Jetzt

17

Robbie ist seit vier Tagen hier.

Ich rechne nach wie vor damit, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, dass sein Boot weg ist, dass er weitergezogen ist, wohin auch immer. Aber, nein, es ist jeden Tag noch da mit seinem lächerlichen Namen Last Dance with Mary Jane .

Er ist jeden Tag noch da.

Am zweiten Tag, dem Tag, an dem Jake mit mir schießen ging, saß Robbie auf einem Flecken Sand und schnippelte mit einem krummen und stumpf aussehenden Taschenmesser stundenlang an einem Stück Treibholz herum. Am Nachmittag verschwand er mit einer ramponierten schwarzen Segeltuchtasche über der Schulter im Dschungel.

Am dritten Tag verkündete er, er werde angeln, und stellte sich mit einer Angelschnur, an die er ein Wiener Würstchen geknotet hatte, ins seichte Wasser.

»Dämliches Arschloch«, sagt Jake von seinem Fleck am Strand, und Nico reckt sich an ihm vorbei, um zu sehen, was Robbie macht.

»Hey, Kumpel!«, ruft Jake. »Iss bloß nichts von dem, was du da fängst!«

»Warum nicht?«, fragt Nico.

Jake sieht ihn an. »Viele von den Fischen hier sind verdammt giftig. Wenn du die isst, bist du ein paar Stunden später tot.« Er lächelt kurz und lässt die Zähne blitzen. »Noch eine von den kleinen Überraschungen von Meroe Island. Es wundert mich, dass du das nicht wusstest.«

Etwas zuckt über Nicos Gesicht, doch es ist fort, bevor ich es identifizieren kann.

Aber es spielt keine Rolle, denn Robbie fängt nichts.

Am vierten Tag ist der Strand leer, als wir alle hinüberschwimmen, und ich atme hörbar auf vor Erleichterung, als wir uns an unserem ursprünglichen Unterstand niederlassen.

»Du bist beim Kartenspielen sicher eine absolute Niete«, foppt Jake mich, als ich mich auf der Decke niederlasse. Er trägt heute eine blau-weiß gestreifte Badehose, kürzer und enger als die Boardshorts, die Nico normalerweise anhat, und die Haare an seinen Beinen locken sich golden im Sonnenschein.

Ich spüre, wie ich rot werde. »Was meinst du damit?«

»Dir steht immer deutlich im Gesicht geschrieben, was du gerade denkst. Zum Beispiel sehe ich, dass du äußerst dankbar bist, dass unser neuer Freund uns heute noch nicht seine Aufwartung gemacht hat.«

»Noch nicht, meinst du wohl«, sagt Brittany, legt sich neben mich und rückt ihre Sonnenbrille zurecht. »Ich wette, er reist erst ab, wenn wir gehen.«

»Na ja. Wir haben ihn am ersten Abend mit einem Festessen willkommen geheißen, was erwartest du da?«

Das ist Amma, die sich auf die andere Seite neben Brittany gesetzt hat. Sie hat das Taschenbuch rausgeholt, das Jake gelesen hat, als wir herkamen, und ich sehe, dass es ein Spionagethriller ist, schwarze Silhouetten laufen über einen dunkelblauen Hintergrund.

»Euch haben wir auch mit einem Festessen begrüßt«, sagt Eliza mit einer leichten Schärfe im Ton. Ich kann es ihr nicht verübeln – Amma war die ganze Zeit ziemlich ruppig gegenüber Eliza, egal wie nett Eliza zu ihr war.

»Ja, aber wir sind ja auch ganz offensichtlich keine schnorrenden Widerlinge«, erwidert Amma.

»Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«, versetzt Jake freundlich, den Blick übers Meer gerichtet.

Wir sitzen etwas verlegen da, da sagt Eliza: »Lux, wärst du so nett und würdest zur Azure Sky fahren? Da unser Freund heute nicht hier rumhängt, hätte ich Lust, den guten Wein aufzumachen. Du weißt, wo er ist, oder?«

Ich nicke, stehe auf und streiche mir den Sand von der Rückseite der Beine. Das Dingi der Azure Sky liegt auf dem Sand, und ich schiebe es mühelos ins Wasser und halte damit auf den Katamaran zu. Ich winke Nico, als wir aneinander vorbeikommen.

Wie immer bin ich erstaunt, wie sauber auf der Azure Sky alles ist, wie gepflegt und ordentlich das Deck ist. Je länger wir hier vor Anker liegen, desto ungepflegter scheint die Susannah zu werden, überall auf Deck feuchte Handtücher, Schuhe, Ersatzleinen.

