28

Ich muss schneller gehen.

Du bist eine Kämpfernatur, Lux , hatte Brittany nach dem Sturm auf dem Boot gesagt, und ich hoffe inständig, dass sie recht hat.

Ich weiß, dass ich tougher bin, als ich mir früher zugestanden habe. Ich habe Robbie mit dem Messer bedroht, und wenn es um Leben oder Tod gegangen wäre, weiß ich, dass ich ihn getötet hätte.

Aber damals wollte ich das nicht, und ich will es auch jetzt nicht. Ich will auf die Susannah und dann von hier verschwinden.

Ich will vergessen, dass Meroe Island je existiert hat.

Ich bin in Schweiß gebadet, der mir in den Augen brennt und in den kleinen Schnitten und Kratzern an meinen Armen, meinen Schienbeinen, meinen Händen beißt. Aber ich gehe weiter, und während ich gehe, denke ich wieder an die Matrosen, die dem Tod und der Verwesung anheimgegeben waren, wo sie doch eigentlich in einem Garten Eden hätten sein sollen.

Ich denke an den Schädel, den wir gefunden haben, und frage mich, wo er herkam. Wem er gehörte.

Je weiter ich gehe, desto heißer wird mir, mein Kopf schwimmt. Ich habe seit Ewigkeiten kein Wasser getrunken, und es kommt mir vor, als würde mein Körper sehr viel Flüssigkeit verlieren. Mein Magen krampft, mein Hirn ist vernebelt, und ich bilde mir ein, hinter mir Schritte zu hören.

Ich schieße mit erhobener Machete herum, doch da ist nichts – nur Blätter, Bäume, Dschungel.

Robbies Behauptung, hier draußen würde jemand leben, pocht durch meinen Kopf.

Dabei hatte er doch nur seine Spielchen mit mir gespielt. Hier ist sonst niemand, und das ist fast noch beängstigender. Kein Fremder hat Nico getötet, den schwarzen Mann, der sich im Dschungel versteckt, gibt es nicht: Es muss entweder Jake, Brittany oder Eliza gewesen sein.

Es war einer der Menschen, denen ich vertraut habe – einer der Menschen, die ich Freunde genannt habe.

Fast alles andere wäre leichter zu glauben, aber diesen Luxus habe ich nicht mehr. Ich kann die Augen nicht vor dem verschließen, was um mich herum geschieht, und ich kämpfe mich weiter und denke: Lass mich nur zur anderen Seite kommen, lass mich nur die Susannah finden  …

Und dann lichtet sich der Dschungel wie aus heiterem Himmel.

Die Sonne spiegelt sich auf dem Wasser, und ich glaube, den hohen Mast der Susannah zu sehen.

Ich breche durch das Laub und stolpere auf den Strand, und ja, da ist sie. Nicos Boot.

Mein Boot.

Und am Strand, zwischen meiner Rettung und mir, stehen Eliza und Brittany.

Sie wirken nicht überrascht, mich zu sehen, selbst als ich die Machete hebe, obwohl meine Armmuskeln schmerzen.

»Lux, stopp!«, brüllt Brittany, und auf der Waffe, die Eliza auf mich richtet, schimmert Sonnenlicht.

»Brittany hat recht, Lux«, sagt sie ruhig. »All das ist nicht nötig.«

»Nicht nötig?«, bringe ich heraus und muss beinahe lachen. »Einer von euch Arschlöchern hat Nico umgebracht.« Meine Stimme steigt zu einem Schreien an. »Ich weiß, dass es einer von euch war!«

»Und du hast Amma umgebracht, aber wir machen kein großes Theater darum«, versetzt Eliza mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ich lasse die Machete sinken und schüttele den Kopf. »Das habe ich nicht. Es war … sie hat mich unter Wasser gedrückt, sie hat versucht, mich zu ertränken … es war Notwehr. Ein Unfall.«

Die Sonne tanzt auf dem Wasser, und es kommt mir so nah vor und gleichzeitig so weit weg.

Freiheit. Entkommen.

»Es spielt eh keine Rolle«, sagt Eliza, die die Arme ruhig hält. »Wir wollten mit dir reden. Dir alles erklären.«

»Dann richte keine Waffe auf mich.«

»In Ordnung.«

Sie lässt sie sinken, und für den Bruchteil einer Sekunde überlege ich, mich auf sie zu stürzen. Doch sie sind zu zweit, und ich bin allein. Abgesehen davon möchte ich hören, was sie zu sagen haben. Irgendwie muss ich das alles verstehen.

