»Es tut mir leid, Schatz, aber es schien mir das Beste, dir die Wahrheit zu sagen.«
Brittany sitzt mit Chloe im Park auf einer Bank. Sie sind noch in Canberra, und während zu Hause gerade Frühling ist, ist hier Herbst. Die Blätter färben sich, die Sonne ist noch warm, doch der Wind ist kühl geworden. Sie starrt auf das Telefon, das Chloe ihr gereicht hat, ihr Blick auf das Foto fixiert.
Es ist zwei Jahre alt.
Amma mit breitem Lächeln auf der Facebook-Seite von jemandem. Sie ist ein wenig dünner als jetzt, und ihre Haare sind kürzer, streifen kaum ihre Schultern.
Sie hat die Arme um einen Jungen geschlungen, dessen Gesicht Brittany sehr gut kennt, ein Gesicht, das sie im Gerichtssaal gesehen hat, ein Gesicht, das sie in ihren Albträumen immer noch vor sich sieht.
Sterling Northcutt.
Der Mann – nein, der Junge, hatte der Richter ihn nicht jedes Mal einen Jungen genannt? Oh, dieser gute, aufrechte Junge, der vorher noch nie etwas falsch gemacht hat, niemals, bis er sich eines Nachts dermaßen absolut die Kante gegeben hat, sich hinters Lenkrad eines Wagens gesetzt und Brittanys ganzes Leben ausgelöscht hat –, der ihre Familie getötet hat.
»Ich verstehe das nicht«, sagt Brittany, deren Körper immer noch taub ist, deren Herz mit der Hälfte der normalen Geschwindigkeit schlägt, als sie auf Amma blickt, ihre beste Freundin – die eine Person, die wirklich verstand, wie allein Brittany sich fühlte –, die die Arme um den Mann geschlungen hat, der ihr Leben zerstört hat.
Amelia-Marie und Sterling, SOOO VERLIIIIIEBT , lautet die Bildunterschrift, und Brittany schaut immer wieder auf den Namen, Amelia-Marie, und fragt sich, ob es eine Verwechslung ist, wo sie doch weiß, dass es das nicht ist.
Amma.
»Du hast gesagt, du hast sie in einer Trauergruppe kennengelernt, oder?«, fragt Chloe.
Brittany nickt und erinnert sich an den Raum mit seinem Geruch nach angebranntem Kaffee. Erinnert sich daran, wie Amma sich auf den leeren Stuhl neben ihr gesetzt hatte; dass Amma, als Brittany erzählt hatte, was passiert war, nichts gesagt hatte – sie hatte nur genickt und die Hand ausgestreckt und ihre Hand genommen. Damals war Brittany dankbar gewesen, dass Amma sie nicht bedrängt hatte und Einzelheiten erfahren wollte, dass sie keine weiteren Fragen gestellt hatte. Jetzt begreift Brittany, dass Amma längst alles wusste, was es zu wissen gab.
Bei dieser ersten Sitzung waren Amma Tränen über die Wangen gelaufen, und als Brittany sah, wie sie zusammenbrach, überkam sie eine Welle der Erleichterung. Wie schön es war, dass eine Fremde ihre Trauer teilte. Wie gut es sich anfühlte, nicht mehr so allein zu sein.
»Sie muss dich irgendwie gestalkt haben«, fährt Chloe fort. »Sie hat gelogen, als sie behauptete, ihr Freund wäre tot, um dir nahezukommen? Das ist doch total daneben. Und nicht nur das, sie hat jede Menge Geld.«
Mehr Fotos, mehr Links.
Amma in ihrer vornehmen katholischen Schule, Fotos von der Facebook-Seite ihrer Mutter, von Amma in schicker Reitkleidung auf einem Pferd – einem verdammten Pferd! – und ein weiteres von Amma, als sie jünger war und mit ihren Eltern und zwei älteren Mädchen vor dem Eiffelturm stand.
Seltsamerweise ist es dieses Foto, das Brittany den Atem verschlägt.
