Seit ihrer Ankunft waren erst drei Tage vergangen, doch Emily hatte das Gefühl, schon sehr viel länger in diesem Hotel zu wohnen, denn in der kurzen Zeit hatte sie bereits eine ganze Menge über den persönlichen Hintergrund der meisten Gäste erfahren, speziell über den von Miß Forester. Es gab wohl kaum ein einsameres Wesen auf Gottes Erdboden als diese junge Frau. Und wenn man eine dreitägige Bekanntschaft als Freundschaft bezeichnen konnte, dann waren sie wohl Freundinnen geworden.
Eigenartig, wie es dazu gekommen war. Am ersten Abend, als Emily in der Halle saß und sich fragte, was sie unter all den alten Leuten hier zu suchen hatte, war Kate Forester an ihr vorbeigegangen. Sie hatte ihr zugelächelt, und Kate war daraufhin stehengeblieben. Ohne ihr Lächeln zu erwidern, hatte diese neben ihr Platz genommen und ohne Umschweife eine Konversation begonnen. »Ich bin Kate Forester«, hatte sie sich vorgestellt. »Ich habe Sie beim Dinner gesehen. Ich sitze ... ich sitze an dem Tisch mit dem Rollstuhl. Meine Mutter ist Invalidin.«
»Oh, das tut mir leid«, hatte Emily mitfühlend erwidert, und Kate hatte sie mit der Antwort verblüfft: »Mir auch. Ja, mir auch.« Es waren nicht die Worte als solche gewesen, die sie so erstaunt hatten, sondern die Betonung und die Wiederholung. Und dann hatte Kate gefragt: »Sind Sie auch zur Erholung hier, wie die meisten Gäste?« »Ja, ich war eine Weile sehr krank«, sagte sie und reagierte noch eine Spur verblüffter, als sie zur Antwort bekam: »Es wundert mich, daß Sie kein anderes Hotel gewählt haben, denn dieses hier ist im Laufe der Zeit zu einem richtigen Seniorenheim verkommen, oder zu einer Zuflucht für diejenigen, die in Erinnerungen an ihre hiesigen Aufenthalte in jungen Jahren schwelgen ... ach ja, und nicht zu vergessen für gewisse Herren, die sich eine junge Frau angeln wollen.«
Emily konnte sich ein kurzes Lachen nicht verkneifen. »Sie sind sehr offen, Miß Forester.«
»Offenheit ist die einzige Freiheit, die ich mir bewahrt habe. Deshalb sitze ich ja auch hier und spreche so zu Ihnen. Und, das möchte ich hinzufügen, weil Sie so jung und frisch wirken, so gelassen. Beim Dinner habe ich mir überlegt, daß Sie hier total fehl am Platze sind. Und dann dieser Hut, den Sie bei Ihrer Ankunft getragen haben! Der ist wirklich gewagt.«
»Finden Sie?«
»Ja, und viele andere Gäste denken sicherlich genauso. Warum haben Sie ihn nicht garnieren lassen?«
»Weil er mir so besser gefällt.«
»Haben Sie ihn eigens anfertigen lassen?«
»Nein. Eine Freundin von mir hat ihn in einer Truhe auf dem Speicher des Hauses gefunden, das sie kürzlich in London bezogen hat.«
»Und er war so, wie er jetzt ist?«
»Abgesehen von der Schleife, ja.«
Daraufhin hatte Kate den Kopf abgewandt und in Richtung Tür und Garten geblickt, und was sie dann sagte, machte Emily auf sonderbare Weise betroffen. »In meinem Leben habe ich schon viele Frauen um viele Dinge beneidet, aber noch nie habe ich jemanden so beneidet wie Sie, als Sie mit diesem Hut ankamen. Nicht wegen Ihres Aussehens oder Ihrer Garderobe ... nein, sondern wegen dieser inneren Stärke, die Ihnen den Mut gab, allem Getuschel und allen schrägen Blicken zum Trotz diesen aufregenden Hut zu tragen. Ja, um diese Stärke, auf gewisse Konventionen zu pfeifen, darum beneide ich Sie sehr.«
Inzwischen hatte sie sich Emily wieder zugewandt, und als sich ihre Blicke trafen, verfielen beide in nachdenkliches Schweigen. Und merkwürdigerweise durchfuhr Emily im gleichen Augenblick der Gedanke, warum sie bei Mabels Tod keine Träne vergossen hatte, und daß sie sich auch nicht erinnern konnte, um ihre Mutter geweint zu haben. Seltsam, ausgerechnet jetzt verspürte sie das Bedürfnis, ihre Tränen fließen zu lassen, um den Schmerz zu lindern, den Kates Worte in ihr ausgelöst hatten. Es war genau dieses bewußte Erkennen und intensive Spüren von Einsamkeit... oder Alleinsein, von dem dieses Gedicht handelte und wovon Steve oft gesprochen hatte.
