Ich habe noch nie einen Toten gesehen, nicht so.
Ich war bei Mom, als sie starb, aber das war steril und abgeklärt, umgeben vom Piepsen der Monitore und dem antiseptischen Geruch des Krankenhauses.
Das hier ist etwas ganz anderes.
Ich schlage eine Hand über meinen Mund und bleibe zurück, während Jake näher geht.
»Was ist mit ihm passiert?«, bringe ich über die Lippen.
Er seufzt und rauft sich die Haare. »Ich bin mir nicht sicher. Er liegt mit dem Gesicht im Wasser. Ich kann nichts Offensichtliches erkennen. Aber hier draußen kann man auf tausend Arten sterben.«
Er hockt sich hin, zieht sich sein T-Shirt über die Nase und stupst etwas an, was auf dem Boden liegt.
Es ist Robbies schwarze Segeltuchtasche, und als Jake sie hochhebt und darin kramt, entfährt mir ein: »Nicht!«
Er blickt verdutzt auf.
»Es kommt mir einfach nicht richtig vor«, sage ich, »in seinen Sachen zu wühlen.«
»Er ist tot, Lux. Er wird’s verkraften«, erwidert er, und dann stößt er einen Laut aus, eine Art Grunzen, und zieht etwas aus der Tasche.
Es ist ein Messer mit einer wahrlich furchterregenden Klinge wie aus einem Slasher-Film. Sie ist gebogen und hat eine schartige Kante, und der Messergriff ist aus etwas gefertigt, das nach Knochen aussieht, und als das Messer nur wenige Schritte vor mir entfernt zu Boden fällt, habe ich das Bedürfnis, es wegzutreten.
Doch dann zieht Jake noch etwas aus der Tasche.
»Sein Pass?«, frage ich, denn die kleine marineblaue Mappe kommt mir bekannt vor.
»Nein«, sagt er, blättert darin und steht dann auf. »Deiner.«
Ich blinzele, meine Haut ist trotz der Hitze plötzlich eiskalt.
»Was?«
»Dein Pass«, sagt Jake, schlägt ihn auf und klatscht damit auf seinen Handteller. »Er muss ihn mitgenommen haben, als er die Funkgeräte zerstört hat.«
Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, nach meinen Sachen zu schauen, als wir die kaputten Funkgeräte entdeckt hatten; es schien zu offensichtlich zu sein, dass Robbie aus einem bestimmten Grund – und nur aus diesem Grund – an Bord gekommen war. Jetzt wird mir klar, dass ich nicht in meine Handtasche geschaut hatte, die ich auf der Susannah unter einen Schrank geschoben hatte, als wir herkamen. Darin waren nur mein Telefon, mein Pass und ein bisschen Bargeld – nichts, was ich in den vergangenen zwei Wochen gebraucht hätte. Ich hatte nicht einmal hineingesehen, als ich sie mit auf die Azure Sky genommen hatte, sondern hatte sie in meiner Koje nur unter die Matratze geschoben, um sie sicher zu verwahren.
»Warum?«, frage ich, die Arme fest um den Oberkörper geschlungen. »Warum hat er nur meinen Pass genommen?«
Jake zuckt mit den Achseln. »Du hast doch gesagt, dass es eine etwas schräge Situation mit ihm gab. Vielleicht wollte er es dir heimzahlen? Es hätte einen ziemlichen Aufstand gegeben, wenn du ohne Pass zurück nach Hawaii hättest segeln wollen, lass dir das gesagt sein.«
Vielleicht. Oder vielleicht …
Ich blicke wieder auf das Messer und denke an Robbie, mit dem Messer, hier draußen im Dschungel.
Dem Messer und meinem Foto.
Abwartend.
Ränke schmiedend?
Jake hat wahrscheinlich recht – wahrscheinlich wollte er mir einfach Stress machen, wollte mir nach unserer Konfrontation auf dem Katamaran das Leben noch ein bisschen schwerer machen, aber ich denke daran, wie oft ich das Gefühl hatte, aus dem Dschungel würde mich jemand beobachten, und mir schaudert.
Beim Blick über die Lichtung wird klar, dass Robbie sich offensichtlich hier aufgehalten hat. Über einem Ast hängt ein Hemd, und ich entdecke die Überreste eines kleinen Feuers. Als ich näher herangehe, bemerke ich die winzigen Gräten, die auf dem Boden verstreut sind.
