was dran, Mann. Wahrscheinlich schlechtes Juju.«

Etwa eine halbe Stunde sehen wir uns noch auf der Rollbahn um, aber es macht keinen großen Spaß mehr, und wir gehen vor der Mittagszeit zurück zum Strand. Jake und Eliza verschwinden eine Weile, und Brittany und Amma gehen schwimmen, während ich unter dem Vorwand, schlafen zu wollen, zurück zum Boot schwimme. In Wahrheit will ich allein sein.

Es ist fast Abendessenszeit, bevor einer von den anderen an Bord kommt.

Ich sitze auf dem Deck und lasse die Beine über die Kante baumeln, als Nico näher kommt.

»Alles okay bei dir?«, fragt er und setzt sich neben mich.

Nein, wenn ich ehrlich bin, nicht. Ich bin immer noch aufgewühlt, weswegen ich mir wiederum dumm und albern vorkomme. Nico und Jake haben recht – der Schädel lag wahrscheinlich seit den Vierzigerjahren dort, deswegen hätte man nicht so ausflippen müssen.

Aber eigentlich geht es darum, dass es nicht das erste Mal war, dass mich etwas beunruhigt – mir Angst macht – und es Nico absolut null interessiert.

»Bloß ein komischer Tag«, sage ich.

Nico seufzt. »Das hier ist nicht Maui oder das Haleakala.« Er fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Hier draußen ist es ein bisschen wilder, ein bisschen seltsamer. Deswegen macht es auch so viel Spaß.«

»Ja, über Tote stolpern ist echt ein Mordsspaß«, sage ich.

Er stupst mich mit der Schulter an. »Kannst du nicht wieder fröhlich sein?«

Er wirkt nicht sauer oder genervt, nur ein bisschen enttäuscht, aber ich hasse es trotzdem. Es ist nicht das erste Mal, dass für einen Augenblick der Mann durchkommt, der er auch hätte werden können – der Mann, der er, wie ich manchmal befürchte, tatsächlich ist. Ich rücke von ihm ab, meine Finger um die Holzkante des Boots geschlungen.

»Warum gehst du nicht zu Amma und unterhältst dich mit ihr?«, schlage ich vor. »Sie scheint sich ja genauso für den Schädel zu begeistern wie du.«

Er sitzt einen Moment da, und mir ist klar, dass er sich nicht entscheiden kann, wie er mit der Situation umgehen soll, wie er mit mir umgehen soll. Ob er es einfach auf sich beruhen lassen oder versuchen soll, sich mit irgendeinem dummen Spruch herauszuwinden.

Am Ende murmelt er nur: »Meinetwegen«, und steht auf. Kurz darauf höre ich ein Planschen, und als ich mich umwende und über die Schulter schaue, sehe ich, dass er an Land schwimmt. Seine Arme schneiden mit flüssigen, starken Zügen durchs glitzernde Wasser.

Die Sonne geht allmählich unter und hat den Himmel in ein strahlendes Farbenspektrum getaucht, von Lila über Orange bis hin zum Zuckerwatte-Pink der Wolken. Das Einzige, was zu hören ist, ist das Vogelgezwitscher und das Schlagen der Wellen gegen den Rumpf. Ich schließe die Augen.

Nico hat recht. Diese Insel ist wild und seltsam, und das macht ihre Anziehungskraft aus. Deswegen wollten Brittany und Amma herkommen, deswegen haben Jake und Eliza sie ausgewählt. Wegen des Abenteuers.

Und wollte ich das nicht auch? Ich stehe auf und schaue zur Azure Sky hinüber. Ich kann Jake und Eliza ausmachen, die auf Deck herumhantieren, und ich weiß, dass Brittany und Amma noch auf der Insel sind. Nico hat aufgehört zu schwimmen, er tritt nur Wasser, als er sich umdreht und zu mir herüberschaut. Ohne lange zu überlegen, packe ich den Saum meines T-Shirts und ziehe es mir über den Kopf. Genauso schnell streife ich meine Shorts ab, und dann tauche ich in den Ozean, nackt und vielleicht ein ganz klein wenig verrückt.

Doch Nicos Lachen, als ich näher komme, ist es wert.

Er schwimmt mir entgegen, unsere nackten Beine stoßen zusammen und schlingen sich umeinander, und er beugt sich vor und drückt mir einen unbeholfenen, salzigen Kuss auf die Lippen.

Ich lege ihm einen Arm um die Schultern, spüre seine glatte Haut und erwidere seinen Kuss.

»Es tut mir leid«, flüstere ich an seinen Lippen, als wir uns voneinander lösen.

Er lächelt und legt seine Stirn an meine. »Es ist okay, Babe«, sagt er. »Ich weiß, dass das hier draußen ein ganz anderes Leben ist. Aber es ist eine gute Übung für später, wenn wir beide allein lossegeln.«

Vom Strand dringt ein scharfes Pfeifen herüber, und als wir uns im Wasser umdrehen, fällt unser Blick auf Brittany, die am Strand steht und lacht und den Daumen reckt. Ich lache auch, doch ich sinke noch ein bisschen tiefer unter Wasser, um meine Brüste zu verbergen, denn meine Forschheit löst sich auf, jetzt da zwischen Nico und mir wieder alles gut ist.

Amma steht neben Brittany am Strand, die Hände in den Taschen.

Ich denke daran, wie ihre Schulter Nicos Schulter berührt hat, wie ihre Hand seine Hand gestreift hat, als sie nach dem Schädel griff.

Bloß ein komischer Tag , denke ich wieder.

Bloß ein komischer Tag .