Ich schiebe die Tür zur Hauptkabine auf.

Und erstarre.

Da steht Robbie, mit dem Rücken zu mir, sodass die Eidechsen-Tätowierung auf seiner Schulter mich anzüglich angrinst. Er hat die Hände in die Hüften gestemmt und betrachtet etwas neben der Spüle, und die Kabine ist durchdrungen von seinem Geruch. Schweiß, Salzwasser, stockfleckige Wäsche …

»Was machst du da?«

Er schießt herum, und für den Bruchteil einer Sekunde ist seine Miene vollkommen verschlossen, bevor er wieder sein dümmliches Grinsen aufsetzt. »Lux!«, sagt er. »Ich sehe mich nur mal um. Wollt mal wissen, wie die andere Hälfte so lebt.« Mit einer Hand streicht er über die Teakschränke in Kopfhöhe und pfeift durch die Zähne. »Und ich muss sagen, die andere Hälfte lebt gut.«

»Du hast hier nichts verloren«, sage ich, und dann versagt mir die Stimme, denn ich finde es schrecklich, dass ich mich anhöre wie ein Lehrer oder so, der ein Kind dafür schimpft, dass er es außerhalb des Klassenzimmers antrifft.

Sein Grinsen weicht nicht, doch sein Blick wird härter, als er sagt: »Hast du hier was verloren? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch nicht dein Boot ist.«

»Stimmt, aber Eliza hat mich hergeschickt, um etwas für sie zu holen.«

»Jake und Eliiiiiza.« Robbie zieht es in die Länge, derweil er sich mit einer Hüfte an die Arbeitsfläche lehnt. »Gute Freunde von dir, was? Busenfreunde?«

Meine Füße jucken, denn ich möchte weglaufen. Meine Haut kribbelt von kaltem Schweiß, doch ich habe die Arme vor der Brust verschränkt und das Kinn gereckt und weiche nicht vom Fleck. »Ich sag nur, dass ich nicht ohne Erlaubnis ein fremdes Boot betrete.«

»Wenn du findest, dass es das schlimmste Verbrechen ist, das hier in der Gegend passiert, wenn ich mich ein bisschen umsehe, dann bist du auf dem Holzweg, Schätzchen!«

»Nenn mich nicht so«, fahre ich, wutentbrannt und voller Panik, auf. Wenn ich schreien würde, würden die anderen mich wahrscheinlich hören, aber wie schnell könnten sie hier sein?

»Ich versuche nur, dein Freund zu sein«, sagt er mit einem Achselzucken. »Oder, verdammt, vielleicht weißt du ja schon, wie es kommt, dass solche Leute so ein Boot besitzen.«

»Ich denke, du solltest jetzt gehen«, versetze ich entschlossen.

Sein Lächeln wird zu etwas Härterem, Grausamerem. »Meroe Island ist verflucht, das weißt du, oder? Du und deine Freunde, ihr denkt, ihr hättet eine schöne Zeit, sammelt Content für Instagram oder was zum Teufel auch immer ihr macht, aber es ist nicht der richtige Ort für so was.«

»Du bist doch derjenige, der hierbleiben möchte«, erinnere ich ihn und denke an die erste Nacht, an seinen Kumpel, der wer weiß wie lange hier war.

»Weil ich kapiert habe, was das hier für ein Ort ist. Aber du und deine Freunde? Dieser Ort wird euch auffressen.« Er schlägt die Zähne hart aufeinander, womit er mich so erschreckt, dass ich beinahe über die Stufe hinter mir stolpere.

Das reizt ihn zum Lachen, und das Vergnügen, das er eindeutig daran hat, mir Angst einzujagen, führt dazu, dass mein Blick zu dem Messer auf dem Tisch wandert.

Es dient dazu, Austern aus der Schale zu lösen – kein besonders tödliches Messer –, aber ich greife trotzdem danach und mache einen Satz nach vorn, bis die Spitze direkt vor Robbies Auge schwebt.

Das Lachen erstirbt in seiner Kehle, und er hebt beide Hände in die Luft. »Schon gut, Schätzchen.«

»Ich habe gesagt, du sollst mich nicht so nennen.«

Ich stoße das Messer weiter vor, mein Atem geht hektisch. Wir sind hier weitab vom Schuss. Hier gibt es keine Regeln, hier kann man nicht die Polizei rufen, hier werden keine Ausweise gecheckt. Wenn ich diesen Mann umbringen und seine Leiche ins Meer werfen und sein Boot zum Kentern bringen würde – wer sollte es je erfahren?