»Finden Sie, daß ich eigenartig bin?«
»Nein. Überhaupt nicht«, erwiderte Emily und streckte dieser Frau unwillkürlich ihre Hand entgegen. Sie verstand sie so gut. Und dann hörte sie sich sagen: »Es ist nicht zu spät, seinen eigenen Standpunkt zu beziehen ... zumindest in gewissen Dingen«, woraufhin Kate lächelnd ihre Hand drückte und sich erhob. »Vielleicht können wir bald wieder einmal miteinander plaudern.«
»Ja, gerne. Das würde mich freuen.«
Und so hatte es begonnen.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück war Kate an Emilys Tisch gekommen und hatte sie gefragt, ob sie Lust habe, sie nach Nizza zu einem Einkaufsbummel zu begleiten, da ihre Mutter es vorzöge, heute im Bett zu bleiben.
Emily war mit Kate nach Nizza gefahren und hatte von ihr allerhand über die › alten Hasen‹ erfahren, die Jahr für Jahr ihren Urlaub in diesem Hotel verbrachten. Und Kate hatte sie insbesondere vor dem gutaussehenden Harry Cloche gewarnt, der, wie sie sagte, nach einer reichen Witwe Ausschau halte, um dieser dann seine Begleitung anzutragen und sich dafür fürstlich entlohnen zu lassen. Und auf Kates Frage, ob sie denn eine reiche Witwe sei, hatte Emily geantwortet: »Ja, das könnte man in gewisser
Weise sagen.« Und Kate hatte daraufhin lachend erklärt: »Nun, dann sehen Sie sich besser vor. Ich habe Sie gewarnt.«
Sie stellten fest, daß sie viel Spaß zusammen haben konnten.
Emily erfuhr außerdem, daß Paul Steerman schon als Junge mit seinen Eltern hier Ferien gemacht hatte und seit seinen Flitterwochen vor zehn Jahren Stammgast in dem Hotel geworden war. Seine Frau sei Französin, erzählte Kate, sehr jung und sehr zierlich, und gewöhnlich verbrächten sie immer nur eine Woche Urlaub hier. Doch da Mr. Steerman kürzlich einen schweren Reitunfall erlitten habe, fuhr sie fort, bliebe er diesmal einen ganzen Monat. Er sei sehr freundlich, aber gleichzeitig recht reserviert, meinte sie, und ihm liege offenbar nicht viel an Kontakten zu anderen Gästen.
Am dritten Tag kam Kate nach dem Frühstück wieder an Emilys Tisch. »Ich fürchte, wir müssen unsere Ausfahrt auf ein andermal verschieben. Meine Mutter besteht nämlich darauf, heute einen Spaziergang zu machen«, erklärte sie und wiegelte Emilys Vorschlag, sie zu begleiten, da sie ihre Mutter gerne kennenlernen würde, mit den Worten ab: »Oh, lieber nicht. Sie wird Sie sonst nur über Ihre Familie ausfragen und nicht eher ruhen, bis Sie bei Adam und Eva angekommen sind. Außerdem ...« Kate machte eine Pause, und auf ihrem Gesicht erschien plötzlich wieder jener düstere Schatten, der Emily schon am Tag ihrer Ankunft an dieser Frau aufgefallen war und für den sie jetzt die Erklärung erhielt: »Meine Mutter hat nämlich die Gabe, müssen Sie wissen, mir jegliche Freude zu verderben und mir alles Schöne kaputtzumachen. Und wenn sie erst den Eindruck gewonnen hat, daß ich eine Bekanntschaft gemacht... oder sogar eine Freundschaft geschlossen haben könnte, dann findet sie Mittel und Wege, diese auf der Stelle zu zerstören.«
»Aber nein.«
»O doch. Mit Sicherheit! Haben Sie in Ihrem Leben schon einmal jemanden geliebt und gleichzeitig gehaßt?«
»Nein.«
»Nun, dann kann ich Ihnen nur wünschen, daß Ihnen so etwas auch nie passiert. Wir sehen uns dann später. Vielleicht können wir morgen etwas zusammen unternehmen.«
»Ja. Ja ... Kate.«
Kate hatte sich schon zum Gehen gewandt, als sie unvermittelt innehielt und Emily noch einen letzten Blick zuwarf. Sie lächelte nicht, sagte auch nichts, nur ihre Augenlider flatterten.
