Kapitel 6

Später vermochte Emily nie genau zu beschreiben, wie sie sich in den Wochen nach Mrs. Arkwrights Tod gefühlt hatte. In der ganzen Zeit hatte sie einzig und allein das unendliche Bedürfnis gehabt zu schlafen und sich zuweilen gewundert, warum man sie weckte. Daß sie es war, die mit einem Löffel gefüttert wurde, wollte sie um nichts in der Welt wahrhaben. So etwas konnte ihr nicht passieren. Niemals.

Die Zeit ging vorüber, und es folgten lange Wochen, in denen sie nur im Bett lag und das Kommen und Gehen bekannter Gesichter beobachtete. Sie war nie allein, und wenn Esther sie fragte: »Wie geht es Ihnen heute morgen?«, dann formte sich zwar in ihrem Geist die Antwort »Danke, gut, Esther«, aber diese auszusprechen, dazu war sie nicht in der Lage. Der Doktor jedoch fragte sie nie, wie es ihr ginge. Er sprach überhaupt sehr selten mit ihr in diesen Tagen. Wohl aber legte er ihr des öfteren die Hand auf die Stirn und strich ihr übers Haar, was ihr seltsam vorkam. Doch sie wehrte sich nicht dagegen, denn ihr war alles so gleichgültig. Sie registrierte auch die Anwesenheit von zwei Krankenschwestern, eine für den Tag, die andere für die Nacht. Gegen die Nachtschwester hatte sie nichts einzuwenden, denn diese schien ebenfalls gerne zu schlafen, aber die Tagschwester machte sie mit ihrer Hektik nervös. Sie war immer dankbar, wenn sich die junge Alice an ihr Bett setzte und erklärte: »Sie ist beim Kaffeetrinken«, oder »Sie ißt gerade zu Abend«, und dabei ihre Hand nahm und diese sanft streichelte. Manchmal sagte Alice auch so unverständliche Dinge wie: »Kommen Sie, Miß. Na, kommen Sie.« Wohin sollte sie denn bloß kommen?

Und dann kam der Morgen, an dem sie völlig irritiert war. Die Schwester bestand mit Nachdruck darauf, ihr das Gesicht und die Hände zu waschen. Das konnte sie doch nun wirklich allein! Und als die Schwester jovial hinzusetzte: »So, nun müssen wir nur noch die kleinen Füßchen waschen«, da ging plötzlich mit ihr der Gaul durch. Sie konnte dieses fürsorgliche Getue nicht mehr ertragen und schlug nach der Frau. Diese versuchte dem Schlag auszuweichen, und als sie dabei beinahe die Waschschüssel vom Nachttisch gestoßen hätte, rief sie mit einer theatralischen Geste: »Ach, herrjemine! Fein! Fein! Das ist doch schon etwas!«

Emily mochte die Frau nicht. Sie behandelte sie wie ein Kleinkind. Wo war nur Esther? Was war denn hier überhaupt los? O ja, sie wußte, daß sie nicht ganz auf dem Damm war, aber sie war doch nur müde. Und jetzt ging die Schwester endlich hinaus, und Alice kam herein. Sie mochte Alice.

Und wie üblich nahm Alice ihre Hand, streichelte und tätschelte sie, und als sie wieder sagte: »Na, kommen Sie, Miß«, hörte Emily sich sagen: »Wohin denn, Alice? Wohin?«

Oh, sie konnte ihre Gedanken wieder artikulieren! Aber sie hatte Alice erschreckt, denn das Mädchen sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Sie war schon fast an der Tür, als sie wieder kehrtmachte, noch einmal nach ihrer Hand griff und ausrief: »Endlich, Miß! Jetzt werden Sie bald gesund sein.«

»J ... a. Alice. Wie ... wie ... spät ist... es denn?«

»Ach, Miß! Moment -« Alice drehte sich um und sah auf die Kaminuhr. »Zwanzig vor elf, Miß. Zwanzig vor elf. Du meine Güte, ich bin ja so froh! Ich muß es sofort den anderen erzählen. Jetzt werden es doch noch fröhliche Weihnachten werden. Und die Köchin hat heute morgen erst gesagt: ›Hier wird nichts dekoriert, solange es ihr so schlecht geht.‹ Und sie hat Sie damit gemeint, Miß. Und der Doktor wird auch gleich kommen. Mein Gott, wird der sich freuen! Die Köchin sagt, wenn sie so einen Doktor hätte, würde sie sich auch ins Bett legen. Ach, was rede ich da ...? Sie lächeln, Miß. Fühlen Sie sich jetzt wieder besser?«

Emily überlegte sich die Frage genau und antwortete dann: »Ja. Ja, ich fühle mich besser. Nur noch ein bißchen müde.«

»Das sollten Sie nicht. Sie haben wirklich genug geschlafen.«

»Ja ... ja. Ich fühle mich tatsächlich ... ein wenig ... gestärkt.«

Als die Tür aufging und Esther hereinkam, rief ihr Alice aufgeregt entgegen: »Sie hat gesprochen! Esther, sie hat gesprochen.«

»Bist du sicher?«

»Aber natürlich bin ich sicher.«

Esther hielt kurz inne und warf Alice einen strengen Blick zu. »Achte auf deinen Ton«, beschied sie ihr und beugte sich dann über Emily. »Wie geht es Ihnen, meine Liebe?«

»Es geht mir gut, Esther.«

Esther richtete sich wieder auf, sah Alice an und seufzte. »Dem Himmel sei Dank! Ich dachte schon, das würden wir nicht mehr erleben. Geh nach unten und sag der Schwester Bescheid. Ach, nein. Bleib hier, der Doktor muß jeden Augenblick kommen. Und wenn die erst einmal angefangen hat, ihm Bericht zu erstatten, wie sie es nennt, dann kommt der Ärmste überhaupt nicht mehr zu Wort. Horch, hier ist er schon. Geh jetzt wieder hinunter an deine Arbeit. Ich werde mich um den Doktor kümmern.