Diese Erkenntnis lässt mich beinahe schwindeln. Monatelang habe ich auf Maui von der Freiheit des offenen Meeres geträumt, aber über ihre dunklere Seite habe ich mir nie wirklich Gedanken gemacht. Hier draußen sind wir ungebunden. Und das bedeutet, dass wir alles tun können.

Ich könnte alles tun.

»Hey, ich wollte dir keine Angst einjagen«, sagt Robbie jetzt und weicht zurück.

Ich sehe, dass seine dunklen Augen nervös zwischen dem Messer und meinem Gesicht hin- und herhuschen.

Er hat Angst vor mir.

Ich lasse das Messer sinken und nicke. »Gut.«

Als ich zurücktrete, schüttelt er den Kopf. »Wer hätte gedacht, dass das in dir steckt, Mädchen? Sag mir, wen von den Idioten würdest du zuerst essen?«

Er zeigt mit einer Kopfbewegung in Richtung Strand, auf Jake und Eliza, Nico, Amma und Brittany, und mir ist plötzlich kotzübel, und ich wünschte, ich wäre woanders, egal wo, bloß nicht hier.

»Fick dich«, versetze ich, aber es klingt schwach.

Er lacht bloß wieder. »Schäm dich nicht, Schätzchen, schäm dich nicht. Ich sag’ ja nur, wenn es darum geht, Meroe zu bezwingen, würde ich mein Geld jederzeit auf dich setzen.«

Damit schiebt er sich an mir vorbei und geht die Stufen hoch, und ich höre es planschen, als er ins Meer springt.

Ich zittere immer noch, und die Weinflasche, die ich aus dem Kühlschrank hole, rutscht mir beinahe aus der Hand. Als ich endlich wieder auf Deck auftauche, sehe ich, dass Jake und Eliza am Strand stehen und zum Boot herüberblicken. Sie müssen Robbie auf Deck gesehen haben, und ich hebe eine Hand, um ihnen zu signalisieren, dass alles in Ordnung ist. Dann steige ich wieder in das Dingi.

Robbie ist in der Nähe, er tritt Wasser und blickt hinauf in den Himmel, und als ich an ihm vorbeituckere, lächelt er mich tatsächlich an, als wäre nichts gewesen.

Ich schaue weg, richte den Blick auf den Strand.

Jake, Eliza und Nico warten im seichten Wasser auf mich.

»Warum war das Arschloch auf unserem Boot?«, fragt Jake. Er hat sich die Sonnenbrille ins Haar geschoben, und seine Augen sind so blau wie der Himmel, doch seine Miene ist zornig. So habe ich ihn noch nie erlebt. Ich schüttele den Kopf.

»Er hat rumgeschnüffelt.«

»Der Wichser«, murmelt Jake und sieht Eliza an, und jetzt, wo ich zurück am Strand bin, jetzt, wo ich in Sicherheit bin, erinnere ich mich auf einmal an Robbies Worte – vielleicht weißt du ja schon, wie es kommt, dass solche Leute so ein Boot besitzen .

Das war nur Geschwafel, und er ist bloß ein Widerling, der versucht hat, mich zu verunsichern.

Jake dreht sich um und geht zum Unterstand. Er kramt kurz darin herum, dann richtet er sich auf und kommt zu uns zurück. Sonnenstrahlen blitzen auf Metall.

Die Waffe.

»Oha, Mann«, sagt Nico. Seine Hand liegt auf meinem Ellbogen, um mich zu stützen. »Ist das nicht ein bisschen heftig?«

»Ich will nur mit ihm reden«, sagt Jake, doch dann kneift er die Lippen zu einem schmalen, harten Strich zusammen.

»Jake, um Himmels willen«, sagt Eliza.

Er blickt abrupt zu ihr hinüber. »Was? Willst du wirklich, dass er da rumschnüffelt, Eliza? Denk gut darüber nach, bevor du antwortest.«

»Nein«, versetzt sie scharf, »aber ich finde diesen Machoscheiß total überflüssig und offen gestanden auch ein bisschen peinlich.«

Jake schnaubt spöttisch. »Tut mir schrecklich leid, dass ich dich in Verlegenheit bringe, Schatz. Wie willst du damit nur klarkommen?«

»Könnt ihr zwei bitte damit aufhören?«

Das ist jetzt Amma, sie hat die Fäuste in die Seiten gestemmt, und ihr Blick schießt zwischen dem Strand und uns hin und her. »Er kommt.«

Robbie watet jetzt durchs seichte Wasser, das Meerwasser läuft an seinem mageren Körper hinunter, und seine knielang abgeschnittene Hose ist dunkel vom Wasser. Brittany stellt sich neben mich.