Kurz danach stand Emily auf und ging hinaus auf die Veranda. Sie dachte an Steve, der Kates Situation bestimmt sehr interessant gefunden und eine Parabel daraus gemacht hätte: eine reiche Frau, die es sich leisten kann, zu reisen und wochenlang in einem Hotel wie diesem zu wohnen, die aber, jeglicher Freiheit beraubt, ein Leben führte, das sich keine Arbeiterin gefallen lassen würde.
Sie setzte sich in den bequemen Korbstuhl, der im Schatten einer ausladenden Palme stand und den sie zu ihrem Lieblingsplatz erkoren hatte. Von hier aus hatte sie eine wunderbare Aussicht auf das Meer und den gesamten Küstenstreifen und konnte zudem die Gäste beobachten, die in den Gartenanlagen, die bis hinunter zum Strand führten, spazieren gingen.
Doch heute machte es ihr keinen rechten Spaß, dort zu sitzen. Kates Absage hatte sie in schlechte Stimmung versetzt, und sie wußte nicht, was sie mit dem Tag anfangen sollte. Gut, sie konnte auf ihr Zimmer gehen und einen Brief an Esther schreiben und einen an... ja, an Steve. Aber was sollte sie ihm bezüglich ihrer Freundschaft antworten? Wollte sie sein Angebot wirklich annehmen? Ja, dachte sie, das wollte sie. Sie könnte ihm das schreiben, und damit wäre der Vormittag ausgefüllt. Aber was mit dem Nachmittag anfangen? Nun, sie könnte eine Kutsche mieten und mit Alice nach Nizza fahren. Alice würde das gewiß Spaß machen. Sie selbst hatte hier ja eine Freundin gefunden, aber Alice schien nicht so viel Glück zu haben. Das Personal war ihrer Aussage nach ein hochnäsiger Haufen, Emporkömmlinge, besonders die Kammerdiener. Dabei sprächen sie genauso schlampig wie sie selbst, hatte Alice bemäkelt, taten jedoch auf vornehm, indem sie näselten und beim Sprechen spitze Lippen machten. Ach, sie war so froh, daß sie Alice mitgenommen hatte; Alice war manchmal so unfreiwillig komisch, wenn sie solche Kommentare abgab.
Ja, genau das würde sie tun. Sie würde Alice am Nachmittag Nizza zeigen und ihr etwas kaufen... etwas Hübsches, nichts Gewöhnliches!
Sie erhob sich von dem Stuhl, ging über die Veranda zurück zur Halle und hatte gerade einen Schritt durch die große Tür getan, als sie gegen den Türholm gestoßen und von zwei starken Händen aufgefangen wurde.
»Oh, verzeihen Sie vielmals, Mademoiselle. Ich ... ich habe gerade mit meinem Freund gesprochen.« Es war Monsieur Fonyère, der jetzt neben ihr stand. »Wir haben so gelacht, mein guter Freund und ich.«
Emily sah jetzt das lächelnde Gesicht des Engländers, der hinter der Tür hervorkam und sofort eifrig bestätigte: »Ja, wir haben gelacht, und ich habe nicht darauf geachtet, wo ich hinging, als ich mich zu ihm umdrehte. Haben Sie sich verletzt?«
»Aber nein. Mir ist nichts passiert.«
»Gott sei Dank!« Der Engländer lüftete den Hut und lächelte Emily an, die daraufhin kurz in seine Richtung nickte und dann ihren Weg fortsetzte.