Alice und Montane begegneten sich im Flur, und als er sie mit »Guten Morgen, Alice« begrüßte, antwortete sie in dem gewohnt unterwürfigen Tonfall: »Guten Morgen, Doktor.«

»Alice sagt, sie hat gesprochen«, sprudelte Esther heraus, als der Doktor das Schlafzimmer betrat.

»Ja? Wann denn?«

»Gerade eben. Sie hat mit ihr geredet, sagt sie.«

»Nun, wenn sie tatsächlich gesprochen hat, Esther«, warf er ein, während er seine Arzttasche abstellte, »dann sollten wir uns nicht über ihren Kopf hinweg unterhalten und auch nicht über sie sprechen, sondern mit ihr.«

»Ja, Doktor. Gewiß, Doktor«, pflichtete Esther ihm hastig bei und überließ ihm den Platz an Emilys Bett.

Er sah Emily direkt in die Augen. »Dann geht es uns also besser, wie?«

»Ja, es geht uns besser.«

Er drehte sich für einen Moment von ihr weg und ließ einen tiefen Seufzer hören. Wieder zu ihr gewandt, meinte er erleichtert: »Das ist gut. Sehr gut. Jetzt sind wir auf einem anderen Weg.«

Erst redete Alice davon, sie solle irgendwohin kommen, und jetzt sprach auch der Doktor von einem Weg. Aber wohin bloß?

»Möchten Sie den Kaffee hier nehmen, Doktor?«

»Ja, danke, Esther. Sehr gern.«

Als sie allein waren, zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu Emily ans Bett. Eine ganze Weile sprach er kein Wort, sondern strich ihr nur sanft übers Haar, und Emily überlegte, daß sie das demnach wohl doch nicht geträumt hatte. »Nur nichts überstürzen«, meinte er dann mit ruhiger Stimme. »Bleiben Sie einfach noch liegen und ruhen Sie sich aus.«

»Bin ich krank gewesen?«

»Ja ... ja, Sie sind krank gewesen.«

»Und was hatte ich?«

»Nun, Sie litten an Erschöpfung. An totaler Erschöpfung, würde ich sogar sagen. Aber dieser Zusammenbruch ist nicht allein das Ergebnis der monatelangen Pflege, die Sie Mrs. Arkwright haben angedeihen lassen, sondern rührt auch von der Überlastung früherer Jahre her. Der Körper vergißt nichts. Irgendwann fordert er seinen Tribut. Nun, Sie müssen jetzt einfach noch ein bißchen Geduld haben; bleiben Sie liegen, lassen Sie sich bedienen und...«

»Waschen auch?«

Seine Mundwinkel kräuselten sich zu einem Lächeln. »Sie nimmt ihre Pflichten wohl sehr genau, wie? Ja, das ist mir auch schon aufgefallen... ach, es ist schön, daß Sie wieder zurückgekehrt sind.«

»Zurückgekehrt? «

»Ja, von Ihrem langen Schlummer.«

»Wie lang?«

»Oh, lassen Sie mich nachdenken. Drei Wochen sind es jetzt.«

»Was!« Erschrocken fuhr Emily in die Höhe, sank dann aber gleich wieder mit schmerzverzerrter Miene in die Kissen zurück und wiederholte, indem sie sich mit der Hand an die Stirn griff: »Drei Wochen? Ich habe ... drei Wochen habe ich so dagelegen?«

»Ja. Und es wird noch einmal drei Wochen dauern, meine Liebe, bis Sie wieder völlig auf den Beinen sind. Ich denke, ich kann Ihnen ruhig sagen, daß Sie sehr schwer krank waren.«

»Von welcher Krankheit sprechen Sie?«

»Nun, anscheinend möchten Sie die Wahrheit hören, und wenn ich Sie mir so ansehe, glaube ich, daß Sie sie auch verkraften können. Also gut, Sie standen kurz vor einem totalen Zusammenbruch.«

»Einem Nervenzusammenbruch?«

»Ja, ganz richtig. Sie waren körperlich und psychisch völlig erschöpft. Hin und wieder muß auch die beste Maschine geölt und überholt werden, was einer Ruhepause gleichkommt. Und wenn Sie Ihrer Maschine, wenn ich so sagen darf, eine Verschnaufpause gegönnt hätten, dann wäre es gar nicht erst so weit gekommen. So, genug geredet für heute. Sie bleiben jetzt hübsch hier liegen und tun, was ich Ihnen gesagt habe ... mit Ausnahme, sich waschen zu lassen.«

Emily blickte in sein lächelndes Gesicht, das ihr plötzlich so verändert vorkam. Aber irgendwie erschien er ihr schon seit geraumer Zeit verändert. Dunkel erinnerte sie sich daran, sein Gesicht in unterschiedlichem Licht gesehen zu haben: einmal von der Sonne beschienen, ein anderes Mal im sanften Schein der Gaslampe. Und sie konnte sich vage an seine leise Stimme erinnern, wenn er Esther oder Alice Anweisungen gegeben hatte, zum Beispiel den Docht der Lampe herunterzudrehen, oder wenn er mit ihr gesprochen hatte. Was hatte er zu ihr gesagt? Sie wußte es nicht mehr, und im Augenblick war sie auch viel zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Jedenfalls würde sie nicht sterben. Sie war jetzt sicher, daß sie wieder aufwachen würde, wenn sie jetzt einschlief.

In den nächsten Tagen nahm ihr Schlafbedürfnis stetig ab, und es kam der Tag, da sie zum ersten Mal das Bett verließ und beinahe hingefallen wäre.

