Die zweite Woche ihres Aufenthalts neigte sich dem Ende zu, und seit diesem ersten Spaziergang mit Mr. Steerman war kaum ein Tag vergangen, da sie sich nicht auf der Veranda, im Garten oder auf dem Weg ins Hotel begegnet waren. Anfangs hatten sie nur ein paar Worte gewechselt, später jedoch saßen sie nach dem Dinner des Öfteren noch zusammen auf dem Balkon oder in der Lounge. Bei diesen Gelegenheiten unterhielten sie sich selbstverständlich auch mit anderen Gästen, er meist mit Mrs. DeWhit und Emily mit Kate Forester.
Zweimal hatte Emily in dieser Woche mit Kate einen kleinen Ausflug unternommen, und je öfter sie sie sah, desto mehr mochte sie diese Frau und desto mehr Mitleid empfand sie für sie.
Während der zweiten Woche wurden die Spaziergänge mit Paul Steerman häufiger, ihre Gespräche immer intensiver. Aber waren sie nicht beide Gäste, und war es für Gäste denn so außergewöhnlich, wenn sie miteinander plauderten? Gewiß nicht. Zumindest nicht bis zu jenem strahlenden Freitagmorgen, als Mrs. Ratcliffe mit diesem außergewöhnlichen gelben Hut das Hotel verließ, Mr. Steerman ihr beim Einsteigen in die wartende Kutsche half und sie beide davonfuhren.
Nun, war es nicht auch üblich, daß Gäste in einer Kutsche das Hotel verließen? Andererseits, wenn eine Kutsche gemietet wurde, dann meist von zwei Herren mit ihren Gattinnen. Freilich gab es auch Ausnahmen. Mr. Cloche und Mrs. DeWhit zum Beispiel fuhren bisweilen gemeinsam aus, aber sie waren alte Bekannte, wohingegen Mrs. Ratcliffe eine junge Witwe und Mr. Steerman ein verheirateter Mann aus angesehener Familie war ...
In der Kutsche sagte er dann: »Wenn ich Ihr Gesicht unter diesem Hut erkennen könnte, würde ich sehen, daß Sie lächeln.«
Sie wandte sich ihm zu und lächelte tatsächlich.
»Ich vermute«, fuhr er fort, »daß Sie sich der Kommentare sehr wohl bewußt sind, die unsere Abfahrt zweifellos hervorrufen wird. Haben Sie den Hut deshalb aufgesetzt, weil Sie wissen, daß Sie damit konsternierte Blicke ernten?«
»Nein. Ich trage diesen Hut aus dem einfachen Grund, weil er mir gefällt. Ich habe ihn immer gemocht... er hat etwas.«
»So?« meinte er kopfschüttelnd. »Meiner Meinung und der einiger anderer Gäste nach hat er überhaupt nichts. Ich vermute, dieser Hut ist der schmuckloseste, den man je an der Riviera gesehen hat; aber auch der allerschönste... zumindest erscheint er so, wenn Sie ihn tragen.«
Sie drehte sich von ihm weg und schaute aufs Meer. Eigentlich hätte sie jetzt eine spitze Bemerkung über billige Komplimente machen sollen, unterließ es jedoch. Sie wollte sich über nichts und niemanden Gedanken machen, sondern ihren Urlaub weiterhin genießen. Denn daß sie ihn in diesem Maße genießen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Sie fühlte sich so anders, konnte kaum glauben, daß sie dieselbe Person war, die am Tag ihrer Ankunft so nervös gewesen war, als ob sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hier eingetroffen wäre. Nun, in gewisser Weise war dem anfangs auch so gewesen, aber jetzt nicht mehr, zumindest nicht in bezug auf diesen Mann, der hier neben ihr saß. Er wußte alles über sie, wie sie zu ihrem Geschäft gekommen war und dem Geld; selbst, daß sie geschieden war, hatte sie ihm nicht verschwiegen. Sie wußte, daß ihn das überraschte, und als sie ihn darauf ansprach, hatte er ihr geantwortet: »Nun, Scheidungen sind sehr schwer durchzusetzen, relativ unüblich und kommen einen vor allem recht teuer.«
»Ich muß Ihnen in allen drei Punkten recht geben, Sir, aber ich habe sie dennoch erreicht.«
Er hatte, was den Grund für ihre Scheidung betraf, nicht nachgehakt, und sie war auch nicht weiter auf dieses Thema eingegangen.