Es war nach dem Abendessen, als sie den beiden Herren wieder begegnete. Sie saßen zusammen mit anderen Gästen auf der Veranda und warfen ihr ein bedeutungsvolles Lächeln zu, als sie an ihnen vorbei in Richtung Holztreppe schlenderte, die hinunter zum Strand führte, wo es um diese abendliche Stunde recht kühl und sehr einsam war. Doch als sie die Treppe erreicht hatte und das Ehepaar auf den unteren Stufen bemerkte, das offensichtlich ebenfalls einen Abendspaziergang am Strand plante, da beschloß sie, noch eine Weile an ›ihrem‹ Platz, wie sie ihn nannte, zu warten. Doch kaum saß sie in dem Korbstuhl hinter der Palme, da kam auch schon der Herr auf sie zu, vor dem Kate sie so eindringlich gewarnt hatte.
»Guten Abend«, begann er. »Leider sind wir uns noch nicht vorgestellt worden, obgleich ich bereits Gelegenheit hatte, einige kurze Worte an Sie zu richten. Mein Name ist Cloche, Harry Cloche. Dieses Hotel ist ein alter Schlupfwinkel von mir«, sagte er und machte dabei eine ausladende Handbewegung, als gehöre ihm das ganze Anwesen. »Die letzten ein, zwei Tage war ich so beschäftigt, daß es mir nicht vergönnt war, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Sie sind Mrs....?«
»Ratcliffe.«
»Ach ja, Mrs. Ratcliffe. Man erwähnte Ihren Namen bereits. Ich komme in einer besonderen Mission, Mrs. Ratcliffe. Wir hatten für heute abend einen Besuch im Casino geplant. Mrs. DeWhit wollte die vierte im Bunde sein, aber leider hat sie sich eine Erkältung zugezogen. Deshalb habe ich die ehrenvolle Aufgabe, Sie zu fragen, ob Sie uns nicht begleiten möchten?«
»Ich spiele nicht Karten, Mr. Cloche.«
»Wunderbar! Dürfte ich mich Ihnen dann vielleicht als Lehrer anbieten?«
»Ich spiele überhaupt nicht.«
»Aber, aber!« Er zog die Brauen hoch und schüttelte dabei mißbilligend den Kopf. »Spielen sagen Sie? Wir sind auch keine Spieler in dem Sinne. Ein kleiner Einsatz hier und dort, und was mich betrifft, wahrlich nur ein klitzekleiner Einsatz, denn was Sie spielen nennen, das kann ich mir gar nicht leisten. Das Vergnügen liegt doch vielmehr darin, diejenigen Leute zu beobachten, die das nötige finanzielle Polster haben, zu spielen und auch zu verlieren. Unsere kleine Gesellschaft ist sehr unterhaltsam, Mrs. Ratcliffe, das kann ich Ihnen versichern. Und ein wenig Unterhaltung kann nur eine willkommene Abwechslung sein, wenn man seine Tage hier in dieser...« – wieder machte er eine ausladende Handbewegung – »Atmosphäre verbringt, die zwar delektierlich sein mag, mit zunehmendem Alter der Gäste aber auch immer schwerfälliger wird.«
»Mir behagt diese delektierliche Atmosphäre, wie Sie sie nennen, sehr wohl, Mr. Cloche.«
»Ich bitte Sie, Mrs. Ratcliffe! Sie sind eine junge, schöne Frau, und eine elegante obendrein, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten...«
Aha, da hast du’s schon, dachte Emily noch, als plötzlich der Mann neben ihr auftauchte, der sie vorhin versehentlich angerempelt hatte. Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln und meinte dann zu Mr. Cloche: »Ich glaube, die Dame wird langsam ungeduldig, Harry; zumindest scharren die Rösser schon mit den Hufen.«
»Oh, oh«, machte er und beugte sich zu Emily. »Sind Sie sicher, daß Sie sich uns nicht doch anschließen möchten?«
»Ganz sicher. Vielen Dank.«
»Na denn. Vielleicht ein andermal. Guten Abend, Mrs. Ratcliffe«, verabschiedete er sich mit einem Schulterzucken. Paul Steerman übersah er geflissentlich.
»Hat er Sie belästigt?«
»Nein, keineswegs.«
»Vielleicht amüsiert? Ich hoffe nicht, denn das wäre fatal.«
»Nein, er hat mich auch nicht amüsiert. Aber weshalb wäre es fatal, wenn dem so gewesen wäre?«
»Sehen Sie«, begann er und zuckte jetzt ebenfalls mit den Schultern. »Wenn ich Sie nicht aufkläre, so wird es jemand anders tun. Unser charmanter Harry ist nämlich ein unverbesserlicher Spieler. Er hat nicht nur sein eigenes Vermögen verspielt, sondern auch das fremder Leute. Können Sie mir folgen?«
»Ja. Vielen Dank für den Hinweis.«
Er sah sie eine Weile schweigend an. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt hier?« fragte er dann.
