Kapitel 5

Emily hatte Steve einen kurzen Brief geschrieben. Er begann:

Dies ist meine letzte Woche hier. Mir geht es sehr viel besser. Sie sagten, ich würde mich verändern; und Sie haben recht behalten. Ich weiß gar nicht, wie ich damit zurechtkommen werde, wieder Hüte zu verkaufen und das Londoner Wetter zu ertragen. Wir haben zwar erst März, aber hier ist es bereits so warm wie im Sommer. Nun ja, alles hat einmal ein Ende, und nächste Woche um diese Zeit werde ich mich wohl vom Bahnhof durch den dicken Londoner Nebel nach Hause kämpfen müssen.

Mit freundlichen Grüßen

Emily

Auch an Esther schrieb sie ein paar Zeilen und beendete diese mit »Am liebsten würde ich für immer hier leben«, wissend zwar, daß das nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn es gab nur einen Menschen – nein zwei –, die ihr diesen Urlaub erträglich gemacht hatten. Ansonsten wäre sie nämlich der albernen Höflichkeiten, der langsam dahinkriechenden Tage und des morgendlichen, mittäglichen und abendlichen Kleiderwechselns recht bald überdrüssig geworden.

»Würdest du diese Briefe bitte nach unten an die Rezeption bringen?« bat sie Alice, die mit einem Blick auf Esthers Namen genau das wiederholte, was Emily gerade vor ein paar Minuten geschrieben hatte: »Nächste Woche um diese Zeit sind wir wieder zu Hause, nicht wahr, Madam?«

»Ja, Alice. Tut es dir leid?«

Alice kniff die Lippen zusammen und zuckte dann mit den Schultern.

»Ja und nein«, meinte sie und fügte dann rasch hinzu: »Wenn ich ehrlich bin, tut es mir nicht leid, heimzufahren. Meine Kollegen da unten, das ist schon ein recht vornehmer Haufen. Von ihnen habe ich ein neues Wort gelernt: Pri-o-ri-tät.«

»Priorität?«

»Ja, Madam. O Gott, zu Hause werde ich bestimmt alles durcheinanderbringen«, stöhnte sie und meinte dann grinsend: »Aber zumindest war es doch eine ganz neue Erfahrung, finden Sie nicht auch?«

Emily wartete einen Augenblick mit der Antwort. »Ja, es war wirklich eine ganz neue Erfahrung.« Alice war nicht dumm, das wußte sie, und daß sie, wenn sie sich über die verschiedenen Gäste unterhielten, nach den ersten paar Tagen Paul Steerman nicht mehr erwähnte, war Alice bestimmt nicht entgangen. »Ich mache jetzt einen Spaziergang mit Miß Forester«, warf sie leichthin ein, »werde aber zum Lunch zurücksein. Ach, würdest du bitte das malvenfarbene Chiffonkleid aufbügeln? Ich möchte es heute abend tragen.«

»Ja, Madam.«

Als Alice das Zimmer verlassen hatte, trat Emily ans Fenster und sah hinauf aufs Meer. Im Stillen wiederholte sie noch einmal ihre letzten Worte. Er hatte absolut recht, als er sagte, sie würde nie mehr dieselbe sein. Wie könnte sie auch nach diesen drei Wochen? Besonders nach den letzten beiden. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Nichts.

Ihre Situation war unmöglich geworden, verwandelte sich mit jedem Tag mehr in eine Tragödie, und sie wünschte sich nur, daß der Vorhang bald fiel. Aber gleichzeitig erfüllte sie die Gewißheit, daß dieser, einmal gefallen, sich nie wieder öffnen würde, mit einem unerträglichen Schmerz.

Wie hatte es überhaupt dazu kommen können? fragte Emily sich immer wieder. Und weshalb ging ihr diese Geschichte so ungeheuer nahe? Immerhin war sie kein dummes Ding mehr, sondern eine erwachsene, intelligente Frau. Und sie besaß Menschenkenntnis, ja, das konnte sie von sich behaupten. Aber was dieser Paul Anderson Steerman für ein Mensch war, das, mußte sie zugeben, wußte sie nicht. Was beeindruckte sie denn so an ihm? Seine charmante Art; sein sarkastischer Humor; sein Verständnis und die Sympathie für das sogenannte einfache Volk, die in ihren Gesprächen immer wieder zum Ausdruck kamen? Nein, nichts von alledem und doch alles zusammengenommen: seine grauen Augen, die so klar und strahlend in die Welt blickten; seine Art zu lächeln; sein Lachen; seine Bewegungen; seine Toleranz, ja, vor allem die Toleranz, mit der er das Leben entschuldigte, das Leute aus seinen Kreisen führten, sprich die Leute in diesem Hotel. Er hatte ihr den Hintergrund einiger Stammgäste skizziert, und alles, was er über sie sagte, bewies sein tiefes Verständnis dafür, warum jeder von ihnen sich so benahm und nicht anders – mit einer Ausnahme allerdings, und das war Kates Mutter.

