Kapitel 4

»Jetzt setz dich mal hin, Mädchen. Seit Tagen jagst du hier herum wie so ein schwarzer Brummer.«

»Aha, und Sie wollen jetzt wohl den Fliegenfänger spielen, wie? Aber ich sage Ihnen gleich, ich lasse mich nicht von Ihnen mit einer Diskussion über mein zukünftiges Leben einfangen. Meine Zukunft liegt allein in meiner Hand, Mrs. Arkwright.«

»Und in der Hand Gottes ...«

»Oh, das weiß ich nicht. Wenn ich so zurückblicke, da bin ich mir gar nicht so sicher, ob Er meine Existenz überhaupt zur Kenntnis genommen hat – und ich die Seine. Hören Sie, meine Teuerste, es ist zwei Uhr, und Sie haben noch keinen Mittagsschlaf gehalten; und ich muß mich ums Geschäft kümmern.«

»Das weiß ich doch, Emily. Darüber wollte ich mit dir ja gerade sprechen.«

Ihr veränderter Tonfall ließ Emily aufhorchen. »Mit dem Geschäft ist alles in Ordnung. Machen Sie sich Gedanken darüber, was sie in den Zeitungen schreiben? Daß die wirtschaftliche Lage so schlecht ist und wir bald irische Verhältnisse haben werden? Immerhin verkaufen wir noch Hüte.«

»Das stimmt. Aber nicht mehr so viele, und vor allem mit weniger Garnitur. Je einfacher, desto billiger, scheint die Devise zu sein.« Und mehr zu sich selbst fügte sie hinzu: »Erstaunlich, wie sich Dinge in nur einem Jahr verändern können.«

»Sie sind nicht die einzige, die so denkt. Das ganze Land ist verunsichert angesichts der Veränderungen in letzter Zeit. Mr. Disraeli kommt und geht. Heute lehnen sie ihn ab und setzen die Liberalen ein, und morgen sind die wieder draußen, und er kommt zurück. Und beide macht man für die schlechten Erträge verantwortlich. Ja, dafür schiebt man allen außer Gott, Irland und Palmerston die Schuld in die Schuhe ... oh, dieser Palmerston!«

»Ich wundere mich, daß du noch die Zeit findest, Zeitung zu lesen.«

»Das kann ich auch nur, wenn Sie ruhen. Das heißt, wenn Sie richtig schlafen.«

»Bald werde ich sehr lange schlafen, meine Liebe!«

Diese Worte und die Art, wie sie ausgesprochen wurden, ließen Emily augenblicklich verstummen. Sie sah ihre gute Freundin an, die auf einem Berg von Kissen ruhte, und war im nächsten Augenblick an ihrer Seite. Sie nahm Mabels Hand. »Bitte, reden Sie nicht so«, sagte sie leise. »Das tut mir weh. Wenn Sie den Anweisungen des Doktors folgen und Diät halten würden, wären Sie schon bald wieder auf den Beinen.«

»Papperlapapp! Du weißt so gut wie er, daß das alles nur eine Frage der Zeit ist. Komm, nimm dir einen Stuhl und setz dich zu mir. Ich habe dir etwas zu sagen – etwas Neues, etwas, das du noch nicht von mir gehört hast.«