»Hat er was zu dir gesagt?«, fragt sie. »Auf dem Boot?«

Ich weiß nicht, warum ich ihr – und auch den anderen – nicht den ganzen Mist erzähle, den er von sich gegeben hat. Vielleicht will ich nicht, dass die angespannte Situation noch mehr eskaliert. Und es ist ja auch nicht so, als hätte er mir etwas getan oder so. Ich habe mich tapfer behauptet, und ich spüre noch genau, wie es sich angefühlt hat, ihn mit dem Messer zu bedrohen. Das winzige Fünkchen Angst in seinen Augen zu sehen.

Auch davon will ich den anderen nichts erzählen.

Ich schüttele den Kopf. »Nichts Wichtiges.«

Robbie steht jetzt vor uns, die Hände in den Hüften, sein übliches Grinsen im Gesicht.

»Feiert ihr etwa ohne mich?«, fragt er.

Jake tritt vor. »Was hast du auf meinem Boot gemacht?«

Doch Robbies Grinsen gerät nicht ins Wanken. Er zuckt bloß mit den Achseln. »Ich habe mich ein bisschen umgesehen. Ich dachte, das wäre hier so eine mi casa es su casa -Kiste, weißt du?« Er zeigt auf uns und wedelt mit der Hand in Richtung Unterstand.

»Ist es nicht«, sagt Jake, »und wenn ich dich noch einmal auf meinem Boot erwische …«

»Was dann? Machst du mir dann den Crocodile Dundee ?« Er täuscht eine rasche Serie von Schlägen in Jakes Richtung an, worauf wir alle zusammenzucken.

Robbie lacht nur, aber Nicos Stimme ist tief und drohend, als er sagt: »Komm schon, Mann.«

Jake zuckt nicht mit der Wimper. Ruhig hebt er die Waffe, bis der Lauf bloß noch wenige Zentimeter von Robbies Stirn entfernt ist.

»Jake!«, schreit Eliza, und Brittany packt mich am Arm und zieht mich ein Stück weg.

Robbie lächelt immer noch, doch seine Augen sind jetzt sehr kalt. »Ganz ruhig, Mann«, sagt er. »Das hier ist nicht Herr der Fliegen , und ich bin ganz bestimmt nicht Piggy.«

»Ich glaube, du hast unsere Gastfreundschaft lange genug beansprucht, Kumpel«, sagt Jake in leichtem Tonfall, während er die Waffe mit ruhiger Hand weiter auf Robbie gerichtet hält. Ist es erst zwei Tage her, dass ich diese Waffe in der Hand hatte? Dass ich damit auf leere Weinflaschen geschossen und gelacht habe?

Nach Lachen ist mir jetzt wirklich nicht zumute.

Amma ist blass, und Nico hebt eine Hand in die Luft, als wollte er jeden Moment dazwischengehen und die Sache beenden, doch Robbie und Jake sind weiter ganz aufeinander konzentriert. Robbies Hände öffnen und schließen sich neben dem Körper, er beugt die Finger.

»Findest du?«, fragt er, und dann schüttelt er den Kopf und reibt sich mit einer Hand über sein kurz geschorenes Haar. »Also, in dem Fall zieh’ ich wohl besser weiter.«

»Gute Idee.«

Jake lässt die Waffe sinken, und ich glaube, alle atmen erleichtert auf.

Robbie dreht sich um, als wollte er gehen, und ich sehe ihn vor meinem geistigen Auge schon zurückschwimmen, seinen mageren Körper die Leiter zu seinem Boot hochziehen und davonsegeln und uns wieder uns selbst überlassen.

Aber dann dreht er sich plötzlich noch einmal um. Es geht so schnell, dass wir gar nicht reagieren können, und er schiebt sich so dicht an Jake vorbei, dass der ein paar Schritte nach hinten taumelt. Und schließlich stürzt Robbie sich in den Dschungel.

Es gibt einen scharfen Knall, so laut und so nah, dass ich tatsächlich aufschreie und mir die Hände auf die Ohren schlage. Trotzdem höre ich Eliza sagen: »Herrgott noch mal!«

Jake hat ihn erschossen, er hat Robbie erschossen, er hat ihn umgebracht, und wir haben bloß dagestanden und zugesehen, jammert mein Gehirn in einer Endlosschleife, doch es gibt keinen Schrei, und ich höre Robbie immer noch zwischen den Bäumen durchlaufen, auch wenn es allmählich leiser wird.

Und dann ist es still, und wir starren auf die Stelle, wo Robbie verschwunden ist, in den Dschungel, der ihn verschluckt hat.