»Der Fisch«, sage ich, und Jake geht rüber und tritt in die Asche und die Gräten.
»Oh, der dämliche Idiot.« Er seufzt. »Wir haben es ihm doch gesagt, oder? Wir haben es ihm verdammt noch mal gesagt.«
Jetzt scheint es klar zu sein. Robbie hat immer versucht, Fische zu fangen, und am Ende war es ihm wohl gelungen, aber es waren die falschen. Ich kann mir leicht vorstellen, wie er – krank, vergiftet – zu dem Teich gekrochen ist und voller Verzweiflung von dem Brackwasser getrunken hat – so schwach, dass er mit dem Gesicht nach unten ins Wasser stolperte, unfähig, den Kopf zu heben.
Ein Unfall. Ein dämlicher, beschissener Unfall.
Und eine Ermahnung, wie schnell sich diese Insel gegen die Menschen stellt.
Wie sie sie verschlingt.
»Wir müssen es jemandem sagen«, bemerke ich.
Jake nickt. »Ja, wir sagen den anderen, dass wir ihn gefunden haben.«
»Nicht nur ihnen«, erwidere ich mit einem Stirnrunzeln. »Also. Wir müssen … Ich weiß nicht, der Küstenwache Bescheid sagen oder so? Kann doch sein, dass jemand nach ihm sucht.«
»Lux, niemand sucht diesen jämmerlichen, traurigen Scheißkerl, das verspreche ich dir. Das ist nicht unser Problem.«
Er sagt das so kalt, dass ich beinahe einen Schritt zurückweiche. »Wir können ihn doch nicht einfach hierlassen.«
Jake seufzt und hebt die Hand, um sich den Nacken zu reiben, während er sich umsieht. »Also, ich trag ihn nicht zurück zu unserem Strand, du?«
»Sei kein Arsch!«, fahre ich ihn an.
Er streckt beide Hände aus und kommt auf mich zu. »Hey«, sagt er leise, »es tut mir leid. Aber …« Er packt mich an den Schultern und blickt mir in die Augen. »Lux, der Typ war ein Widerling, und vielleicht war er auch gefährlich. Deine Sorge, dass er womöglich gar nicht weg sein könnte, war berechtigt. Aber es ist nicht unsere Schuld, dass er sich selbst vergiftet hat, und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass wir dadurch nicht besser dran sind. Das begreifst du doch sicher.«
Ein Teil von mir möchte vor Jakes Worten zurückschrecken, aber die Sache ist die: Er hat recht.
War es nicht in gewisser Weise das, was ich gewollt hatte? Als Jake an dem Morgen, nachdem Robbie verschwunden war, darüber gewitzelt hatte, eine »Jagdgesellschaft« zusammenzustellen, hatte die Vorstellung mir nicht irgendwie gefallen, mir das Gefühl gegeben, dann sicherer zu sein?
Ich merke, dass ich zustimmend nicke, und lasse zu, dass Jake mich an sich zieht und umarmt.
»Wir sagen es den anderen«, wiederholt er, »und wenn das Schiff mit den Funkgeräten kommt, geben wir denen Bescheid. Mehr können wir nicht tun. Und müssen es auch nicht.«
Er hat ja recht.
»Und das Schiff kommt wann?«, frage ich. »Also, in ein paar Tagen, oder? Oder erst in einer Woche?«
Jake riecht immer noch nach Salz und Meer und nach mir. Er stützt das Kinn auf meinen Scheitel. »Spätestens in einer Woche. Vielleicht zwei Tage länger, je nachdem, wie sie vorankommen, aber bald.«
Bald.
Bald werden andere Menschen hier sein. Bald können wir hier weg. Bald wird Meroe Island nur noch eine Erinnerung sein, eine schräge Geschichte aus meinen verrückten Zwanzigern, die ich in der Bar und am Lagerfeuer erzählen kann.
Doch ich weiß, dass ich hiervon niemals erzählen werde. Nicht von Jake und mir und diesem gestohlenen Nachmittag, und nicht von Robbie, der tot im Dschungel liegt und zu dem ich mich immer wieder umschaue, als wir uns abwenden, um zu gehen.