»Sie hat gesagt … sie hat gesagt, sie wäre noch nie in Paris gewesen.«
Chloe legt ihr einen Arm um die Schultern. »Herrgott, was für eine verlogene Schlampe!«
Brittany schüttelt den Kopf, in ihren Augen wallen Tränen auf. »Sie hat mich von vorne bis hinten belogen. Was ihre Familie angeht, bei ihrer Geschichte. Wo sie gelebt hat und wohin sie gereist ist. Warum?«
»Menschen sind schräg.« Chloe seufzt. »Vielleicht war es eine Art von Buße oder so? ›Tut mir leid, dass mein Freund deine Familie umgebracht hat, lass es mich wiedergutmachen, indem ich deine Freundin bin‹?«
Bei den Worten zuckt Brittany zusammen, und ihr Magen krampft. War Amma im Gerichtssaal gewesen? Hatte sie Brittany gesehen? Es musste so sein. All das hatte an diesem schrecklichen Tag angefangen.
»Vielleicht war sie nur neugierig auf dich, weißt du?«, fährt Chloe fort. »Jedenfalls ist es ziemlich schräg. Und es ist ein ziemlich kompliziertes Lügengebäude.«
Es ist mehr als schräg. Es ist ein Verrat, den Brittany schier nicht begreifen kann, und sie ist plötzlich so wütend, so verdammt zornig.
»Wie hast du es rausgefunden?«, fragt sie.
Chloe zuckt nur mit den Achseln. »Irgendwie fand ich ihre ganzen Vibes nicht ganz stimmig. Also habe ich ein bisschen recherchiert. Ich habe das alles in ein paar Minuten gefunden.«
Natürlich. Natürlich, alle Antworten waren da, doch Brittany war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, sie in die Suchmaschine einzugeben. Sie hatte Amma geglaubt, als die gesagt hatte, sie wäre nicht auf Social Media aktiv, nach dem, was ihrem Freund zugestoßen war, hätte sie ihre Internetpräsenz so weit wie möglich runtergefahren. Und Brittany hatte ihr vertraut.
Sie hatte ihr, verdammt noch mal, vertraut.
»Die Frage ist wohl«, fährt Chloe fort, »was wir jetzt damit machen?«
Darauf weiß Brittany keine Antwort. Amma konfrontieren? Ihr zeigen, was sie erfahren hat?
Sie sieht es schon vor sich. Guten Morgen, Amelia-Marie , würde sie verächtlich sagen.
Doch das reicht nicht. Es würde sie schockieren, vielleicht aufregen.
Aber es würde ihr nicht wehtun.
Brittany schüttelt den Kopf. »Ich muss darüber nachdenken«, antwortet sie schließlich.
»Natürlich«, sagt Chloe und wirft ihr Feuerzeug in ihre Tasche. Dabei blitzt etwas golden auf, und Brittany erhascht einen Blick auf ein Uhrenarmband, das darin liegt. Es kommt ihr bekannt vor – aber ehrlich, sie hat in letzter Zeit so viele verdammte Uhren, Ketten und Ringe gesehen, dass sie sich nicht sicher sein kann.
***
Als sie am nächsten Morgen aufwachen, ist Chloe nicht da.
Lange Zeit weigert sich Brittany zu glauben, dass sie für immer fort ist.
»Sie holt nur Kaffee«, sagt sie zu Amma. »Sie kommt wieder.«
Doch der Tag schleppt sich dahin, die beiden sitzen auf ihren Stockbetten, spielen auf dem Telefon, und Chloes Bett bleibt leer.
Sie hat keine Notiz hinterlassen, keine SMS . Chloe hat gar nichts hinterlassen, als wäre sie einfach in die Nacht verschwunden.
Als hätte sie vielleicht sogar gar nicht existiert.
Amma würde das gefallen , sagt Brittany sich, deren Gedanken immer düsterer werden, je länger Chloe fort ist.
Chloe war in all dem ihre echte Freundin. Chloe, die echt lustig war und die dafür gesorgt hat, dass sie weitergereist und nicht nach Hause zurückgekehrt sind, wo alles trostlos und traurig gewesen wäre.
Chloe, die Brittany geholfen hat, wirklich im Danach anzukommen.
Chloe, die wirklich ehrlich zu ihr war, im Gegensatz zu Amma, die sie immer und immer wieder angelogen hat.