Sie mußte hinuntergehen. Kate würde gewiß schon warten...

In der Halle hatten sich etliche Gäste versammelt, denn Mrs. DeWhit reiste ab, und das unter entsprechendem Hallo.

»Auf Wiedersehen, meine Teuerste. Bis bald ... Nein, nicht im Herbst. Da muß ich für Mr. DeWhit die Fasanen aufscheuchen«, setzte sie kichernd hinzu, was allgemeines Gelächter hervorrief. Dann wandte sie sich an Paul Steerman. »Auf Wiedersehen, mein lieber Paul. Ich werde Irene herzlich von Ihnen grüßen. Versuchen Sie, ein guter Junge zu sein.« Sie tätschelte ihm mütterlich die Wange, worauf er ihre Hand nahm, einen Kuß darauf hauchte und augenzwinkernd bemerkte: »Ich bin kein guter Junge mehr gewesen, seit man mich in lange Hosen gesteckt hat, müssen Sie wissen. Aber bleiben Sie ein gutes Mädchen ... ein gutes Mädchen, haben Sie gehört?«

Daraufhin gab es noch mehr Gelächter.

Als Kate und Emily an der Gruppe vorbei zum Ausgang gingen, drehte sich Mrs. DeWhit zu Kate um. »Auf Wiedersehen, Kate. Und richten Sie Ihrer lieben Mutter meine besten Grüße aus ... die arme Seele«, fügte sie hinzu, worauf Kate keine Antwort gab. Mit leicht veränderter Stimme, in die sich jetzt ein arroganter Unterton mischte, sagte sie zu Emily: »Leben Sie wohl, Mrs. Ratcliffe«, worauf Emily im selben Tonfall erwiderte: »Auf Wiedersehen, Mrs. DeWhit.«

Sie waren bereits im Garten angekommen, ehe eine von ihnen wieder sprach. Es war Kate, die sagte: »Dort geht eine Frau, die mit Schlangengift getauft wurde.« Und auf Emilys kurzes Auflachen hin meinte sie ungewöhnlich schroff: »Eigentlich ist das nicht zum Lachen, denn diese Person wird nichts Eiligeres zu tun haben, als Paul Steermans Frau aufzusuchen und ihr zu berichten, daß er sich in Ihrer Gesellschaft bestens amüsiert hat.«

»Oh, Kate!«

»Nein, nein, versuchen Sie nicht, mich zum Schweigen zu bringen. Ich kenne diese Leute. Und erzählen Sie mir nicht, Sie hätten nicht bemerkt, daß man über Sie redet, seitdem man Sie so oft in seiner Begleitung gesehen hat.«

»Die anderen Gäste plaudern doch auch miteinander und gehen zusammen spazieren.«

»Ja, aber nicht immer mit den gleichen. In den letzten zwei Wochen haben Sie Ihre Zeit, abgesehen von unseren kleinen Spritztouren, ausschließlich mit ihm verbracht. Er ist ein verheirateter Mann mit drei Kindern, Emily. Und er ist überall bekannt. Sie dagegen sind hier aus heiterem Himmel aufgetaucht. Niemand wußte irgend etwas über Sie. Und sie wissen auch bis heute noch nichts, und das macht sie neugierig. Sie sind anders als wir ... ich meine, hier kennt jeder jeden. Viele der Gäste wurden gemeinsam bei Hofe eingeführt. Gott weiß, wie lange das schon her ist.«

Um von dem ernsten Thema abzulenken, warf Emily die Frage ein: »Sind Sie auch bei Hofe eingeführt worden?«

»Ja, wurde ich. Und was hat es mir gebracht? Kurz darauf bekam meine Mutter ihre Schmerzen und erhob sich nur noch von ihrem Krankenlager, wenn sie sicher war, daß mir niemand Beachtung schenkte. Doch sobald ein männliches Wesen sich für mich interessierte, waren die Schmerzen wieder da. Manchen Menschen dreht Gott irgendwann einmal den Rücken zu, glaube ich allmählich, denn jetzt ist sie tatsächlich ein Krüppel.« Sie machte eine kleine Pause und setzte dann leise hinzu: »Und ich auch.«