»Darf ich Sie fragen, was Sie heute bei unserer ersten gemeinsamen Ausfahrt unternehmen möchten?«
»Französisch lernen.«
»Was?« fragte er und griente dabei belustigt. »Sagten Sie, Französisch lernen?«
»Ja, genau das sagte ich.«
»Nun, meine liebe Mrs. Ratcliffe, Sie werden Französisch lernen. Ich werde den ganzen Tag nur diese gewünschte Sprache sprechen, und Sie werden jeden Satz wiederholen... und zwar so oft wiederholen, bis auch der Akzent stimmt.«
Und so verbrachten sie den Tag mit Besichtigungen, aßen in einem Restaurant zu Mittag, tranken in einem anderen Tee und lachten dabei ohne Ende.
Als sie dann am späten Nachmittag über die Strandpromenade flanierten, faßte er die vergangenen Stunden mit den Worten zusammen: »Das war ein herrlicher Tag heute. Meinen Sie nicht, wir sollten ihn mit einem Theaterbesuch ausklingen lassen?« Ihre Antwort darauf kam spontan wie immer: »Ja, das wäre eine glänzende Idee.« Sie liebte Theaterbesuche und hatte bisher jede Gelegenheit wahrgenommen, sich das eine oder andere Stück in London anzusehen.
Aber sie besuchten kein Theater im üblichen Sinne, sondern sahen sich eine Burleske an und amüsierten sich dabei mindestens so prächtig wie das übrige Publikum. Und als ihre Hand einmal zufällig die seine streifte, hielt er sie für einen kurzen Augenblick. Aber Emily wertete das nicht als vertrauliche Geste, sondern als Ausdruck ihrer ausgelassenen Stimmung.
Auf dem Heimweg dann wurde ihr klar, daß es doch eine vertrauliche Geste gewesen war, als nämlich seine Hand abermals die ihre suchte, der Mond sein blasses Licht über sie ergoß und er leise sagte: »Wie schade, daß dieser Tag nun bald zu Ende geht. Es war ein so herrlicher, ein so außergewöhnlicher Tag, daß ich ab heute an Sie nie mehr als Mrs. Ratcliffe denken kann. Nein, das wäre unmöglich. Für mich werden Sie immer Emily bleiben. Glauben Sie, ich dürfte Sie bitten, mich Paul zu nennen?«
Sie gab ihm darauf zunächst keine Antwort, sondern zog stattdessen langsam die Nadeln aus ihrem Hut und nahm ihn dann ab, anscheinend, um sich bequemer an dem gepolsterten Kopfteil der Sitzbank anlehnen zu können. Sie wußte, was geschehen würde, was bereits geschehen war, und daß sie es nicht hätte geschehen lassen dürfen. Er war ein angesehener Gentleman, verheiratet, Vater dreier Kinder, und deshalb durfte sie keinen Schritt weiter gehen. Sie wußte, daß ihre Gründe ihm nichts bedeuteten: Männer seines Standes genossen sehr freizügig die Gesellschaft von Frauen... das heißt, von Damen aus ihren Kreisen. Sie stammte aber nicht aus diesen Kreisen; und das wußte er. Aber wofür hielt er sie dann? Für ein billiges Flittchen?
Die Veränderung, die plötzlich mit ihr vorgegangen war, mußte ihn erstaunt haben. Nun, sie war schließlich kein dummes Ding; sie mußte ihm Einhalt gebieten. Dieser herrliche Tag, wie er sagte, mußte einmalig bleiben.
Sie straffte die Schultern, drehte sich zu ihm um und erklärte mit fester Stimme: »Ich denke, wir sollten bei Mr. Steerman und Mrs. Ratcliffe bleiben.«
Das Klappern der Pferdehufe und das Knirschen der Räder auf dem Kiesweg füllten das daraufhin entstandene Schweigen. Dann sagte er: »Wie Sie wünschen, Mrs. Ratcliffe ... Ja, ganz wie Sie wünschen.« Und nach einigen Minuten weiteren Schweigens setzte er hinzu: »Aber diese Formalität sollte diesem vergnüglichen Tag keinen Abbruch tun; ich hoffe, Sie denken da genau wie ich.«
»Ja. Ja, selbstverständlich. Dieser Tag war wirklich sehr vergnüglich und sehr lehrreich.«
»Nun, ich könnte ja an dem einen oder anderen Tag mit dem Unterricht fortfahren.«
Sie machte eine Pause, ehe sie erwiderte: »Ja, gewiß.«
Der Mondschein hatte seine Romantik verloren. Die Hochstimmung, die sie noch vor kurzem empfunden hatte, war einem schmerzlichen Gefühl gewichen.
Daß Mrs. Ratcliffe die Kutsche mit dem Hut in der Hand verließ – diesem ungewöhnlichen, ungarnierten großen gelben Ding –, blieb den Gästen, die an diesem Abend auf der Veranda Abkühlung suchten, nicht verborgen. Wirklich, man mußte die gesellschaftliche Stellung dieser Mrs. Ratcliffe ernsthaft in Frage stellen ...