Am dritten Tag, als Chloe fort ist, setzt sich Amma in ihrem Stockbett auf. Sie hat tiefe Augenringe, und die Haare hängen ihr wirr ums Gesicht. So derangiert hat Brittany sie noch nie gesehen, und das erfüllt sie mit kleinlicher Schadenfreude.
»Schau«, sagt Amma mit einem Seufzer, »ich glaube, sie hat sich einfach verpisst. Ich meine, sie stammt von hier, oder? Vielleicht ist sie nach Hause. Zurück nach Sydney oder wohin auch immer.«
Brittany möchte widersprechen, dass Chloe sie beide nicht einfach sitzen lassen würde, ohne sich zu verabschieden, doch sie nickt. »Vielleicht.«
»Und wenn ich ganz ehrlich bin, wäre ich auch bereit, nach Hause zu fahren.« Amma schenkt ihr ein winziges Lächeln. »Oder sagen wir mal, mein Konto wäre bereit, mich nach Hause zu schicken.«
Außer dass du reich bist , denkt Brittany. Außer dass auf dich, wenn du nach Hause kommst, Menschen warten. Du hast noch eine Familie. Und Sterling mag ja im Gefängnis sitzen, aber eines Tages kommt er wieder raus .
Das ist der Teil, der Brittany am meisten zu schaffen macht. Monatelang haben sie gemeinsam getrauert, sich gegenseitig Halt gegeben, einander verstanden, und das war alles nur vorgetäuscht? Amma hatte zu Hause Menschen, zu denen sie gehörte. Amma hatte Schwestern, eine Mutter, einen Vater. Das Schlimmste, was ihr zugestoßen war, war, dass ihr Freund im Gefängnis saß.
Und sie hatte Brittany vorgegaukelt, sie wären gleich. Jetzt versteht Brittany auch ihre Ungeduld. Ihre kaum verhohlene Wut, wenn Brittany ganze Nächte durchheulte.
Darüber nachzudenken tut so weh, dass Brittany für einen Augenblick das Gefühl hat, keine Luft mehr zu bekommen.
Amma war nie wirklich ihre Freundin.
Doch Chloe war ihre Freundin gewesen, und jetzt war sie weg.
»Gut«, sagt Brittany, steigt von ihrem Stockbett hinunter und zieht ihre Tasche zu sich. »Wir können nach Hause fahren.«
»Wir hatten doch eine schöne Zeit, oder?«, fragt Amma.
»Ja, die hatten wir«, antwortet Brittany und ignoriert die Enge in ihrer Kehle, während sie in ihrer Tasche nach sauberen Klamotten kramt. Wenn sie ein Ticket nach Hause kauft, ist sie pleite, aber sie hat noch die aufgerollten Geldscheine, die Chloe ihr neulich nachts gegeben hat, und vielleicht kann sie die am Flughafen gegen US -Dollar tauschen.
Ihre Hand streift über etwas, und sie runzelt die Stirn und späht in ihre Tasche.
Ein Telefon.
Doch es ist nicht ihres. Das steckt noch in der Steckdose neben ihrem Bett. Dieses Telefon ist neu, und sie fragt sich, ob sie es aus Versehen mitgegriffen hat, oder ob es irgendwie in ihre Tasche gefallen ist.
Sie dreht es um und entdeckt auf dem Display eine SMS .
Überraschung, meine Schöne!
Chloe.
Amma weiterhin den Rücken zugekehrt, betrachtet Brittany das Handy und liest die vielen SMS , die Chloe geschickt hat, während sich in ihrem Herzen etwas Freudiges und Düsteres entfaltet.
Chloe hat sie nicht einfach bei Amma zurückgelassen.
Was meinst du, Liebes? , lautet Chloes letzte SMS . Treffen wir uns im Pazifik? :-)
Ihre Abenteuer sind noch nicht zu Ende – sie fangen gerade erst an.
Brittany lässt das Telefon in die Tasche plumpsen und dreht sich mit einem Lächeln zu Amma um. »Was hältst du von einem letzten kurzen Abstecher, bevor wir nach Hause fliegen?«