»Aber Kate, so etwas dürfen Sie nicht sagen.«

»Nein? Gut, dann sprechen wir wieder über das andere Thema. Ich weiß, wo ich stehe, aber Sie nicht. Ihnen wird entweder das Herz brechen, oder Sie werden etwas ganz verdammt Dummes tun und Ihr Leben zugrunde richten. Nicht so wie mein Leben, aber Sie werden genauso viel durchmachen, wenn nicht mehr.«

Schweigend setzten sie ihren Weg fort, durchquerten den Garten, bis sie an den Strand kamen, und gingen an den Badehütten vorbei bis an die Stelle, wo der andere Weg von der Veranda über die Holztreppen nach unten zum Strand führte. Da sagte Kate unvermittelt: »Seit Wochen ist kein Abend vergangen, da Sie beide nicht diesen Weg entlangspaziert sind. Das Seitenfenster unseres Zimmers geht nämlich zufällig in diese Richtung.«

Emily enthielt sich jeglichen Kommentars. Kates Worte hatten sie geärgert. Am liebsten hätte sie zu ihr gesagt: »Wie wär’s, wenn Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten?« Obwohl sie wußte, daß das töricht war, hatte sie es hier doch mit jemandem zu tun, der offen und aufrichtig war. Ja, von allen Leuten, die sie bislang an diesem Ort kennengelernt hatte, war Kate wirklich die einzige, von der sie das behaupten konnte. Wenn sie dagegen an Paul Steerman dachte, so mußte sie sich eingestehen, daß er es ihr gegenüber mit der Offenheit nicht sehr genau nahm: Seine Frau und die Kinder hatte er bislang nie erwähnt und auch sonst kaum etwas von sich preisgegeben. Sein einziges Anliegen war, so schien es ihr, sie zum Reden zu bringen und sich dann über ihre Worte zu amüsieren.

»Ich hatte nie einen richtigen Freund im Leben«, nahm Kate das Gespräch wieder auf. »Niemanden, mit dem ich offen reden konnte, bis ich Ihnen begegnete. Und am Ende der Woche reisen Sie ab, und das war es dann.«

Jetzt blieb Emily stehen, legte Kate die Hand auf die Schulter und drehte sie sanft zu sich herum. »Das muß nicht so sein. Sie leben doch in London, genau wie ich. Und es gibt keinen Grund, warum Sie mich nicht hin und wieder besuchen kommen sollten. Für mich wäre es umgekehrt etwas schwieriger, wenn man bedenkt, daß Ihre Mutter mich dann eingehend unter die Lupe nehmen würde. Ich weiß schon.«

»Ja, ich auch«, nickte Kate und lächelte Emily an. »Es wäre wirklich schön, wenn wir uns weiterhin sehen könnten«, sagte sie und hakte sich dann ganz spontan bei Emily unter. So gingen sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander her, bis Kate plötzlich aufs Meer hinaus deutete. »Sehen Sie den Dunstschleier dort? Ich wette, später wird es ein gewaltiges Gewitter geben. Das geschieht meistens, wenn der Horizont sich so graublau färbt.«

Emily konnte keinen Unterschied zu vorher entdecken, aber sie gab sich auch keine große Mühe, denn im Augenblick interessierte sie mehr der Gewittersturm, der in ihrem Inneren tobte. Und wenn Steve jetzt ihre Gedanken lesen könnte, würde er sagen: »Es liegt ganz an Ihnen, ob Sie der Gefahr trotzen oder nicht...«

Am Nachmittag zog Bewölkung auf. Kates vorausgesagter Sturm schien sich tatsächlich anzukündigen. Aber Emily ging weiter den Strand entlang auf die Höhlen zu. Dann und wann hielt sie inne, um aufs Meer hinauszuschauen und gleichzeitig einen Blick zurück über die Schulter zu werfen, ob er ihr hinterherkam. Wann immer sie sich hier trafen, benahm er sich sehr umsichtig; er schlenderte langsam den Strand entlang und tat dann stets so, als ob sie sich rein zufällig auf ihrem Spaziergang begegneten. Doch heute konnte sie ihn nirgends entdecken.

