Jetzt

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Entsetzt stolpere ich vom Strand weg. Der Kampf letzte Nacht erscheint mir jetzt wie im Nebel, wie etwas, was jemand anderem zugestoßen ist. Das Geschrei, das Über-Bord-Fallen, das Salzwasser in meinem Mund … es könnte ein Traum gewesen sein, wenn da nicht Ammas Leiche wäre, die es verdammt real macht.

Ich weiß nicht, wohin ich gehe, als ich den Strand hochtaumle. Der Dschungelpfad, den wir freigeschlagen haben, ist mehrere Meter links von mir, hier ist die Vegetation fast undurchdringlich, doch ich werfe mich trotzdem dagegen wie ein kleines Kind, das nach einem Versteck sucht, nachdem es etwas Unartiges getan hat.

Ich trage keine Schuhe, und die Lianen schneiden mir in die Fußsohlen, als ich versuche, mich hindurchzuzwängen. Der Schweiß läuft mir aus allen Poren, gleichzeitig klappere ich mit den Zähnen.

Ein Dorn bohrt sich mir in den Handteller, und der Schmerz ist so stechend und überwältigend, dass mir die Tränen in die Augen schießen. Aber habe ich den Schmerz nicht verdient? Hatte Amma nicht Schmerzen gehabt, als ihr bewusst wurde, dass sie keine Luft bekam, dass ihre Lunge nach Luft schrie?

Blut verschmiert die Ranken, während ich mich tiefer in den Dschungel vorkämpfe.

Es ist dunkler hier, und ich bewege mich immer weiter, weiter, weiter von Amma weg, weiter weg von dem Moment, in dem die anderen herausfinden, was ich getan habe, weiter weg von allem.

Hier fällt jetzt Licht gespenstisch durch die Bäume und wirft lange, seltsame Schatten. Ich halte meine brennende Hand und wickele sie in den Saum meines T-Shirts, während ich mich umsehe und versuche, mich zu orientieren.

Amma hatte gesagt, die Susannah läge auf der anderen Seite der Insel. Quer durch den Dschungel sind das nur gut drei Kilometer, und das schaffe ich leicht. Wenn ich aufs Boot gelangen kann, selbst wenn Nico nicht dort ist, dann habe ich wenigstens eine Möglichkeit, von hier wegzukommen. Ich könnte auf das Schiff mit den Funkgeräten warten, aber wie will ich den Leuten erklären, dass zwei Tote auf der Insel liegen und sonst nur ich hier bin, ganz allein?

Im Innern der Insel ist die Hitze immer besonders intensiv, denn dort kommt die Brise vom Meer nicht hin. Die Lianen, die sich über den Boden schlängeln, sind faserig und rau, das ist, als wollte man über Schleifpapier gehen, und es dauert nicht lange, da fangen meine Füße an zu bluten. Meine Hand pocht, und ich nehme tiefe Atemzüge durch die Nase und versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf den Schmerz und die Angst.

Es kommt mir vor, als würde ich Ewigkeiten gehen, doch als ich über die Schulter blicke, kann ich immer noch die Stelle sehen, wo ich in den Dschungel eingedrungen bin, dort sind die Äste geknickt und verbogen. Ich kann sogar ein bisschen weißen Sand und blauen Himmel erkennen.

Geh zum Boot, geh zum Boot , sagt mir mein Verstand immer wieder. Ich muss von der Insel weg. Irgendwas stimmt mit Meroe ganz und gar nicht.

Trotzdem: Ammas Worte gestern Abend – das Boot ist auf der anderen Seite der Insel, doch Nico ist nicht da – rasten am Rand meines Bewusstseins ein. Wo zum Henker ist Nico abgeblieben?

Ich bleibe abrupt stehen. Der Dschungel ist seltsam still: Die Rufe der Vögel sind verstummt, der Wind fegt nicht mehr durch die Bäume, und ein anderes Geräusch dringt in mein Bewusstsein, ein tiefes Brummen.

Sobald ich das Geräusch wahrnehme, drängt sich mir noch etwas anderes auf – ein Geruch, knapp unter dem Geruch nach Salzwasser und Erde. Etwas Dunkleres, Süßeres, Krankeres.

Fäulnis. Verwesung.

Amma liegt am Strand, ihre Haut ist schon grünlich, ihre Züge verzerrt …

Aber nein, sie ist zu weit weg. Es ist nicht ihre Leiche, die ich rieche. Es ist etwas anderes, etwas, was näher ist.

Unter einem ausholenden Farn eine Schuhsohle.

Eine Teva-Sandale.

Selbst in der drückenden Hitze wird mein Körper eiskalt, als ich auf Nico zugehe.

Er liegt bäuchlings da, und dafür bin ich dankbar.

Ich bin zu benommen, um zu schreien, als ich auf den toten Nico starre und auf die dichte schwarze Wolke von Fliegen, die um seinen Kopf schwirren. Sein Haar ist dunkel und verklebt, mit Blut verfilzt, und ich kann nicht genauer hinsehen, um zu schauen, was ihm zugestoßen ist. Mir ist so kalt, und ich zittere dermaßen, dass es wehtut, und meine Gedanken rasen, denn sie versuchen das, was ich vor Augen habe, zu verstehen.

Er ist gestürzt. Er hat sich den Kopf angeschlagen und ist hier gestorben. Wie Robbie. Er ist gestürzt, und es war ein Unfall. Ein schrecklicher Unfall.

Außer.

Ein paar Schritte weiter liegt eine Machete, zweifellos dort hingeworfen, sobald sie ihr Werk vollendet hatte.

Ich erkenne das blaue Klebeband am Griff – ich erinnere mich, dass ich es in Jakes Händen gesehen habe, als er einen Pfad durch den Dschungel schlug – an dem Tag, der mir vorkommt, als wäre er Jahre oder ein ganzes Leben her.

Es ist Jakes Machete, und Nico wurde damit getötet.

Er hatte sie auch an dem Abend der Party am Strand dabei. Ich hatte gesehen, wie er damit Äste für das Lagerfeuer zerkleinert hatte.

Was war passiert? Hatten sie sich gestritten? Hatte Nico Jake wegen der Sache mit mir konfrontiert? Oder war es um etwas anderes gegangen?

Alles, was es bräuchte, wäre ein fester Hieb, und es wäre vorbei. Nico hätte es niemals kommen sehen.

Wie so vieles in Nicos Leben hätte selbst sein Tod ihn überrascht.

Ich hebe die Machete auf.

Auch an der Klinge sind Fliegen, und Nicos Blut klebt daran. Ich wappne mich und wische sie an einem Baum in der Nähe ab, um sie so gut, wie ich kann, zu reinigen. Mag sein, dass sie Nico getötet hat, doch mich wird sie retten.