16

Am nächsten Morgen wache ich zu früh auf. Das Licht in der Kabine ist ein zartes Lila, als ich mich behutsam von Nico löse und den noch ein wenig feuchten Badeanzug überstreife, der an einem Küchenschrank hängt.

Als ich mich umschaue, sehe ich, dass die ganze Hauptkabine ein einziges Chaos ist, und ich frage mich, ob ich am Nachmittag zurückkommen soll, um ein wenig aufzuräumen. In den letzten Tagen haben wir so viel Zeit auf der Insel verbracht, dass die Susannah , die eigentlich unser Hauptquartier hätte sein sollen, mir allmählich eher vorkommt wie eine Durchgangsstation. Der Ort, wo wir schlafen und uns anziehen und ab und zu mal was zu essen schnappen, aber mehr nicht.

Als ich aufs Deck trete, geht gerade die Sonne auf und taucht den Himmel und das Wasser in die schönsten Pink- und Orangetöne, und ich grinse, als ich an der Seite vom Boot springe und das Salzwasser warm über meine Haut streicht.

An den Strand zu schwimmen dauert nur ein paar Minuten, und ich gehe zu dem kleinen Unterstand, den Jake neulich gebaut hat. Da drin sind ein paar Bücher, die aus meiner Sammlung stammen, ein paar Handtücher und normalerweise auch ein paar Proteinriegel – einer der wenigen Beiträge der Susannah zu unseren gemeinsamen Essensvorräten.

Doch als ich die kleine Steigung zum Rand der Bäume hochgehe, sehe ich, dass jemand schneller war.

»Morgen!«, ruft Robbie. Er hat sich eine von Elizas Batikdecken unter den Nagel gerissen und die Arme um seine knochigen Knie geschlungen. In der Hand hält er einen Proteinriegel, und er verteilt Krümel. Neben ihm steht auch eine offene halb volle Bierflasche.

»Ich sag dir was, ein Frühstücksbier und einer schönen Frau zusehen, wie sie aus dem Wasser kommt, ist unschlagbar.«

Er sagt es lässig, sein Ton ist freundlich, aber er gefällt mir trotzdem nicht, denn ich mag es nicht, dass sein Blick bewundernd über meinen Körper streicht.

Doch es ist sein erster richtiger Tag hier, und vielleicht ist er bloß einer von denen, die einfach nicht kapieren, dass sie irgendwie gruselig sind.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln und antworte: »Ich habe noch nie ein Frühstücksbier getrunken.«

»Dabei gibt es nichts Besseres«, versetzt er und bietet mir einen Schluck aus seiner Flasche an. »Wenn du gleich am Morgen ein Bier trinkst, kann der Tag nur gut werden.«

Ich schüttele den Kopf über die mir angebotene Flasche. »Nein danke.«

»Dein Pech«, versetzt er fröhlich und nimmt noch einen Schluck und dann einen Bissen vom Proteinriegel. Neben ihm liegen zwei weitere leere Verpackungen im Sand, und ich schlucke nicht zum ersten Mal meine Verärgerung herunter.

Trotzdem höre ich die Schärfe in meinem Ton, als ich frage: »Und wie lange hast du vor zu bleiben?«

Er zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung, Mann. Ich werde sehen, in welche Richtung der Wind weht, weißt du?« Mit vollem Mund zeigt er mit dem Rest seines – unseres  – Proteinriegels in den Dschungel. »Vielleicht finde ich auch ein Fleckchen, wo ich kampieren kann, Schätzchen. Den Traum leben, für immer.«

Als er diesmal die Zähne blitzen lässt, hängt an einem Zahn ein Stückchen getrockneter Blaubeere, und mein Magen rebelliert ein wenig.

»Wie, hier leben?«, frage ich und lange an ihm vorbei in den Unterstand, um eine Flasche Wasser herauszuholen. Es ist warm und schmeckt nach Chemie, aber es hilft trotzdem.