Die Strandhütten und auch die Umrisse des Hotels waren schon lange im Dunst verschwunden. Es würde tatsächlich einen Sturm geben. Sie sollte besser umkehren.

Als plötzlich ein Blitz nur wenige Schritte vor ihr in den Sand einschlug, machte sie laut aufschreiend einen Satz. Und als dann ein gewaltiger Donner die Stille zerriß und dicke Regentropfen auf sie niederzuprasseln begannen, da wußte sie, daß es zum Umkehren zu spät war und sie unmöglich das Hotel erreichen konnte, ohne bis auf die Haut naß zu werden. Kurz entschlossen hob sie also ihre Röcke hoch und rannte so schnell sie konnte zur ersten Höhle. Da flammte kurz vor dem Eingang ein zweiter Blitz auf, und der unmittelbar darauffolgende Donnerschlag schleuderte sie förmlich in die Höhle hinein, wo sie keuchend in den Sand fiel.

Sie war schon einmal in dieser Höhle gewesen. Ob es die Geisterhöhle war, wußte sie nicht, aber an die Eiseskälte darin erinnerte sie sich noch gut. Doch die Kälte, die sie jetzt spürte, kam von ihrer Angst. Sie schwitzte am ganzen Körper. Sie hatte Gewitter nie besonders gemocht, sich aber bis jetzt nicht derart davor gefürchtet, wahrscheinlich, weil sie noch nie in freier Natur von einem Gewitter überrascht worden war.

Anfangs fühlte sie sich nur von dem ungeheuren Lärm bedroht, dem Prasseln des Regens und dem Tosen des aufgepeitschten Meeres, doch beim nächsten Donnerschlag glaubte sie, die Höhlendecke würde über ihr zusammenbrechen, so knirschte und krachte das Gestein. Starr vor Angst kroch sie in die hinterste Ecke der Höhle und kauerte sich ganz nah an die Felswand.

Erst als das Grollen des Donners verebbte und der Regen allmählich nachließ, hob sie vorsichtig den Kopf, den sie in die Armbeuge gesteckt hatte, und spähte in Richtung Höhleneingang. Draußen schien wieder die Sonne. Sie konnte es kaum glauben. Obwohl ihre Angst ein wenig nachgelassen hatte, war sie noch nicht in der Lage aufzustehen. Sie verbarg ihren Kopf wieder in der Armbeuge und begann zu weinen.

Wie ein kleines Kind hockte sie da, mit den Armen die angezogenen Knie umfassend, den Kopf darauf gebettet und hemmungslos schluchzend. Zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte sie sich nach Willington Place, ihrem Zuhause, nach dem geschäftigen Treiben und dem Geschnatter der Mädchen in dem einen und der Ruhe in dem anderen Haus; zurück an den vertrauten Ort, wo sie es nur mit ihrem alten Selbst zu tun hatte, mit dem sie umgehen konnte, und nicht wie hier mit diesem neuen Ich, das ihr unbekannt war und ihr nur Kummer und Seelenqualen bereitete.

Als sie plötzlich eine fremde Hand an ihrer Schulter spürte, stieß sie einen gellenden Schrei aus und stieß mit dem Rücken gegen die Felswand. Und als sie dann zaghaft die Augen öffnete, blickte sie in Paul Steermans Gesicht.

»Um Himmels willen! Was ist denn passiert? Ich ahnte ja nicht, daß Sie bei diesem Sturm unterwegs sind. Kate hat mir gerade erzählt, daß sie Sie vorhin den Stand entlanggehen sah. Und als mir Ihre Zofe sagte, Sie seien nicht zurückgekehrt ... aber, mein Gott, warum weinen Sie denn so?«

Er kniete jetzt neben ihr und hatte die Arme um sie gelegt. »Fürchten Sie sich so sehr vor Gewitter? Sie sind hier sehr heftig, aber auch rasch wieder vorbei. Nicht weinen, mein Liebling, nicht weinen. Das kann ich nicht ertragen. Es ist doch alles vorbei. Kommen Sie. Stehen Sie auf.«

Er half ihr hoch, doch sie war immer noch nicht fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und mußte sich an der Felswand abstützen.

»Sie sind ja ganz durchgefroren.«

Sie gab keine Antwort. Wie hätte sie auch sprechen können, wenn ihr ganzes Denken um dieses eine Wort kreiste: Er hatte sie ›Liebling‹ genannt.