»Das wäre eine nette Abwechslung.«

Nachdem Emily sich einen Stuhl herangezogen hatte, nahm Mrs. Arkwright wieder Emilys Hand. »Hör mir gut zu«, sagte sie, »und vor allem, unterbrich mich nicht. Kein ›Ach was!‹ oder ähnliches. Nun ... ich weiß, daß du mich vermissen wirst, wenn ich einmal nicht mehr bin.« Der Druck auf Emilys Hand wurde für einen Augenblick stärker. »Und dein Leben wird sich von Grund auf ändern. Freilich, du wirst weiterhin das Geschäft führen, aber ich werde eine Lücke hinterlassen. Und da du meinen Vorschlag, was deine Zukunft mit einer gewissen Person betrifft, aus tiefster Seele abzulehnen scheinst, wirst du ganz auf dich allein gestellt sein. Und bei deiner Position und deinem Aussehen werden die Männer dich jagen wie Freiwild. Nun gut. Aber was ich mich frage, ist, warum ich seit drei Nächten immer von Nizza träume? Ich sehe uns in der Kutsche den Strand entlang zum Hotel fahren. Eigentlich war es eher ein großes Landhaus. Und in meinem Traum sah dieses Hotel genauso aus wie damals: die breite, weiße Treppe, die zu der langgezogenen Veranda führte; die weiß lackierten Fensterläden, die teilweise von den Ranken des wilden Weins überwuchert wurden, der an der Hauswand wuchs; und die Gärten, die sich bis hinunter zum Strand erstreckten, an dem sich die Wellen mit weißen Schaumkronen brachen. Alles schien weiß oder grün zu sein; und das Meer war grün. Nun«, unterbrach sie sich und wandte Emily das Gesicht zu. »Alles war so real, wie ich es damals erlebt habe. Nur eines ist seltsam: Obwohl diese vier Wochen dort die glücklichsten meines Lebens waren und ich seither unzählige Male daran gedacht habe, habe ich doch noch nie davon geträumt. In der ersten Nacht bin ich nach diesem Traum aufgewacht, recht aufgeregt, muß ich zugeben, aber ich habe mich gleichzeitig gewundert, warum ich Oscar nicht gesehen habe, oder Miß May und den Major. Komisch, ich habe nur das Haus, den Garten und das Meer gesehen. In der zweiten Nacht dann habe ich Leute gesehen, die dort herumgingen, immer paarweise. Und gestern war mein Traum dann sehr lebendig. Zuerst schien die Sonne so grell, daß ich gar nichts sehen konnte; ich wußte nur, daß das Haus da war, und der Garten und das Meer. Dann verschwand die Sonne, und ich konnte das Haus genau erkennen. Aber diesmal sah es anders aus: die Fensterläden waren nicht mehr weiß, sondern grün, ebenso wie die Veranda. Nur die Treppe war noch weiß. Zum ersten Mal betrat ich nun das Haus und spürte, wie mich ein Frösteln überkam. Und dann«, jetzt lächelte sie, »sah ich Oscar. Er sah genauso aus wie damals. Er kam auf mich zugelaufen und hat mich in die Arme geschlossen, aber dann hat er sich umgeschaut und gefragt: ›Wo ist Emily?‹ Und weißt du, was ich geantwortet habe? »Sie kommt mit dem nächsten Boot‹, habe ich gesagt, »Sie wird morgen hier sein.‹ Dann bin ich aufgewacht.«

Sie sahen sich eine Weile schweigend an, bis Mrs. Arkwright sagte: »Nun, was hältst du davon?«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich finde es nur wirklich recht seltsam, daß Sie nach so vielen Jahren von diesem Ort träumen.«

»Ja, das habe ich mir auch gedacht. Und mir kommt es vor, als wolle dieser Traum mir etwas sagen. Heute morgen lag ich eine ganze Weile lang wach und habe nachgedacht. Und jetzt möchte ich dich um etwas bitten, etwas, das du für mich tun kannst; etwas, das dir nicht weh tut und dich auch sonst nicht aus der Bahn wirft. Also, wenn die Zeit gekommen ist und du allein bist, würdest du dann vielleicht Ferien machen wollen? Ich habe das starke Gefühl, daß du diesen Ort aufsuchen solltest. Oh, oh«, machte sie und erhob den Zeigefinger. »Komm mir nicht damit, daß du nicht allein reisen könntest. Heutzutage reisen Frauen allein in der ganzen Welt herum: nach Afrika, Indien, sogar nach Timbuktu.«

»Ich wollte nichts dergleichen sagen. Fahre ich denn nicht alleine in ganz London herum?«

»Das ist nicht dasselbe, meine Liebe, sobald du den Kanal überquert hast, ist alles anders. Aber dennoch, du weißt, eine junge Dame reist nie ohne Begleitung, männlich oder weiblich.«

»Nun, eine Dame bin ich nicht, oder?«

»Ich weiß, was du meinst. Aber fang nicht damit an, mir das Wort im Mund herumzudrehen. Wie ist es, wirst du tun, worum ich dich gebeten habe?«

»Ja, meine liebe Mabel. Irgendwann einmal werde ich das tun, denn dieser Ort interessiert mich, wenn ich ehrlich bin, schon seit Sie mir das erste Mal davon erzählt haben.«