Robbie nickt. »Das haben schon Leute gemacht. Also, ich habe eine Geschichte über einen Typ gelesen, der im Zweiten Weltkrieg hier stationiert war. Der Krieg war zu Ende, aber er hatte keine Lust zurückzukehren. Mein Kumpel, der vor zwei Jahren hier war, sagte, er hätte die Hütte von dem Typ im Dschungel gefunden. Der Kerl war längst weg, offensichtlich. Der Alte wäre inzwischen neunzig oder so gewesen. Aber er hat es gemacht. Er hat es durchgezogen!«

Ein weiteres Glucksen, und Robbie stützt sich nach hinten auf die Ellbogen. »Und ich ziehe es vielleicht auch durch.«

Mir geht durch den Kopf, dass wir unsere letzte Woche hier womöglich mit Robbie verbringen, und es kostet mich große Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen.

»Und er war nicht der Einzige«, fährt Robbie fort und sieht mich an. »Nicht der Einzige, der alles hinter sich gelassen und sein Lager im Dschungel aufgeschlagen hat. Mein Bekannter, der hier war, Chipper, war überzeugt, dass jemand auf der Insel lebte. Er hat immer wieder Geräusche gehört und Fallen in den Bäumen gefunden und so einen Mist.«

»Niemand könnte hier so lange überleben«, sage ich, obwohl ich mich an den Schädel an der Rollbahn erinnere und an den Beton, der bewies, dass auf Meroe Menschen gelebt hatten und gestorben waren. »Nicht, ohne Vorräte aufzustocken.«

Robbie zuckt mit den Achseln. »Das ist doch ganz einfach, Schätzchen. Du segelst einfach nach Hawaii und lädst nach. Dann kommst du hierher zurück und lebst den Traum.«

Er breitet wie gestern Abend die Arme weit aus und umfasst mit seiner Geste die ganze Insel, und ich blicke an ihm vorbei zur Baumlinie in die Dunkelheit des Dschungels.

Letzte Woche hat es sich angefühlt, als hätten wir diesen Ort ganz für uns allein, als wäre die Insel unser ganz privates Paradies.

Doch Robbie hat recht. Wen man ein Boot hatte, konnte man sich für immer hier niederlassen.

Bei der Vorstellung, dass Robbie womöglich nicht der Einzige ist, mit dem wir die Insel teilen, durchfährt mich ein Schaudern, und ich bin dankbar, als jemand »Lux!« ruft.

Es ist Jake, der den Strand heraufkommt. Ein Stück runter entdecke ich das Dingi, das auf den Sand gezogen wurde.

Er trägt eine ausgeblichene rote Badehose und Bootsschuhe, und als er näher kommt, sehe ich, dass sein Blick zu Robbie wandert.

»Hey«, sagt er einigermaßen freundlich, doch sein Lächeln ist aufgesetzt.

»Selber hey!«, ruft Robbie zurück, dann steht er auf und streicht sich den Sand von den Shorts. »Ich mache mich nicht an deine Freundin ran, versprochen«, sagt er, und ich blicke scharf zu ihm hinüber und versuche dahinterzukommen, ob er sich über uns lustig macht.

»Ich bin nicht seine Freundin«, sage ich.

»Mein Mädchen ist noch auf dem Boot«, sagt Jake gleichzeitig.

Robbie schaut zwischen uns hin und her, dann kichert er und schüttelt den Kopf. »Stimmt, sie gehört ja zu dem anderen Typ, dem Typ mit dem …« Er zeigt auf seinen Bizeps, womit er vermutlich Nicos Tätowierung andeuten will. »Und deine Freundin ist blond. So langsam erinnere ich mich wieder.«

Jake zwinkert mir zu, und ich spüre, dass ich ein wenig rot werde. Allein die Andeutung, ich könnte »seine Freundin« sein, macht mich … verlegen? Befangen? Es ist, als würde man im Traum mit einem Kumpel oder Kollegen ins Bett gehen. Bis dahin hast du dich gar nicht besonders für ihn interessiert, aber plötzlich hat dein Hirn ihn dir als potenziellen Sexpartner präsentiert.