Trotzdem löse ich die Hände nicht vom Griff der Machete.

»Nichts von all dem hätte passieren sollen«, sagt Eliza. »Wir wollten nur eine schöne Zeit haben.« Sie schenkt mir ihr gewinnendes Lächeln. »Ein Abenteuer erleben.«

»Amma und ich haben sie am Anfang unserer Reise kennengelernt«, fügt Brittany hinzu. »Chloe. Also, Eliza. Aber als ich sie kennenlernte, war ihr Name Chloe.«

»Brittany und ich haben uns von Anfang an gut verstanden«, fährt Eliza fort, »und wir hatten eine ähnliche … sagen wir mal Lebensphilosophie

»Lebensphilosophie?«, wiederhole ich, und das Wort klingt schwer in meinem Mund.

»Die Welt nimmt uns vieles, nicht wahr? Frauen wie uns. Frauen, denen nichts auf dem Silbertablett serviert wird. Frauen, die nicht jede Menge Optionen haben. Also müssen wir uns manchmal etwas zurückholen. Müssen uns unsere eigenen Möglichkeiten schaffen.«

Ihr Blick fokussiert sich ganz auf mich. »Ich glaube, das verstehst du, nicht wahr, Lux?«

Ich antworte nicht, mein Herzschlag und die Brandung dröhnen laut in meinen Ohren.

»Eines Nachts in Rom habe ich einem dieser amerikanischen Arschlöcher die Brieftasche geklaut. Sie haben es nicht mal gemerkt, und mit dem Geld konnten wir uns noch ein bisschen länger amüsieren, nichts passiert, alles gut. Es war … befriedigend, schätze ich. Und dann wurde es ein bisschen mehr. Mehr Brieftaschen, ein paar Uhren, einmal ein Ausweis, bloß um einem Typ das Leben sauer zu machen. Dann sind wir nach Australien geflogen.«

Ihr Akzent kommt wieder durch, jetzt klingt sie wie Jake. »Da habe ich Jake wiedergetroffen, und …« Sie hebt wieder die Waffe, doch sie löst den Blick kurz von mir und sieht in den Himmel. »Zehn Jahre hat meine Mutter wegen des Vaters von diesem Arschloch im Gefängnis gesessen«, sagt sie. »Zehn Jahre … weil der Typ, den sie liebte – der Typ, für den sie ganz zufällig auch arbeitete –, sie bat, eine Tasche voller Drogen zu transportieren, und sie es tat, weil sie ihm vertraute. Weißt du, wo Jakes Vater in diesen zehn Jahren war?«

Ich schüttele den Kopf, obwohl sie keine Antwort erwartet.

»In seiner Villa in Sydney«, sagt sie.

»Sterling Northcutt hat nicht mal zehn Jahre bekommen«, sagt Brittany mit zitterndem Kinn. »Der Typ, der meine Familie auf dem Gewissen hat. Ammas Freund. Keine Vorstrafen, aus gutem Hause, so ist das verdammte Rechtsempfinden in Florida. Er hat fünf bekommen, und nach dreien kommt er wieder raus. Das ist nächstes Jahr, verdammt, Lux. Und wo geht er dann hin? Zurück in seine Villa in Connecticut. Zurück zu Amma. Würde er jedenfalls, wenn sie nicht …«

Sie beendet den Satz nicht, und ich sehe, dass sie schluckt, aber ich weiß nicht, ob sie betroffen ist von Ammas Tod oder nur wütend. Ich erinnere mich jetzt: der Streit auf dem Boot letzte Nacht, Brittany hat Amma angeschrien, es ging um ihren Freund. Ihren Freund, der gar nicht tot war.

»Sie hat mich angelogen«, fährt Brittany fort. »Sie hat sich aus irgendwelchen kranken Gründen an mich rangemacht und mit mir angefreundet.«

»Großer Gott«, murmele ich und versuche, das alles zu verstehen, und plötzlich wird mir klar, dass ich diese Leute nie wirklich verstanden habe, weil ich keine Ahnung hatte, welche dunklen Ströme unter ihrer glänzenden Oberfläche lagen.