»Eile mit Weile«, pflegte der Doktor zu sagen, und »nicht so schnell, die jungen Pferde«. Das war auch etwas, was sie irritierte: Er liebte es, sich in Sprichwörtern oder Zitaten auszudrücken. Ja, auch wenn es ihr schwerfiel, sie mußte zugeben, daß er offenbar sehr belesen war ...

Erst am Weihnachtsabend war Emily so weit wieder hergestellt, daß sie es wagen konnte, ihr Zimmer zu verlassen und nach unten zu gehen, wo sie von einem fröhlichen Empfangskomitee erwartet wurde. Der Anblick des gesamten Personals, ihres Personals jetzt, das seiner Freude über ihre Genesung so überschwänglich Ausdruck gab, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie war so gerührt, daß sie keine Worte fand und erst wieder sprechen konnte, als sie im Salon in ihrem Lehnstuhl saß. Die Wolldecke, die man ihr auf die Knie gelegt hatte und die für sie ein Symbol für Krankheit und Gebrechlichkeit darstellte, löste schließlich ihre Zunge und entlockte ihr einen Ausruf des Protests gegen diese Art von Verzärtelung.

Als sie allein mit Esther im Salon war, lehnte sie sich zurück und meinte dann, nachdem sie sich umgesehen hatte: »Oh, wie hübsch das ist. Wann hast du das alles gemacht?«

»Ehrlich gesagt, ich habe keinen Finger gerührt«, gestand Esther. »Ich habe nur einmal die Bemerkung fallen lassen, daß ich gerne einen Weihnachtsbaum für Sie hätte. Und was tut Alice? Kauft von ihrem eigenen Geld zwei Schachteln Christbaumschmuck« – sie deutete auf die blauen, grünen und goldenen Glaskugeln, die an den mit Lametta behängten Zweigen glitzerten. »Und dann hat sie mit Molly Stock auch noch Weihnachtsgirlanden gebastelt. Eine hängt draußen an der Haustür. Können Sie sich das vorstellen?«

»Sie scheint mir überhaupt ein sehr aufmerksames Mädchen zu sein«, meinte Emily daraufhin. »Ich erinnere mich, daß sie oft an meinem Bett saß und immer wieder zu mir sagte: ›Kommen Sie, Miß. Na, kommen Sie.‹«

»O ja. Ihr war jede Ausrede recht, damit sie sich aus dem Staub machen und hinauf in Ihr Zimmer gehen konnte. Manchmal mußte ich sie beinahe mit Gewalt von Ihrem Bett wegzerren, denn die Köchin wurde allmählich ärgerlich, weil sie ihre eigentliche Arbeit sträflich zu vernachlässigen begann. Ja, ja, seit Madam ihr das Geld hinterlassen hat, ist Alice nicht mehr die alte, meint die Köchin.«

»Inwiefern?«

»Ach, sie schwirrt herum wie ein fleißiges Bienchen. Die Köchin sagt, früher hat sie nie den Mund aufgemacht, und jetzt redet sie wie ein Wasserfall. Der Köchin hat sie erzählt, daß sie den Salon für Sie so herrichten wolle wie den der Queen im Buckingham-Palast. Anscheinend hat sie mal ein Bild in einer Zeitschrift gesehen ... Worüber lächeln Sie?«

»Ich habe mir gerade die kleine Alice vorgestellt, wie sie sich vor der Köchin aufplustert.«

»Ach, es ist schön, Sie lächeln zu sehen. Und Sie wieder hier unten zu wissen. Es war schrecklich: Erst hat Madam uns verlassen, und dann lagen Sie, wie wir eine Zeitlang glaubten, auch im Sterben. Wissen Sie, mir ist erst jetzt klargeworden, was wir für ein zusammengeschweißter kleiner Haufen sind. Madam war für uns die große Mutter, und Sie die junge Tochter. Wir alle hatten das Gefühl, wenn wir Sie auch noch verlieren, dann bricht die ganze Familie auseinander. Nicht daß es uns dabei um den Arbeitsplatz gegangen wäre ... nein, da war etwas viel Tieferes ...« Esthers Stimme nahm auf einmal einen anderen Klang an, und sie sagte beinahe brüsk: »Es ist alles vorbereitet für den Heiligen Abend. Dad und Mam sind bei unserer Peggy eingeladen, und ich bleibe hier. Lena ebenfalls. Sie hatte zwar eine Einladung bei ihrer Schwester, aber da ihre fünf Nichten und Neffen anscheinend alle in den Flegeljahren sind, hat sie es vorgezogen, den Abend mit uns zu verbringen. Die Köchin bleibt selbstverständlich auch da, und ich würde gerne die kleine Alice einladen, denn ihr Familienleben ist nicht sehr erbaulich.« Sie beugte sich jetzt zu Emily hin und flüsterte vertraulich: »Das Mädchen überrascht mich wirklich. Hinter ihrer gefügigen Fassade geht einiges in ihrem Köpfchen vor. Wissen Sie, was sie mich gefragt hat?«

»Nein, keine Ahnung. Sag es mir.«

»Nun, sie wollte wissen, ob Madams Letzter Wille in der Zeitung veröffentlicht wird – sie meinte die einzelnen Beträge –, und ich sagte, ich glaube nicht. Wir leben ja nicht in einer Kleinstadt, sondern in London, und hier werden nur die Testamente von Leuten aus der Adelsschicht veröffentlicht. Nun, aber jeder kann zu einem bestimmten Büro gehen und dort erfahren, was jemand hinterlassen hat. Warum sie frage, wollte ich wissen. Und stellen Sie sich vor, was die Kleine geantwortet hat! Daß ihr Geld nicht lange reichen würde, wenn ihre Familie von ihrem Erbe erführe. Nun, es sei ja gar nicht ihre richtige Familie, versuchte ich sie zu beruhigen. Sie war doch nur ein Pflegekind. ›Ja‹, sagte sie. ›Aber die verlangen dann bestimmt, daß ich mich für all die Jahre, die sie mich verköstigt haben, revanchiere.‹ Oh, sie ist nicht auf den Kopf gefallen, unsere kleine Alice, nicht wahr?«