»Genießen?« Ihr Blick schweifte ab in Richtung Strand. »Genießen wäre nicht der richtige Ausdruck«, entgegnete sie. »Ich erhole mich, schätze die Ruhe und ... nun, ich unterhalte mich eigentlich recht gut.«
»Unterhalten?«
»Ja, ganz recht«, nickte sie. »Denn ehrlich gesagt bin ich bisher noch nie einer Ansammlung von solch unterschiedlichen Menschen begegnet, die andererseits alle aus demselben Holz geschnitzt zu sein scheinen.«
»Oje! Jetzt wird es ernst. Ich fürchte, ich habe das Pech, oder die zweifelhafte Ehre – je nachdem, wie man es nimmt –, ebenfalls zu dieser speziellen Sorte Holz zu gehören, nicht wahr?«
»Dazu möchte ich mich nicht äußern, denn mein Urteil ist allenfalls oberflächlich zu nennen. Bis jetzt habe ich mich nämlich nur mit Miß Forester eingehender unterhalten.«
»Ach, Sie haben Kate kennengelernt? Und darf ich fragen, welchen Eindruck Sie von ihr haben?«
»Dürfen Sie«, begann sie und musterte ihn dann einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Ich halte sie für eine sehr interessante junge Dame. Und es tut mir leid für sie, daß sie die meiste Zeit ihres Lebens in Hotels wie diesem verbringen muß.«
Es folgte eine längere Pause, ehe er sie dann unvermittelt fragte: »Hätten Sie Lust auf einen kleinen Strandspaziergang?«
»Ja, einverstanden. Das wäre nett.«
Sie erhob sich sofort aus ihrem Stuhl. Und während er ihren Arm nahm, um sie die Stufen hinunterzuführen, dachte er über ihre spontane Antwort auf seine Einladung nach, die ihn einerseits verblüffte, andererseits aber ihrer direkten Art entsprach. Sie war den Umgang mit dieser Gesellschaftsschicht nicht gewöhnt, das war ihm inzwischen klar geworden, denn dazu war ihre Rede viel zu offen. In den Kreisen, in denen er sich bewegte, konnten nur die Älteren das Privileg für sich beanspruchen, offen auszusprechen, was sie dachten.
Am unteren Ende der Treppe gab er ihren Arm frei. Nebeneinander gingen sie dann den schmalen, von Büschen gesäumten Pfad entlang zum Strand hinunter.
»Darf ich mir die Freiheit herausnehmen zu fragen, warum Sie dieses Hotel gewählt haben?« erkundigte er sich mit derselben Offenheit, die sie für sich in Anspruch nahm.
»Ja. Es war der Wunsch einer lieben Freundin von mir, daß ich einmal in diesem Hotel Urlaub machen sollte, da sie selbst als junge Frau hier einen wunderschönen Monat verbracht hatte.«
»Ihre Flitterwochen?«
»Nein, nicht direkt.«
Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? überlegte sie. Und wenn er ihre Geschichte hinterher im ganzen Hotel herumerzählte? Das würde dann die arme Alice ebenso enttarnen wie sie selbst. Wie ein Schwätzer kam er ihr allerdings nicht vor, aber andererseits wußte sie auch nicht, mit welchem Typ Mann sie es hier zu tun hatte. Sie unterhielten sich gerade erst zum zweiten Mal. Und obwohl er ein offenes Gesicht hatte, stammte er doch aus den Kreisen, die dem Klatsch nicht abgeneigt waren. Sie brauchte sich nur an all die Gerüchte und Skandale erinnern, die ihre Kundinnen ihr hinter vorgehaltener Hand erzählten und die deren Ehegatten wiederum aus dem Klub, von der Jagd oder aus der Kanzlei mit nach Hause gebracht hatten. Plötzlich kam ihr Steve in den Sinn. Was würde er in dieser Situation tun? Sie sah ihn an und sagte: »Nein, sie war damals die Zofe der Braut.«
»Ach wirklich? Dann muß sie hier ja eine glückliche Zeit verlebt haben.«
»In der Tat. Sie heiratete kurz darauf den Gentleman ... ich meine, den Butler des Bräutigams.«