Da sieht Eliza mich an. »Und weißt du, wohin Nico gegangen wäre, wenn er es satt gewesen wäre, den Skipper zu spielen? Zurück in den Schoß seiner Familie in seine – du ahnst es schon – Villa.« Sie schüttelt den Kopf. »Und das soll fair sein?«

»Also hat Chloe einen Plan ausgeheckt«, meldet Brittany sich zu Wort. »Sie hat gesagt, dass sie mit einem reichen Arschloch, das sie von früher kannte, zu dieser verlassenen Insel segeln würde. Und ich sollte mich mit Amma dort mit ihr treffen.«

Sie schenkt mir das süße Lächeln, das ich an dem Abend, an dem wir uns auf Maui kennenlernten, so warm und freundlich fand.

»Wie, ihr habt sie hergebracht, um sie umzubringen?«

»Sag das nicht so«, beharrt Brittany. »Als hätten wir einen Mord geplant. Als wollten wir Leute nur zum Spaß kaltmachen. Amma hat etwas Grausames getan. Etwas Schräges. Jakes Familie hat Elizas Leben zerstört. Wenn wir sie töten würden, wäre das kein Mord.«

»Hier draußen passiert schnell mal ein Unfall«, fügt Eliza hinzu. »Jeden Tag gibt es tausend Möglichkeiten zu sterben. Trink zu viel Alkohol, und du kannst ertrinken. Iss das Falsche, und du vergiftest dich. Nimm im Dschungel den falschen Pfad – also, wer weiß, in was für einen Schlamassel du dann gerätst. Was für eine Schande, was für eine schreckliche Tragödie, die zwei hier draußen zu verlieren, aber hey, dumm gelaufen.«

»Und dann hättet ihr das Boot«, sage ich und überlege. »Jakes Boot. Jakes Geld. Ihr beiden.«

Sie nickt, und ich begreife allmählich, dass das alles tatsächlich irgendwie auf schreckliche, fürchterliche Art und Weise Sinn ergibt. Außer …

»Warum habt ihr Nico und mich mit reingezogen?«

»Brittany musste ja irgendwie mit Amma hier raus kommen«, antwortet Eliza mit einem Achselzucken. »Ganz einfach. Es hätte auch nicht geschadet, einen Zeugen zu haben, der unsere Version der Ereignisse bestätigt hätte. Brittany wollte einen bärbeißigen Seebären anheuern, aber …«

»Aber Amma wollte Nico«, wirft Brittany ein. »Und er wollte nicht ohne dich.«

Ich bin nicht darauf gefasst, wie sehr das schmerzt.

Ich weiß, dass Nico nicht der Richtige für mich war. Ich weiß, dass er unbeständig war und egoistisch und dass er mir auf jeden Fall das Herz gebrochen hätte. Aber ich hatte ihn geliebt, und er hatte mich geliebt, genug geliebt, um mich auf diesem Abenteuer dabeihaben zu wollen.

»Und als ich dich dann kennengelernt habe«, fährt Brittany fort, »wusste ich es. Ich wusste, dass es Schicksal war und dass du nicht ohne Grund mitgekommen warst. Dass wir alle nach Meroe kamen, um Vergeltung zu üben.« Ihr Blick ist weiter fest auf mich gerichtet. »Das haben wir verdient. Und du auch.«

Die Welt fühlt sich an, als würde sie kippen, und ich blinzele. Die Sonne strahlt, der Sand ist heiß unter meinen Füßen und unter meinen Knien, als ich zu Boden sinke.

»Was meinst du damit?«

»Verstehst du das denn nicht?«, sagt sie leise. »Du bist wie wir. Du hast so viel verloren, und du gibst nicht auf, du versuchst immer wieder etwas Neues, etwas Schönes. Nico würde dir das niemals geben. Eliza hat recht, er hätte irgendwann die Nase vollgehabt von der Sache. Ich meine, sieh dir doch an, wie schnell er sich auf Amma eingelassen hat. Weil sie aus derselben Welt stammen. Er hätte jemanden wie sie immer jemandem wie dir vorgezogen. Das war mir schon am ersten Abend klar.« Sie tritt vor, zwischen Eliza und mich. »Deswegen wollte ich, dass du mitkommst. Eliza und ich haben unsere Familien verloren. Du hast deine verloren. Aber wir können eine neue Familie sein. Zusammen. Eliza frei von Jake, ich frei von Amma, du frei von Nico.«

Ihr Blick wandert kurz zu der Machete, die ich immer noch locker in der Hand halte, und als ich zu ihr aufschaue, sehe ich, dass etwas in Brittany zerbrochen ist, vielleicht lange vor Meroe, aber was auch immer es ist, was sie im Griff hat, es ist nicht gesund. Nicht einmal annähernd.