Eine Hand unter ihr Kinn gelegt, tupfte er ihr mit einem Taschentuch die Tränen ab. Dabei flüsterte er: »Ich ... ich kann es nicht ertragen, Sie weinen zu sehen. Das paßt nicht zu Ihnen. Sie sind eine wunderbare Frau, so unabhängig und frei in Ihrem Denken. Einer Frau wie Ihnen bin ich noch nie begegnet, Emily. Noch nie. Noch habe ich je das für eine Frau empfunden, was ich für Sie empfinde. Das wissen Sie doch, nicht wahr? Das wissen Sie.« Er beugte sich jetzt noch näher zu ihr hin. »Ich ... ich kann den Gedanken nicht ertragen, Sie möglicherweise niemals wiederzusehen. Nein, ich muß Sie einfach wiedersehen. Verstehen Sie, was ich sage, liebste Emily? Ich mag Sie sehr. Sie... Sie sind so unvermittelt über mich hereingebrochen wie dieses Gewitter eben... Von dem Augenblick an, als ich Sie mit diesem lächerlichen Hut sah, war es um mich geschehen. Ach, Emily.«

Sie war schon vorher geküßt worden. O ja, Jim hatte sie geküßt, zuweilen beinahe bei lebendigem Leib aufgefressen, aber mit der Zärtlichkeit, die ein Hund einem Knochen angedeihen läßt. Doch daß sie einmal jemand so küssen würde, hätte sie selbst in ihren kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt; zärtlich zu Anfang, liebevoll, bis ihre Arme sich um seinen Nacken schlangen, dann leidenschaftlicher, aber immer noch wundervoll.

Wie beschreibt man ein Wunder? Sie verlor sich in diesem Wunder. Es wurde stärker und stärker, bis es ihr ganzes vergangenes Leben ausgelöscht hatte und es auf der Welt nur noch sie und ihn gab.

Und seine Frau und seine Kinder.

Nach Atem ringend, drückte sie ihn mit beiden Handflächen von sich weg, und ihre Stimme war ein einziger Schrei. »Nein! Nein! Was tun Sie da? Was tue ich? Ich ... will das nicht!« Ihr Kopf flog von einer Seite zur anderen, und wieder schrie sie, diesmal fast hysterisch: »Nein, sage ich! Nein!«

Als sie mit torkelnden Schritten aus der Höhle zu fliehen versuchte, hielt er sie bei den Schultern fest. »Hören Sie mich an, Emily. Bitte, so hören Sie mich an«, flehte er mit bebender Stimme. »Es wird alles gut werden. Wir können diskret sein. Alles, was Sie wollen, aber ich kann Sie nicht wieder aus meinem Leben gehen lassen. Hören Sie mich?«

»Ja, ja. Ich höre Sie, aber ich ... ich kann Sie nicht in mein Leben treten lassen. Sie haben eine Frau und drei Kinder. Vergessen Sie das?«

»Nein, Emily, das vergesse ich nicht. Aber ... Sie scheinen es in den letzten Tagen vergessen zu haben. Sie haben es die ganze Zeit über gewußt, aber Sie konnten nicht anders, genauso wenig wie ich.«

Sie machte sich von ihm los und wankte zum Ausgang der Höhle. Draußen strahlte der Tag wieder im herrlichsten Sonnenschein. Der Himmel war azurblau und spiegelte sich im Meer. Die Luft war frisch wie kühler Wein. Sie konnte die Badehäuschen in einiger Entfernung erkennen und das Hotel. Alles war wieder so wie vor dem Sturm, nur sie selbst nicht.

Sie sah an ihrem Kleid hinunter, das über und über voll Sand war, und klopfte sich ab. Dann strich sie sich das Haar aus der Stirn und schob es unter den kleinen Hut, der – von zwei Nadeln gehalten – erstaunlicherweise noch immer korrekt saß.