Er brach in schallendes Gelächter aus, das die Dünen zurückzuwerfen schienen. »Verzeihen Sie mir. Ich fand das nicht komisch, sondern eher unglaublich. Und, sind sie glücklich geworden?«
»Ja. Beide Paare.«
»Und, die Zofe, was ist aus ihr und ihrem Mann geworden? Haben sie weiterhin für ihre Herrschaft gearbeitet?«
»Ja. Und als die Lady starb, haben sie sich weiterhin um den Herrn gekümmert.«
Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, als er sagte: »Welch ein Glück für ihn... ja, wirklich. Dann hatte er also keine Familie mehr?«
»Nein, niemanden.«
»Und was machte Ihre Freundin später?«
»Nun«, seufzte Emily. »Nach seinem Tod hinterließ er ihr und ihrem Mann ein kleines Vermögen, jedenfalls für damalige Zeiten. Damit erfüllte sie sich einen langgehegten Wunsch und eröffnete ein Geschäft.«
Da sie nicht näher auf die Art des Geschäftes einging, sah er sich zu der Frage veranlaßt: »Und was war das für ein Geschäft?«
»Ein Modesalon«, sagte sie und drehte sich dann unvermittelt zu ihm um. »Hüte.«
»Hüte?«
»Ja, ganz richtig. Hüte«, wiederholte sie mit einem Lächeln, das er auch gleich erwiderte: »Aha, daher also der goldene Hut, den Sie neulich trugen.«
»Nein, der stammte nicht aus ihrem Salon. An den sind wir eher zufällig geraten. Kennen Sie sich in London aus, Sir?«
»Ja, recht gut.«
»Ist Ihnen Willington Place ein Begriff?«
»Willington Place? Aber sicher. Als Junge bin ich ein paarmal bei einem Freund meines Vaters zu Besuch gewesen, der dort eine Wohnung hatte. Und Sie leben in Willington Place?«
»Ja, ich habe mein Geschäft dort.«
»Ihr Geschäft?« erkundigte er sich vorsichtig.
»Ja, Die Hutschachtel. Den Salon hat mir meine Freundin hinterlassen. Sie starb voriges Jahr.«
Wie verabredet blieben sie beide unvermittelt stehen und sahen sich an. Ein vages Lächeln überzog sein Gesicht, als er sagte: »Das ist eine bemerkenswerte Geschichte. Aber es ist nicht nur eine Geschichte, sondern auch ein Stück Leben. Und ... dieser große gelbe Strohhut bestätigt alles, was Sie mir eben erzählt haben. Sie werden sich nie vorm Leben fürchten, nicht wahr?«
»O doch. Doch, bestimmt. Zum Beispiel jetzt.«
»Aber nicht doch.« Er schüttelte energisch den Kopf. »Sie machen sich vielleicht hin und wieder Sorgen. Aber Angst? Nein.« Jetzt lachte sie wieder. »Niemand, der einen Hut wie diesen mit einer derartigen Selbstsicherheit zu tragen weiß, kann sich vor etwas oder jemandem fürchten.«
Seltsam, Kate hatte genau dasselbe gesagt, dachte sie und sprach es auch gleich aus. »Miß Forester hat eine ähnliche Bemerkung gemacht. Aber es ist nicht wahr. Ich ... tief in meinem Inneren fürchte ich mich davor, was mir das Leben bringen wird. Ich glaube, nur Toren haben keine Angst.«
Er hielt ihren Blick eine ganze Weile, dann sagte er: »Sie unterhalten sich mit Kate über solche Dinge?«
»Ja, wir haben uns ... nun, recht gut angefreundet.«