»Du«, sage ich. »Dich habe ich mit Nico gesehen. Du hast …«

»Es war so leicht, ihn dazu zu bringen, mit mir zu gehen«, sagt sie, und ihre großen braunen Augen wirken irgendwie traurig. »Er hat sich nicht mal gewehrt, als ich ihn geküsst habe. Nicht wegen Amma und gewiss nicht deinetwegen. Und du hast etwas Besseres verdient. Ich wusste, dass du niemals frei sein würdest, nicht richtig frei, solange er nicht fort wäre. Für immer.«

Brittany. Die süße, lustige Brittany mit ihrem breiten Lächeln und ihren lässigen Umarmungen, die eine Machete schwingt und sie auf Nicos Hinterkopf niederkrachen lässt.

»Wir haben den Haschisch versetzt«, fährt sie fort, »sodass er ziemlich daneben war. Er hat nicht gelitten, versprochen.«

War das die Wahrheit? Ich würde es nie erfahren. Genauso wenig wie ich je erfahren würde, ob sie Nico für mich umgebracht hatte, oder ob sie es getan hatte, um ihn Amma wegzunehmen – genau wie Amma, in Brittanys Vorstellung, ihr etwas weggenommen hatte.

»Und das Boot?«, frage ich, um die restlichen Lücken zu füllen. »Wie habt ihr …«

»Jake«, wirft Eliza ein.

Jake. Wo ist er jetzt? Ist er da draußen auf der Azure Sky ?

»Simple Geschichte, ehrlich. Ich habe ihm erzählt, Nico hätte mich nach den Drogen gefragt, wie viel wir hätten, was wir damit machen würden. Er wäre ausgeflippt und Brittany gegenüber aggressiv geworden, und sie hätte sich darum gekümmert. Jake hat uns beigepflichtet, dass es leichter wäre, wenn du denken würdest, Nico hätte sich einfach aus dem Staub gemacht, als dir die Wahrheit zu sagen, und da hat er die Susannah für uns weggebracht.«

Es ist schier nicht zu glauben, wie oft diese Leute mich angelogen haben, wie viele Geheimnisse sie die ganze Zeit hatten. Ich hatte nichts davon mitbekommen. Ich beuge mich vor und würge trocken in den Sand, mein Magen krampft.

Eliza tritt, die Waffe noch in den Händen, vor und sieht mich aufmerksam an. »Ich weiß, dass das jetzt hart ist«, sagt sie, »aber Brittany hat recht. Du musstest dich von ihm befreien, bevor er dich runterziehen konnte.«

Ich schüttele den Kopf, meine Gedanken drehen sich im Kreis. »Ich habe keinen Bock, bei eurem Spiel mitzuspielen.«

»Aber das tust du«, beharrt sie. »Ich sehe dich, Lux. Ich sehe eine Frau, die wortwörtlich den Dreck anderer Leute aufgewischt hat, damit ihr reicher Freund den Skipper spielen konnte. Eine Frau, deren Vater sie nicht nur einmal im Stich gelassen hat, sondern zweimal. Ich sehe eine Frau, die es verdient, glücklich zu sein, frei zu sein in dieser Welt. Die Welt hat Brittany ihre Familie genommen. Sie hat dir deine genommen. Sie hat mir meine genommen. Also sage ich es noch einmal: Wir haben es verdient, sie uns zurückzuholen.«

Es kracht, und plötzlich tritt Jake aus den Bäumen, und danach geht alles unglaublich schnell.

Eliza schwingt den Arm in seine Richtung, Brittany stürzt auf ihn zu, und dann fällt ein Schuss, so laut, dass ich schreie und mir die Hände auf die Ohren schlage, während ich auf Jake starre und darauf warte, dass er im Sand zusammenbricht.

Doch es ist Brittany, die fällt.