»Wenigstens findet er, dass ich einen ausgezeichneten Geschmack habe«, meint Jake und bringt mich zum Lachen.

Dann ruckt er mit dem Kopf in eine Richtung. »Komm, Lux«, sagt er. »Ich würde dir gern etwas zeigen.«

***

Jake führt mich weiter den Strand hinunter, am Dingi vorbei, und wir gehen um eine Ecke in eine schmale Bucht, wo der Strand sich zu einer kleinen Klippe über dem Wasser erhebt. Es sind nur ungefähr anderthalb, zwei Meter, aber wir klettern, rutschend und schlitternd, hoch, und als Jake sich zu mir beugt, um meine Hand zu nehmen, gebe ich sie ihm und spüre seinen Handteller warm an meinem.

Vor meinem geistigen Auge blitzt wieder das Bild von ihm und Eliza in dem Teich auf, und mir wird am ganzen Körper so heiß, dass ich, als wir die kleine Anhöhe erklommen haben, stolpere.

»Alles okay?«, fragt er und sieht mich an.

Ich nicke und zwinge mich zu einem Lächeln. »Ja, super.«

Auch hier liegt eine von Elizas Decken, im Schatten, dicht an der Baumlinie, daneben eine weitere Kühlbox und ein Stapel Taschenbücher. »Eliza und ich hatten den Eindruck, an unserer ursprünglichen Stelle könnte es ein bisschen voll werden, also haben wir beschlossen, ein bisschen weiter weg zu gehen«, sagt er und breitet die Hände aus. »Gefällt es dir?«

»Sehr hübsch«, pflichte ich ihm bei und sehe mich um. »Aber wo ist Eliza?«

»Spazieren«, antwortet er und schiebt die Hände in die Taschen. »Ich glaube, sie hat gerade ein bisschen die Nase voll von mir, wenn ich ehrlich bin.«

Er sagt es leichthin, aber ich runzele trotzdem die Stirn.

»Alles okay mit euch?«

Jake macht eine wegwerfende Handbewegung. »O ja, alles gut. Vermutlich sind wir nur zu lange auf zu engem Raum zusammen.«

Ich hebe eine Hand über die Augen und blicke den Strand hinunter, und als ich mich nach links wende, entdecke ich in der Ferne Eliza, deren blonde Haare im Wind flattern. »Sie hat gesagt, ihr kennt euch, seit ihr Teenager wart.«

»Mhm«, brummt er zustimmend. »Sie war meine erste Liebe. Hat mich fast umgehauen, als ich ihr vor ein paar Monaten zufällig über den Weg gelaufen bin. Ich war in Canberra in einem Pub, und da war sie. Bewegte sich mit einem Bier in der Hand durch die Menschenmenge wie eine Göttin.« Er schüttelt den Kopf und lächelt bei der Erinnerung. »Das Witzige ist, dass ich sie gar nicht gleich erkannt habe. Ich dachte nur: ›Ah, das ist eine schöne Frau, ich sollte mal hingehen und mich mit ihr unterhalten.‹ Und dann …«

»Dann war es Eliza«, fasse ich zusammen.

Er lacht. »Damit hast du mein Leben auf den Punkt gebracht, ehrlich. ›Dann war es Eliza.‹ Egal, wir haben da weitergemacht, wo wir aufgehört hatten, als wäre kein Tag vergangen.«

Ich schaue zu ihm rüber und sehe, dass auch er Eliza beobachtet. »Und dann habt ihr einfach … beschlossen, zusammen die Welt zu bereisen?«

»So was in der Art, ja«, sagt er und sieht mich wieder an. »Und du und unser unerschrockener Mr. Johannsen?«

Ich erzähle ihm kurz, wie ich Nico im Cove kennengelernt habe und von den Monaten auf Maui, und als ich fertig bin, nickt er.