»Gut, aber du wirst doch als Frau reisen und nicht als Fräulein, nicht wahr?«

»Aha, das also auch noch.« Emily zog ein Gesicht. »Sie glauben, dann sind die Männer nicht wie die Geier hinter mir her?«

»Na, von einem Fräulein erwarten sie jedenfalls neben Geld und gutem Aussehen auch noch Jungfräulichkeit.«

Als Emily von ihrem Stuhl hochschoß und entrüstet »Oh, Sie sind eine schreckliche Person!« ausrief, winkte Mrs. Arkwright nur ab: »Nun spiel nur nicht die Schockierte.«

»Ich spiele nicht, ich bin schockiert.«

»Aber natürlich. Genauso schockiert, wie Steve Montane reagieren würde, wenn ich so was zu ihm gesagt hätte.«

»Woher kennen Sie denn seinen Vornamen?«

»Er hat ihn mir freiwillig genannt, stell dir vor. Und ich finde, er paßt zu ihm. Und ich sage dir noch etwas, meine Teuerste: Bis vor kurzem habe ich mir gewünscht, noch einmal jung zu sein, weil er der einzige Mann ist, der Oscars Platz einnehmen könnte. So, darüber kannst du jetzt einmal in aller Ruhe nachdenken. Da hast du was zu knabbern.«

»Ja, in der Tat.«

»Ach, übrigens, wenn ich schon auf das verzichten muß, was mir meiner Meinung nach guttäte, wäre es dann wenigstens möglich, eine Tasse Tee zu bekommen?«

Auf dem Weg nach draußen warf Emily kurz über die Schulter zurück: »Ich werde mich darum kümmern, falls ich Zeit habe.«

Esther kam gerade die Treppe herunter, und als sie Emily sah, nahm sie die letzten vier Stufen auf einmal. »Hätten Sie vielleicht eine Minute Zeit, Miß?« rief sie ihr leise entgegen. »Da oben ist eine neue Kundin. Die, die Mrs. Darcy empfohlen hat, Sie wissen schon. Aber sie hat ihr anscheinend die Regeln nicht erklärt. Bei uns wird nicht gehandelt. Dieses Kleid würde sie woanders nicht für diesen Preis bekommen. Und jetzt beschwert sie sich, daß es nur einen Überrock hat und nicht zwei oder mehr, wie es jetzt Mode ist.«

»Ich komme gleich hoch. Will Madam nur noch rasch eine Tasse Tee holen.« Emilys Tonfall veranlaßte Esther zu der besorgten Frage: »Fühlen Sie sich wohl? Sie sehen so müde aus. Demnächst klappen Sie auch noch zusammen, und was wird dann aus uns? Seit Wochen gönnen Sie sich keine Minute Ruhe. Warum engagieren Sie denn keine Pflegerin? Jede Nacht neben Madam auf der Couch zu schlafen, das ist Ihrer Gesundheit gewiß nicht förderlich.«

»Ich fühle mich durchaus wohl, Esther.«

»Nun, dann haben mir meine Augen wohl einen Streich gespielt, denn Sie sehen alles andere als wohl aus. Was Sie brauchen, ist Urlaub. Wirklich, wenn das hier alles vorbei ist, dann müssen Sie unbedingt ausspannen. Ich komme hier schon mit allem zurecht, außer mit dieser speziellen Sorte Kundschaft.« Sie deutete nach oben. »Ich hätte mich schon durchgesetzt, aber die Dame bestand vehement darauf, die Besitzerin zu sprechen, oder ... die junge Frau, wie sie sagte, nicht die ›junge Lady‹. Sie ist eine von der Sorte, Sie wissen schon.«

»Ich komme sofort«, sagte Emily und ging in Richtung Küche. Plötzlich jedoch blieb sie stehen und wandte sich noch einmal zu Esther um. »Moment noch. Du gehst jetzt hinauf und sagst dieser Dame, daß die junge Frau unabkömmlich ist und dich beauftragt hat, ihr auszurichten, daß dieses Kleid nicht mehr zum Verkauf steht. Dann verabschiedest du sie mit den Worten ›Guten Tag, Madam‹. Das wirkt, du wirst sehen.«

»Jawohl. Genau das werde ich ihr sagen.«

Emily setzte daraufhin ihren Weg fort, blieb dann aber vor der Küchentür noch einmal stehen und lehnte seufzend den Kopf an den Türrahmen. Urlaub. Ach ja, Urlaub. Im Augenblick wäre sie schon dankbar für einen ruhigen Ort ohne eine Menschenseele weit und breit, wo sie endlich einmal ungestört eine Nacht durchschlafen konnte. Noch nie war sie so müde und erschöpft gewesen, und der nächste, der ihr sagte, sie sehe müde aus und brauche Urlaub, dem würde sie sich an die Brust werfen und losheulen ...