Sie setzten ihren Weg fort. »Arme Kate«, warf er nach einer Weile nachdenklich ein. »Hier haben wir es mit einem Menschenleben zu tun, das durch Herrschsucht ruiniert wurde. Es ist meiner Meinung nach das Schlimmste, die größte Sünde überhaupt, einen anderen Menschen in irgendeiner Form zu dominieren. In Kates Fall hat diese Herrschaft ihr nicht nur das Leben, sondern auch die Seele geraubt. Ihre Mutter ist eine Tyrannin. Schwache und egoistische Frauen neigen zur Unterdrückung, aber auch schöne, charmante Frauen. Und rücksichtslose Männer. Ja, es gibt so viele Menschen, die andere unterdrücken, selbst ihre Kinder. Aber die schlimmsten von allen sind die Mütter, zumindest was ihren Einfluß auf Männer betrifft. Die Mutter ist die erste Frau im Leben eines Mannes, und die Ehefrau, so sehr er sie auch lieben mag, wird immer die zweite sein. Bei Mutter und Sohn gründet sich diese Dominanz auf Liebe, aber bei Mutter und Tochter entspringt sie reinem Eigennutz. Du liebe Güte!« Er schüttelte den Kopf und ließ ein unsicheres Lachen hören. »Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt so einen Monolog gehalten habe. Bitte, verzeihen Sie mir. Ich habe Sie sicher schrecklich gelangweilt.«
»Aber keineswegs, Sir. Wissen Sie, ich habe einen Freund in London, einen Arzt, der schweift ebenso leicht vom Thema ab wie Sie eben, wenn er sich über etwas erregt. Aber ich glaube, viele seiner Reden – er hat eine sehr schroffe Art – dienen nur dazu, sein wahres Ich zu verbergen. Er liebt nämlich Poesie über alles.«
»Nun, daß ich ein Freund der Poesie bin, das kann ich von mir nicht behaupten, doch ich lese sehr gern. Oh, sehen Sie, da sind ja schon die Höhlen!« rief er und deutete mit dem Finger geradeaus. »Wir sind ein ordentliches Stück gelaufen. Sie sind sicherlich recht müde.«
»Nein, bin ich nicht. Aber ich denke trotzdem, wir sollten jetzt umkehren. Sind die Höhlen groß?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber man erzählt sich hier, daß einst in einer dieser Höhlen ein französischer Landarbeiter hauste und während eines Sturms ertrank. Seine Leiche wurde nie gefunden, und deshalb fürchten sich die Leute heute noch davor, diese Höhle zu betreten.«
»Das kann ich verstehen.«
»Ja? Wirklich?« Er klang überrascht.
»Ja, denn als ich klein war, mußten Nachbarn von uns ihr Haus verlassen, weil es darin fürchterlich spukte. Die Möbel bewegten sich von selbst, und nachts fielen die Bilder von der Wand.«
»Poltergeister?«
»Wie bitte? Was sind Poltergeister?«
»So etwas wie böse Geister. Ja, so lautet die gängige Erklärung. Aber da nicht alle Geister Möbel verrücken, glaube ich, daß es unter ihnen auch gute Geister gibt. Derzeit schießen in England parapsychologische Gesellschaften wie Pilze aus dem Boden. Sie versuchen, die Ursache für derartige Phänomene zu erforschen. Aber für mich wäre das nichts, wenn ich ehrlich bin.«
Sie machten kehrt und legten den Rückweg zum größten Teil schweigend zurück, bis sie wieder an der Holztreppe anlangten und er sich mit den Worten an sie wandte: »Ich habe unseren Spaziergang sehr genossen, Mrs. Ratcliffe. Darf ich hoffen, daß es nicht unser letzter war und Sie mich wieder einmal begleiten werden?«
Ihre Antwort kam spontan und für ihn nicht mehr überraschend. »Aber gewiß, Sir.«
»Ich freue mich schon darauf. Jedenfalls hat Sie dieser Abend bestimmt weniger gekostet als ein Casinobesuch mit unserem Freund, Mr. Cloche.«
»Ach, ich hätte ohnehin nicht gespielt.«
»Na, ich weiß nicht. Wenn man erst einmal im Casino drin ist, fällt es schwer, nicht den einen oder anderen Franc zu riskieren.«
»Ich habe schon recht früh den Wert eines Farthing schätzen gelernt, denn neunhundertundsechzig Farthing geben ein Pfund. Sie werden das vielleicht nicht wissen, aber im Textilgeschäft bekommt man statt eines Farthing Wechselgeld oft ein Briefchen Stecknadeln.«
»Stammen Sie aus Schottland?« fragte er lachend.