»Zum Glück, kann ich nur sagen, Esther. Zum Glück. Und vielen Dank, daß du mir deinen freien Tag opfern willst. Aber ich komme wirklich allein zurecht, und die Köchin ist ja auch da; und die fragliche junge Dame, Alice, wird mir bestimmt gerne Gesellschaft leisten.«

»Zu spät, es ist schon alles vorbereitet. Aber ich sage Ihnen etwas: Ich mache mir selbst zwei Weihnachtsgeschenke.«

»Und welche, wenn ich fragen darf?«

»Erstens werde ich eine Zigarette rauchen, aus einer Zigarettenspitze, und dann betrinke ich mich.«

»Also, ich würde es umgekehrt machen, Esther. Nachdem dir von beidem übel wird, solltest du dich zuerst betrinken, denn danach ist dir gewiß schon so schlecht, daß du zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und dir das Zigarettenrauchen sparen kannst.«

O Gott, sie war ja schon genauso schlimm wie er, dachte sie, als sie sich mit diesen altmodischen Sprüchen um sich werfen hörte. Außerdem paßte dieser spezielle Spruch ganz und gar nicht zu Esthers Vorstellung von einem Weihnachtspräsent.

»Auch wenn es mir hinterher schlechtgeht, das nehme ich gerne in Kauf.« Und nach einem Blick auf die Uhr rief sie: »Du meine Güte, es ist gleich elf! Der Doktor muß jeden Augenblick kommen. Soll ich mit dem Kaffee warten, bis er hier ist?«

»Ja, bitte, Esther.«

Allein im Salon, fragte sie sich, wie er sie wohl heute begrüßen würde. Würde er sie schelten, weil sie es gewagt hatte, ohne seine Erlaubnis das Bett zu verlassen? Oder würde er es mit einem Scherz akzeptieren wie: »Na endlich! Ich bin das Treppensteigen allmählich leid«?

Als die Uhr auf dem Kaminsims zur halben Stunde schlug, überlegte sie, daß er heute aber spät dran sei, lehnte sich wieder zurück und wartete. Keine zwei Minuten später kam Esther herein und gab exakt ihre Gedanken wieder: »Er ist heute spät dran, nicht wahr?« sagte sie. »Normalerweise kommt er immer Punkt elf.«

»Wahrscheinlich hat er heute viele Hausbesuche zu machen.«

»Ja, denke ich auch. Aber ich sehe nicht ein, warum Sie deshalb noch länger auf Ihren Kaffee warten sollten.«

»Ich auch nicht...«

Esther kam an diesem Tag noch ein paarmal in den Salon. »Komisch, nicht?« wunderte sie sich jedesmal. »Er wird doch am Ende nicht selbst krank sein? Aber dann hätte er zumindest den alten Doktor vorbeischicken müssen.«

»Ich sehe eigentlich keinen Anlaß, daß mich überhaupt noch ein Arzt besucht.«

»Unsinn. Sie sind noch nicht ganz über den Berg, und das wissen Sie selbst auch ganz genau ...«

Was für ein seltsamer Tag, dachte Emily, als sie wieder oben in ihrem Bett lag. Aber eigentlich auch verständlich, denn immerhin war sie heute zum ersten Mal wieder unten gewesen. Und es war ihr vorgekommen, als seien seit dem letzten Mal Jahre vergangen. So gesehen war es freilich ein seltsamer Tag gewesen.

Am Abend dann schallte fröhliches Gelächter durchs Haus, besonders als ein Blumenstrauß von Mr. Arthur Pendleton aus dem Haus Nummer 16 abgegeben wurde, zusammen mit einer Karte, auf der er seiner Freude über Emilys Genesung Ausdruck gab. Später sprach ein Mr. John Beeton vor, der, als man ihm sagte, daß Mrs. Ratcliffe noch keine Besucher empfangen könne, seine Visitenkarte daließ. Er war der Rechtsanwalt von Nummer 27 und um etliche Jahre jünger als der verwitwete Mr. Pendleton.

»Na, was sagt Ihnen das. Miß?« kicherte Esther. »Es hat begonnen, nicht wahr?«

»Rede keinen Unsinn, Esther.«

»Das ist kein Unsinn. Jetzt müssen wir nur noch warten, bis die Damen kommen, dann wissen wir, daß Sie es geschafft haben.«

»Was das anbelangt, werden wir wohl lange warten müssen«, entgegnete Emily. »Vergiß nicht, ich habe ein Geschäft, und wie du weißt, ziemt sich das nicht – zumindest nicht für eine ... alleinstehende Frau.«

»Das ist doch dummes Zeug.«

»Nein, ist es nicht, Esther.«

»Aber es gibt doch neuerdings so viele Frauen, die allein ein Geschäft betreiben. Der ›Blumengarten‹ zum Beispiel, und der Kurzwarenladen in der Percy Street, der Madam Powers gehört.«

»Ja, ja. Und dann dieses Bordell, das wird auch von einer Madam geführt. Ich hab’ es gestern in der Zeitung gelesen. Man hat den Laden von Amts wegen geschlossen, aber ich bin mir sicher, der Richter oder ihr Anwalt wird bald einen neuen Platz für sie finden. Und was ist mit uns? Wenn ich es mir recht überlege, habe ich hier ein ganzes Haus voller junger Frauen. Ich könnte doch eine Zweigstelle eröffnen. ›Madam Ratcliffes Freche Früchtchen‹, wäre das nicht ein passender Name?« Sie lachte, und Esther setzte kichernd hinzu: »Dann werden sie ganz Willington Place absperren.«