»Sind wir nicht einfach Glückspilze? Dass wir Menschen getroffen haben, die solche fantastischen Abenteuer mit uns erleben wollen?«

Irgendetwas daran überrascht mich. Ich weiß nicht, warum, aber ich war davon ausgegangen, das Ganze wäre Jakes Idee gewesen. Er grinst und stupst mich mit dem Ellbogen an. »Sie ist sehr überzeugend, meine Eliza. Wenn sie zu dir sagt: ›Wir sollten zu einer verlassenen Insel segeln‹, also, dann bist du dabei.«

Das glaube ich ihm sofort. Eliza besitzt diese Art von Energie – sie gehört zu den Menschen, denen man es aus irgendeinem Grund immer recht machen möchte. Vielleicht weil sie einem eine Version von einem präsentiert, der man unbedingt gerecht werden will.

Etwas funkelt im Sonnenschein und erregt meine Aufmerksamkeit: Ein Stück weiter an der Baumlinie steht eine Reihe leerer Bier- und Weinflaschen.

Ich sehe Jake mit hochgezogenen Augenbrauen an und zeige darauf. »Machst du es wie die Verbindungstypen und sammelst Leergut?«

Er lacht. »Nicht ganz.«

Neben dem Bücherstapel steht eine schlichte schwarze Box aus schwerem Plastik oder vielleicht auch Metall, und er geht hinüber und klappt sie auf.

Darin liegt eine Waffe.

Mein Mund wird trocken.

Ich habe noch nie eine Waffe aus der Nähe gesehen. Nico besitzt natürlich eine Leuchtpistole, verschlossen in einer knallorange-weißen Box in der Kabine, aber das hier ist eine echte Waffe, ein seidig glänzendes, tödliches Ding aus dunklem Metall. Als Jake mein Gesicht sieht, lacht er wieder.

»Vertrau mir, Schatz. Du willst nicht irgendwo weitab vom Schuss sein, ohne so ein Ding dabeizuhaben. Auch wenn ich es nur für so langweiliges Zeug wie Flaschenschießen benutze.« Er hält mir die Waffe hin. »Willst du es mal versuchen?«

Ich mag Waffen nicht, ich habe es noch nie für notwendig gehalten, eine zu besitzen, doch ich blicke in die Dunkelheit zwischen den Bäumen und denke daran, dass Robbie gesagt hat, hier könnte noch jemand leben.

»Warum nicht?«

Als Nächstes habe ich das Ding in der Hand, warm und schwer, und Jake steht hinter mir und zeigt mir, wie hoch ich den Arm halten muss und wie breit ich mich hinstellen muss.

»Sie hat einen Wahnsinnsrückstoß, auf den musst du gefasst sein«, sagt er, »also achte auf einen möglichst stabilen Stand. Blick auf das Ziel, Ellbogen locker. So ist es gut.«

Er steht direkt hinter mir, und ich spüre die Wärme seiner Haut auf meiner Haut und bin mir plötzlich überdeutlich bewusst, dass sein Oberkörper nackt ist und ich nur einen Einteiler trage. Doch an seiner Körperhaltung ist nichts Schleimiges, und er wahrt respektvoll Abstand, während er mir hilft, die richtige Armhaltung zu finden.

»Ziele«, sagt er, und ich wähle eine größere Flasche, eine leuchtend blaue, die, wie ich mich erinnere, noch vor einem Tag oder so mit Riesling gefüllt war.

Ich spanne den Hammer, und mein Herzschlag dröhnt laut in meinen Ohren.

»Und jetzt stell dir vor, es ist jemand, den du abgrundtief hasst, und drück ab«, sagt er.

Ich lache, doch er hat es kaum gesagt, da habe ich schon Robbies Gesicht vor Augen, wie er mich »Schätzchen« nennt, eine verdammte Blaubeere zwischen den Zähnen.

Ich drücke ab.