»Nein, ich bin in London geboren. Klinge ich denn so?«
»Nein, eigentlich nicht. Es waren die Stecknadeln, die mich zu der Frage veranlaßten. Wir haben nämlich ein Haus in Schottland. Als ich ein kleiner Junge war, gab es dort einen Jagdhelfer, der uns Kindern immer drohte, daß er uns für ein Briefchen Stecknadeln die Ohren abschneiden würde. Und auch in Little Manor in Northumberland habe ich einen ähnlichen Spruch gehört. Dort jedoch begnügte man sich schon mit zwei Stecknadeln.«
»Sie besitzen auch ein Haus in Northumberland?«
»Ja, aber unser eigentliches Zuhause ist in Schottland. Little Manor liegt sozusagen auf dem halben Weg.«
»Und es heißt wirklich Little Manor?«
»Ja, aber es ist nicht so klein, wie man dem Namen nach annehmen möchte ... Was haben Sie denn?« Er beugte sich besorgt zu ihr und hörte sie hinter vorgehaltener Hand murmeln: »Wie seltsam.«
»Was ist denn daran so seltsam?« fragte er.
»Daß Sie in einem Haus in Northumberland leben, das Little Manor heißt, denn ich glaube nicht, daß es davon zwei gibt. Der Major, für den meine Freundin gearbeitet hat, lebte in einem Haus in Northumberland, das Little Manor hieß. Und er ist dort zur Welt gekommen.«
»Erinnern Sie sich an seinen Namen?«
»Warten Sie, ich glaube, er hieß Wrighton. Ja, Major Wrighton.«
»Nein, was für ein Zufall! Der frühere Besitzer des Hauses war tatsächlich ein Major Wrighton. So steht es jedenfalls im Kaufvertrag. Soviel ich weiß, lebten etliche Generationen dieser Familie dort, doch mit dem Tod des Majors starb diese offenbar aus. Mein Vater hat damals neben dem Haus auch etliche Möbel und die Bibliothek übernommen, und dort habe ich einmal vor Jahren eine Art Tagebuch gefunden, das die gesamte Chronik der Familie Wrighton und ihrer Vorfahren enthält. Ein hochinteressantes Buch, zumal es von verschiedenen Mitgliedern dieser Familie geführt worden war. Aber sagen Sie, ist es nicht ein seltsamer Zufall, daß Sie mit dem Major und Little Manor bekannt sind?«
»Bekannt wäre zuviel gesagt. Die Verbindung besteht eigentlich nur durch den früheren Herrn meiner Freundin.«
»Aber dennoch ist es seltsam, finden Sie nicht auch?« »Ja, da haben Sie recht«, stimmte sie ihm lächelnd zu.
Und auch er lächelte, als er fortfuhr: »Wenn wir im Herbst zur Jagd nach Little Manor fahren, werde ich mir dieses Buch noch einmal vornehmen. Darin sind alle möglichen Leute erwähnt. Wie hieß denn Ihre Freundin?«
»Mrs. Arkwright.«
»Arkwright. Arkwright.« Er legte den Kopf in den Nacken, dachte einen Moment nach und meinte dann: »Ich glaube, es hat geklingelt. Kein sehr geläufiger Name, Arkwright.« Dann streckte er ihr lachend seine Hand entgegen. »Unter diesen Umständen, Mrs. Ratcliffe, kann man doch sagen, daß wir uns ganz formell durch einen gemeinsamen Freund vorgestellt wurden, meinen Sie nicht? Ein etwas entfernter, aber nichtsdestoweniger gemeinsamer Freund.«
Emily ergriff seine angebotene Hand und stimmte in sein Lachen ein.
Und damit begann alles.
Als Walton sich später bei seinem Herrn erkundigte, ob er nach diesem ausgedehnten Spaziergang nicht sehr erschöpft sei, entgegnete dieser: »Nicht im geringsten, Walton. Ich habe Mrs. Ratcliffes Bekanntschaft gemacht und mich eine Weile mit ihr unterhalten.«
»Dann kann ich nur hoffen, daß sie Ihnen eine angenehme Gesellschaft war, Sir.«
»Sehr angenehm, Walton. Sie hat sich als eine sehr außergewöhnliche Dame entpuppt... nicht minder außergewöhnlich wie der Hut, den sie trägt.«
Emily hingegen erwähnte Alice gegenüber mit keiner Silbe, daß sie mit Mr. Steerman spazieren gegangen war und sich sehr angeregt mit ihm unterhalten hatte.