»Das sollte mich wundern. Immerhin leben hier eine ganze Reihe einsamer Herren.«

»Weil wir gerade von Herren sprechen, einsam oder nicht, es ist gleich elf Uhr. Und heute werden Sie nicht wieder mit dem Kaffee auf ihn warten. Punkt elf wird er serviert. Aber wenn er wieder nicht erscheint, dann denke ich, sollten wir einen Arzt zu ihm schicken«, lachte Esther und fuhr dann mit ernsterer Stimme fort: »Er war immer so gut zu Ihnen. Es muß einen Grund geben, warum er nicht vorbeigekommen ist... Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen. Mein Gott, das wäre ein schrecklicher Verlust; und nicht nur für uns, das kann ich Ihnen versichern ... Gut, ich kümmere mich jetzt um den Kaffee.«

Doktor Montane kam nicht um elf, und er kam auch am Nachmittag nicht. Den ganzen Tag über hatte draußen auf der Straße reger Verkehr geherrscht, und Emily hatte zeitweilig am Fenster gestanden und das Kommen und Gehen der Kutschen und Droschken beobachtet. Zwischendurch war sie immer wieder im Zimmer auf und ab gegangen, um ihre Beinmuskeln zu stärken. Und sie hatte viel an Mabel gedacht und daran, was diese ihr erzählt und ans Herz gelegt hatte. Ganz deutlich stand ihr jetzt dieses Hotel in Frankreich vor Augen, in dem Mabel einst so glücklich gewesen war. Sie wußte, daß sie sich Urlaub nehmen mußte. Sie brauchte unbedingt etwas Abstand von hier, von der Arbeit und dem geschäftigen Treiben, vor dem sie auch in ihren Privaträumen keine Ruhe fand, denn die hektische Atmosphäre in den Werkstätten nebenan schien selbst die dicksten Mauern zu durchdringen. Sie fand, daß sie es Mabel schuldig war, ihr wenigstens einen ihrer Wünsche zu erfüllen, und das konnte sie, indem sie nach Frankreich fuhr und in diesem Hotel abstieg. Doch es war eine lange Reise bis dorthin, und sie war noch nie im Ausland gewesen. Allein konnte sie wohl schlecht reisen, aber wer sollte sie begleiten? Und in ihrem momentanen Zustand war sie ohnehin nicht in der Lage, sich um ihr Gepäck und die Prozeduren, die so eine Reise mit sich brachte, zu kümmern.

Um halb vier kam Alice herein und zündete die Gaslampen an. Das Mädchen strahlte übers ganze Gesicht, und irgendwie verletzte das Emily. Alice besaß im Grunde so wenig, worüber man glücklich sein konnte, und trotzdem leuchteten ihre Augen, als sie zu Emily sagte: »Ist das nicht ein wunderschöner Weihnachtstag, Miß? Und wenn es jetzt noch schneit, das wäre dann die Krönung.« Sie ging ans Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. »Ach, da kommt ja der Herr Doktor«, rief sie aufgeregt. »Ich werde ihm auf machen.«

Emily lehnte sich in ihren Stuhl zurück, nahm die Füße von der Fußbank und schob diese zur Seite. Und da kam er auch schon zur Tür herein, durchmaß mit großen Schritten den Raum, wobei er seine zusammengeballten Fäuste anhauchte wie ein kleiner Junge, der gerade vom Schneeballwerfen heimkommt.

»Da draußen friert man sich ja die Finger ab. Und, wie geht es Ihnen?« begrüßte er sie. Und als sie antwortete: »Danke, gut«, wunderte sie sich, daß er keinerlei Anzeichen von Überraschung erkennen ließ, sie hier unten im Salon vorzufinden.

Nachdem er ihren Puls gemessen hatte, schwieg er eine Weile und fragte dann ganz unvermittelt: »Haben Sie mich vermißt?«

»Nicht besonders.«

»Das freut mich zu hören. Ihrer Antwort nach befinden Sie sich wirklich auf dem Weg der Besserung.«

»Mir geht es tatsächlich besser.«

»Ja. Ja«, meinte er gedehnt. »Es geht Ihnen besser – jedenfalls besser als vorher, möchte ich einschränken, Miß Emily, oder Mrs. Ratcliffe, oder Madam, wie immer Sie heute angesprochen zu werden wünschen.«

Aha, er war wohl wieder in dieser gewissen Stimmung.

Er nahm ihr gegenüber in einem Stuhl Platz. »Ich bin gestern nicht gekommen. Erst wollte ich Doktor Smeaton bitten, bei Ihnen vorbeizuschauen, aber dann dachte ich mir, Sie schaffen es auch einmal einen Tag ohne mich.«

»Aber gewiß doch«, entgegnete sie lässig, und im selben Moment fiel ihr auf, daß er gar nicht wie ein Doktor sprach. Er sprach überhaupt nie wie ein Doktor, eher wie ein... Aber weiter wollte sie nicht denken.

Inzwischen war er aufgestanden und noch einmal zu seiner Tasche gegangen, aus der er jetzt ein kleines Päckchen holte und es ihr mit den Worten »Fröhliche Weihnachten« überreichte.

»Oh! Vielen Dank. Das gleiche wünsche ich Ihnen auch.« Er hatte sich wieder hingesetzt. »Machen Sie es auf«, sagte er. »Es ist leider nicht besonders schön verpackt.«

Emily kam seiner Aufforderung nach und packte ein dünnes, in rotes Leder gebundenes Büchlein aus. Es war ein Gedichtband von S. Petersen, der den Titel Ein Freund trug. »Mögen Sie Gedichte?« wollte er wissen.