Nun, sie warf sich nicht an dessen Brust, als Steve Montane am nächsten Morgen zur Visite kam und sie unten in der Diele mit den Worten abfing: »Ich sage jetzt etwas, und es ist mir gleichgültig, was Sie über midi denken, aber je früher sie geht, desto besser für sie. Das war der vierte Anfall in sechs Monaten. Ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebt. Aber den nächsten wird sie nicht überstehen, das ist sicher. Und dann klappen Sie uns zusammen. Sie müssen darauf bestehen, daß sie eine Pflegerin einstellt, oder besser noch zwei. Sie hat genug Geld, und es ist reiner Egoismus, wenn sie es nicht tut. O ja, das kenne ich bei alten Leuten. Madam neigt auch dazu, und sie saugt Sie aus. Ja, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie saugt Sie aus, das können Sie nicht abstreiten.« Emily stand da und ermahnte sich immer wieder im Stillen: nicht weinen. Um Gottes willen, bloß nicht weinen! Nicht vor ihm! Außerdem hat er ja recht. Diesmal hat er wirklich recht.

Doch als er dann sagte: »Wissen Sie was? Sie sollten jetzt auf Ihr Zimmer gehen, sich auf Ihr Bett werfen und sich einmal so richtig ausheulen«, da bekam sie einen regelrechten Lachkrampf, der bestimmt in einem hysterischen Anfall geendet hätte, wenn sie sich nicht mit aller Gewalt zusammengenommen hätte.

Und wie sie so dastand, die Hand auf den Mund gepreßt, da warf er ihr ein Lächeln zu und meinte: »Sie lachen, das ist gut so. Lachen Sie, soviel Sie können, aber werden Sie nicht hysterisch dabei.« Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ließ sie mit offenem Mund stehen.

Er hätte sich gewundert, wenn er hätte sehen können, was sie als nächstes tat. Sie ging tatsächlich auf ihr Zimmer, warf sich aber nicht aufs Bett, sondern setzte sich ans Kopfende und vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Warum konnte dieser Mensch nur ihre Gedanken so deutlich lesen, als stünden sie ihr auf der Stirn geschrieben? Vielleicht, weil sie ihn so verabscheute? Andererseits war er, zumindest was seine Arbeit betraf, ein sehr gewissenhafter und zuvorkommender Mann, das mußte sie zugeben. Aber bisher hatte er sie noch bei jeder Unterhaltung ins Unrecht gesetzt; zumindest hatte er bisher nicht den Versuch unternommen, ihre richtige Seite zu entdecken. Aber was machte das schon? Nun, was die Pflegerin betraf, da hatte er recht. Aber wollte sie wirklich, daß sich ein anderer um ihre Freundin kümmerte? Nein, denn sie schuldete ihr so viel; und sie wurde gebraucht. Und dieses Gefühl, gebraucht zu werden, das ließ sich nicht so einfach wegwischen.

Emily setzte sich wieder auf und ließ ihren Blick nachdenklich durch das Zimmer schweifen. Sie hatte schon immer gebraucht werden wollen. Ja, im Leben gebraucht zu werden erschien ihr sogar noch wichtiger, als geliebt zu werden. Denn wenn man gebraucht wird, dann gibt man, wohingegen man nimmt, wenn man geliebt wird. Ließ sich dieses Geben und Nehmen denn nicht verbinden? Ihr Verstand sagte ihr, daß sie damit zuviel verlangte; solche Partnerschaften gab es nur höchst selten. Es gab gewiß nicht viele Mrs. Disraelis oder Queen Victorias... und dennoch ... ja, dennoch ...

Du liebe Güte! Wenn sie jetzt nicht sofort aufstand und ihrer Arbeit nachging, dann würde sie genau das tun, was er ihr prophezeit hatte. Mit einem Satz sprang Emily vom Bett und murmelte auf dem Weg zur Tür: »Dieser Mann!«