»Ja, einige schon.«

»Nun, diese hier entsprechen vielleicht nicht ganz Ihrem Geschmack. Sie sind sehr einfach formuliert und können sich sicherlich nicht mit den Werken von Byron, Swift oder John Donne messen. Es sind eher simple, spontan niedergeschriebene Gedanken.«

»Sie lieben Gedichte anscheinend sehr.«

»O ja. Ja, ich liebe Gedichte ... Überrascht Sie das?«

Es überraschte sie in der Tat. Gedichte waren so ziemlich das letzte, was sie ihm an Lektüre zugetraut hätte, aber er war eben ein seltsamer Kauz und nicht einfach zu durchschauen. Sie senkte den Blick wieder auf das Buch und erkundigte sich dann: »Wer ist S. Petersen?«

»Oh, soviel ich weiß, ist er ein Mann, der ... nun, der Poesie schreibt oder wie man das auch bezeichnen mag. Nun, ich finde, er betrachtet gewisse Dinge von einer anderen Warte aus, aber das mag daran liegen, daß er norwegische Vorfahren hat.«

Emily schlug das Buch auf und las dann ganz langsam das erste Gedicht durch, das den Titel Ein Freund trug.

Ich brauche keine Liebe und tiefe Leidenschaften, keine Sonette, die mich in den Schlaf lullen, oder Gedichte, auf denen ich mein Haupt zur Ruhe bette.

Ich brauche keine Küsse auf meinen Lippen, oder Oden, die man mir ins Ohr flüstert:

Ich brauche keine Kinder auf meinem Schoß, die mich vielleicht später verachten.

Ich brauche weder Macht noch Ansehen – vermeintliche Güter, die im Alter schal werden.

Ich muß keinen anderen Menschen besitzen, um später dessen Dank einzufordern, wie Väter, Mütter und Brüder es tun.

Ich muß nicht nach Bewunderung heischen, um das Leben zu ertragen.

Von alledem bin ich frei, da ich keine Frau brauche.

Emily warf dem Doktor einen raschen Blick zu, blätterte dann die Seite um und las weiter.

Ich möchte nur eine Hand in Freundschaft halten;

Worte austauschen ohne Haß und Groll

und gemeinsam große und kleine Gedanken wälzen.

Ich suche einen Freund, der mir Bollwerk und Mauer ist,

an den ich mich anlehnen kann, um Atem zu schöpfen

und weiter für das Leben zu kämpfen – und gegen den Tod,

diesen letzten und endgültigen Schlag,

gegen den alles Wissen nichts auszurichten vermag.

Und dazu brauche ich ... einen Freund.

Emily sah von dem Gedichtband hoch. »Und das hat ein Mann geschrieben?« murmelte sie nachdenklich.

»Ja, das hat ein Mann geschrieben.«

»Aber... Aber wie kann er wissen, wie eine Frau fühlt?«

»Nun, durch Beobachtungen, nehme ich an. Und es gibt ja die verschiedensten Frauen. Solche, die nicht heiraten wollen, und andere, die es kaum erwarten können, sich einem Mann an den Hals ... ich meine, diesen Status zu erreichen.«

Sie lächelte jetzt, als sie einwarf: »Warum führen Sie den Satz nicht zu Ende, den Sie begonnen haben... sich einem Mann an den Hals zu werfen. Sonst sind Sie doch auch nicht so zurückhaltend in der Wahl Ihrer Worte, wenn Sie mit mir sprechen.«

Er lachte stillvergnügt in sich hinein, ließ den Kopf nach hinten gegen die Stuhllehne sinken und behielt diese Position bei, während er sagte: »Sie glauben, Sie kennen mich, wie? Sie glauben, ich sei ein recht ungehobeltes Individuum ... obwohl, als ungehobelt würde ich mich eigentlich nicht bezeichnen. Eher als schroff und ... irritierend zuweilen; ja, ein Mensch ohne Feingefühl.«

»Woher wollen Sie wissen, was ich über Sie denke? Ich finde, Sie sind sehr dogmatisch in Ihrem Denken, ähnlich wie der Autor dieser Gedichte; zumindest was dessen Einschätzung der Bedürfnisse einer Frau anbelangt.«

»Ich sagte doch bereits, daß es sehr unterschiedliche Kategorien von Frauen … und Männern gibt.« Jetzt sah er sie wieder an. »Und innerhalb der einzelnen Kategorien gibt es eine Vielzahl von Schattierungen. Ich betrachte die Menschheit als eine sehr sonderbare Mischung; fähig, die höchsten geistigen Ebenen zu erreichen und Großes zu vollbringen oder aber in die tiefsten Tiefen abzugleiten und die grausamsten Verbrechen zu begehen. Eine sonderbare Mischung, wie gesagt. Und alles hängt von den äußeren Lebensumständen ab. Es sind diese Umstände, die uns entweder Gutes oder Schlechtes vollbringen lassen, zu Egoisten oder Wohltätern werden lassen. Aber wir können uns diese Umstände nicht aussuchen, nein, nicht wirklich. Man spricht zwar von diesem angeblich freien Willen, doch den gibt es nicht. Es ist eine unbekannte Macht, die uns in gewisse Lebensumstände hineinzwingt, und wir können dann nur in diesem bestimmten Rahmen agieren. Gewisse Umstände haben Sie in die Situation gebracht, in der Sie sich im Augenblick befinden; und aufgrund anderer Umstände stehe ich wiederum da, wo ich stehe.«

Emily fand keine Worte, um das anschließende Schweigen zu brechen. Er hatte sie völlig durcheinandergebracht. Sein Benehmen verunsicherte sie, und sein Denken. Ja, besonders sein Denken. Und was sie am meisten verblüffte, war seine Vorliebe für Poesie.

Nachdenklich strich sie mit den Fingern über das Büchlein und sagte dann sehr leise: »Es ist wunderschön gebunden.«

»Ja. Er ... er liebt offenbar schöne Einbände. Es gibt auch nur ganz wenige Ausgaben.«

»Oh! Vielen Dank. Das war sehr freundlich von Ihnen. Ich habe leider kein Geschenk für Sie.«

»Nein? Ach, ich wüßte da etwas... Sie könnten mir zum Beispiel die Freude machen, mich mit meinem Namen anzusprechen.«

»Ihrem Namen?«

»Ganz richtig. Ich heiße Steve. Ich denke, wir kennen uns lange genug, daß Sie mich beim Vornamen nennen können.«

»Aber Sie sind mein Arzt«, entgegnete sie mit einem kleinen, verwunderten Lächeln.

»Ja, ich bin Ihr Arzt, aber ich bin auch ein menschliches Wesen, das einst auf den Namen Steve getauft worden ist.«

Sie schlug die Augen nieder, biß sich auf die Lippen und meinte nach einer Weile leise lachend: »Ich könnte Sie niemals Steve nennen; für mich sind Sie einfach der Doktor.«

»Oh, ich weiß, daß Ihnen Steve nicht leicht über die Lippen kommt, aber Sie könnten es doch zumindest einmal versuchen ... Emily.«

Wieder knabberte sie an ihren Lippen. »Sie sind unmöglich. Wissen Sie das?«

»Ja, ja. Dessen bin ich mir sehr wohl bewußt. Das werfen mir meine Leute vor, seitdem ich laufen kann. Inzwischen hat sich schon die halbe Familie von mir distanziert, mit Ausnahme von Tante Phoebe natürlich. Sie erinnern sich bestimmt noch an die Geschichte mit der Haube?«

Sie lachte jetzt übers ganze Gesicht. »Wie könnte ich die vergessen? Ja, die war wirklich lustig. Wie ist es denn dann weitergegangen?«

»Ach, mein Vater hat eine Leiter genommen und ihr die Haube durchs Fenster geworfen, weil sie die Tür nicht aufmachte. Und hinterher ging alles wieder seinen gewohnten Gang.«

»Und sie trägt sie immer noch?«

»Das dürfen Sie annehmen. Sie wird sie noch auf dem Totenbett tragen. Wir sind eine sehr seltsame Familie, müssen Sie wissen, und haben alle so unsere Marotten. Einer meiner Brüder zum Beispiel spielt für sein Leben gern mit Sprengstoffen und hat schon zweimal um ein Haar das Haus nebst der Familie in die Luft gejagt. Jetzt hat er einen hohen Posten im Kriegsministerium inne. Aber dort lassen sie ihn, glaube ich, nur mit den Akten spielen. Und eine meiner Schwestern kämpft zum Wohle der Frauen für die Emanzipation, was ihr allerdings ein blaues Auge von ihrem Gatten einbrachte. Und dann habe ich noch einen Bruder, der ist katholischer Priester geworden. Keiner spricht mehr mit ihm, außer mir natürlich; aber ich spreche auch mit jedem, der mir sein Ohr leiht.«

Jetzt lächelte sie nicht mehr. »War das jetzt wieder ein Scherz, oder sind das alles wirklich Mitglieder Ihrer Familie?«

»Aber sicher, das war kein Scherz. Und wenn ich erst von meinen Nichten und Neffen anfange, wird es noch verrückter.«

»Sie sind zu beneiden.«

Eine ganze Weile herrschte tiefes Schweigen zwischen ihnen, bevor er antwortete. »Ja«, sagte er mit ernster Miene. »Ja, ich bin zu beneiden. Wir sind wirklich eine großartige Familie. Alles Individualisten, die ihren eigenen Weg gehen. Es ist eine Ehre, dieser Familie anzugehören. Und dort war ich gestern auch; Weihnachten ist bei uns immer ein rauschendes Fest. Bis zwei Uhr morgens haben wir gefeiert, und zwar alle zusammen: Familie, Freunde, Nachbarn und die Hausangestellten. Letztere sind zwar schon etwas tatterig, aber das waren sie eigentlich schon, solange ich denken kann. Ja, ich bin wirklich sehr glücklich, einer solchen Familie anzugehören, zumal ich in meinem Beruf so vielen einsamen Menschen begegne.«

»Lieben Sie deshalb diese Art von Gedichten so sehr?«

»Hm ... ja, das könnte man sagen. Er und ich haben in vielen Hinsichten die gleichen Gedanken. Obgleich ich auch Kritik an seinem Werk anzumelden habe: Er drückt sich zu simpel aus, für meinen Geschmack, aber andererseits möchte er wohl erreichen, daß Menschen wie wir, die sich neben der Poesie auch der Arbeit widmen müssen, einige seiner Ideen auffangen.«

Er rutschte auf die Stuhlkante vor, drehte den Kopf zur Tür und sagte unvermittelt: »Ob ich in diesem Haus wohl je eine Tasse Kaffee oder Tee bekommen werde?«

Kopfschüttelnd zog Emily an der langen Kordel, die neben dem Kamin hing, und beinahe im gleichen Augenblick ging die Tür auf, und herein kam Esther mit einem großen Tablett. »Das nenne ich prompten Service«, rief Steve und sprang aus seinem Stuhl hoch, um seine Tasche vom Tisch zu nehmen, damit Esther das Tablett abstellen konnte. »Ja, Sie sehen so aus, als ob Sie dringend eine Tasse Tee bräuchten«, bemerkte diese scherzhaft.

»Bräuchten, Esther? Ich bin am Verdursten!«

»Nun, hier ist er ja«, lachte sie und wandte sich an Emily. »Soll ich einschenken?« Doch bevor Emily antworten konnte, wehrte Steve ab: »Nein, das mache ich schon. Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit, gehen Sie ruhig wieder an die Arbeit.«

»Ja, hat man so was schon gehört? Und dann noch von einem Doktor?« ereiferte sich Esther und sah Emily kopfschüttelnd an, bekam jedoch keine Antwort. Emilys Blick hatte sich an Steve geheftet, der jetzt den Deckel von der Kanne nahm und den Inhalt mit einem Teelöffel umrührte.

Dieser Mensch hatte viele Gesichter, das hatte sie heute gelernt. Doch ob er ihr ob dieser Entdeckung nun sympathischer war, das wußte sie nicht genau zu sagen. Er war offenbar klüger, als er nach außen hin zu erkennen gab, und die Tiefe, die er besaß, verunsicherte sie.

»Bitte.« Er reichte ihr die Teetasse und fügte schmunzelnd hinzu: »Sie hat uns nicht einmal Kuchen dazu gebracht, und es ist Weihnachten.«

»Möchten Sie gerne ein Stück Kuchen?«

»Nein. Nein, danke.« Seine Stimme hatte sich verändert, sie klang jetzt ruhiger. »Ich kann ohnehin nicht viel länger bleiben. Es warten etliche Patienten in meiner Praxis. Momentan geht eine fiebrige Erkältung um. Und morgen habe ich den ganzen Tag Dienst; aber da wird es nicht bei eitrigen Mandeln bleiben, fürchte ich. Da habe ich es dann mit Betrunkenen, eingeschlagenen Schädeln und verprügelten Frauen zu tun.«

»Nein! Wirklich?«

»Ja, leider. Aber das ist noch nichts im Vergleich zu Silvester. Da bin ich gewöhnlich rund um die Uhr im Einsatz.«

»Wie viele zahlende Patienten haben Sie eigentlich?«

Er blickte zur Seite. »Oh, ich weiß nicht genau«, meinte er ausweichend und setzte dann rasch hinzu: »Vier. Ich bin kein Mann für Privatpatienten. Der Umgang mit Leuten, die wochenlang das Bett hüten, liegt mir nicht so. Das überlasse ich lieber dem alten Herrn.«

»Ja, was das betrifft, da bin ich ganz Ihrer Meinung«, bemerkte sie spitz, worauf sein Kopf wieder in ihre Richtung schnellte. »Wissen Sie denn überhaupt, was den Umgang mit solchen Patienten ausmacht? Das bedeutet, Patienten viel länger als nötig strengste Bettruhe zu verordnen oder sie wochenlang mit einem Schal um den Hals in einen Lehnstuhl zu verbannen; es bedeutet, ihnen das Gefühl zu geben, daß sie der einzige Patient sind, um den sich der Herr Doktor sorgt. Im Falle einer Frau, die keine Kinder mehr haben möchte, ist die Chaiselongue-Behandlung das Mittel der Wahl, oder die Behandlung der schwachen Nerven. Wenn ich mit solchen Damen zu tun hätte, ich würde sie, ganz bildlich gesprochen, in den ... Hintern treten. Ja, ich würde sie in den Hintern treten und ins wirkliche Leben zurückschubsen. Diese Art von Medizin lohnt sich nur bei Leuten mit Geld. Und das verteilen Männer gemeinhin nicht so leichtfertig; die sind nicht so verflucht leichtgläubig.« Er kippte den inzwischen kalt gewordenen letzten Schluck Tee hinunter und funkelte Emily dann beinahe wütend an. »Jetzt sollte ich mich wohl für meine rüde Ausdrucksweise entschuldigen, aber das werde ich nicht tun, denn wenn Sie über diese einseitige Diskussion genauer nachdenken, werden Sie mir wohl recht geben. Nun, wie auch immer, die nächsten ein, zwei Tage werde ich nicht bei Ihnen vorbeischauen; der nicht so vornehme Teil der Menschheit braucht mich in nächster Zeit mehr als Sie. Von jetzt an sind Sie besser beraten, Ihren gesunden Menschenverstand zu benutzen.« Sein bissiger Humor kehrte zurück, als er hinzufügte: »Und davon besitzen Sie ja anscheinend genug, um sich zukünftig von dieser Chaiselongue fernzuhalten. Der einzige Rat, den ich Ihnen im Augenblick noch geben kann, ist folgender: Machen Sie sich daran, Ihren Urlaub zu planen.«

Er hatte schon seine Arzttasche in der Hand, als sie entgegenhielt: »Ich weiß bereits, wohin ich reisen werde.«

»So? Und wohin?«

»Das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären. Aber wenn Sie das nächste Mal vorbeischauen, dann werde ich Sie wissen lassen, wohin die Reise geht und warum.«

»Gut. Ich kann es kaum erwarten«, meinte er und fügte leise hinzu: »Eines Tages werden Sie mich schon noch kennenlernen, Emily.«

Emily konnte sich daraufhin die sarkastische Antwort »Und das kann wiederum ich kaum erwarten« nicht verkneifen.

Er starrte sie noch eine ganze Weile lang wortlos an, bevor er sich umdrehte und den Salon verließ, wobei er die Tür nicht gerade sanft hinter sich ins Schloß fallen ließ ...

Von allen seltsamen Männern dieser Erde war er bestimmt derjenige, der sie am meisten zum Widerspruch reizte.

Wie konnte man von irgend jemandem erwarten, mit diesem Mann zu leben! Wie um alles in der Welt war Mabel nur auf die abwegige Idee verfallen, sie könnte diesem Mann jemals liebevolle Gefühle entgegenbringen? Trotz seines zweifellos recht attraktiven Äußeren und in Anbetracht dessen, daß er als guter Arzt galt, war er doch der am wenigsten liebenswerte Mann, der ihr je begegnet war.