»Würden Sie jetzt bitte gehen?« bat sie ihn nun. »Ich möchte gerne allein zum Hotel zurücklaufen.«

»Nein, Emily. Ich werde nicht gehen. Und ich lasse Sie auch nicht allein laufen. Wir gehen gemeinsam zum Hotel zurück, und nachdem Sie sich umgezogen haben, werden wir im kleinen Salon Tee trinken. Nach außen hin wird sich nichts ändern. Das lasse ich nicht zu. Uns bleiben nur noch fünf Tage. Was danach passiert, wird man arrangieren müssen.«

»Nein! Nein!« Steve hätte den Tonfall ihrer Stimme zu deuten gewußt. »Da gibt es nichts zu arrangieren. Da kann man nichts arrangieren. Was schlagen Sie denn vor? Daß ich Ihre Geliebte werde?«

»Ach, Emily. Ihre Freimütigkeit ist einer Ihrer besonderen Reize, aber jetzt übertreiben Sie ein wenig. Nichts liegt mir ferner, als Ihnen vorzuschlagen, meine Geliebte zu werden!«

»Nein? Dann war das wohl nur eine Urlaubsromanze für Sie. Eine nette Episode, bevor Sie sich ins nächste Vergnügen stürzen, wie?«

»Solche Reden sind Ihrer nicht wert, Emily. Sie sind in mein Leben getreten und haben Gefühle in mir geweckt, die ich bisher nicht für möglich gehalten hätte. Und deshalb, meine Liebe«, er machte einen Schritt auf sie zu, »könnte ich den Gedanken nicht ertragen, Sie nach diesem Urlaub nicht mehr wiederzusehen.«

Sie mußte sich buchstäblich dazu zwingen, sich nicht von seinen Worten einlullen zu lassen, und deshalb erwiderte sie so kühl wie möglich: »Und was haben Sie dann vor, wenn ich fragen darf? Sich scheiden zu lassen?«

Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück, und sein ganzer Körper schien sich zu versteifen, als er antwortete: »Nein, Emily. Eine Scheidung käme für mich nie in Frage. Sie wissen, ich habe drei Kinder ... die liegen mir sehr am Herzen, und ihre Zukunft ebenfalls. Aber da wir schon davon sprechen, kann ich Ihnen auch sagen, daß meine Frau und ich inzwischen ein getrenntes Leben führen. Wir bewohnen zwar dasselbe Haus, aber wir gehen unsere eigenen Wege, und das schon seit geraumer Zeit. Meine Frau, muß ich zugeben, ist sehr charmant, doch wir sind in vielen Dingen nicht einer Meinung. Wir tolerieren uns vielmehr.«

»Aha, ich verstehe.«

»Nein, Sie verstehen überhaupt nichts, Emily.«

»O doch!« Ihre Stimme klang auf einmal sehr schroff. »In Ihren Kreisen hat man als Mann das Recht, sich eine Geliebte zu halten. Das ist absolut üblich. Und wenn Ihre Wahl auf eine Dame aus Ihren Kreisen gefallen wäre, dann hätte diese Diskussion auch bestimmt nicht diesen billigen Beigeschmack gehabt, den sie jetzt im Augenblick hat, nicht wahr?«

Er drehte ihr den Rücken zu und ließ den Kopf hängen, eine Geste, die ihr zeigte, daß sie mit ihrer These so falsch nicht liegen konnte. Doch als sie hinzusetzte: »Würden Sie mich jetzt bitte allein zurückgehen lassen?«, wirbelte er herum und entgegnete nicht weniger schroff: »Nein, ich werde Sie nicht allein zurückgehen lassen. Wenn Sie Gerede heraufbeschwören wollen, dann wäre das genau der richtige Weg. Selbst auf diese Entfernung hin kann man uns von den oberen Hotelzimmern aus sehen, und ich bin mir sicher, daß uns Ihre Freundin Kate schon seit einiger Zeit observiert. Also, tun Sie mir bitte den Gefallen und lassen Sie uns gemeinsam zum Hotel zurückkehren. Auf dem Weg dorthin werde auch ich nicht mehr von Liebe sprechen, aber ich werde Sie fragen, ob Sie mich nicht für die wenigen Tage, die uns hier noch bleiben, als Freund betrachten können? Bitte, Emily, versprechen Sie mir das.«

Sie sah ihm in die Augen, und ihre innere Stimme sagte ihr, daß sie ihm alles versprechen würde, wenn er nur frei wäre. Aber er würde niemals frei sein, das hatte er ganz klar geäußert. Und sie wußte, daß auch sie niemals wieder frei sein würde – sie würde ihn immer begehren. Wie nahe war sie in der Höhle daran gewesen, sich ihm hinzugeben! Nun, eines wußte sie gewiß: Sobald sie dieses Hotel verlassen hatte, würde sie ihn nie mehr wiedersehen, denn er war nicht der Mann, mit dem sie nur befreundet sein konnte. Steve ... ja, Steve konnte ihr Freund werden. Aber nicht dieser Mann. Bei ihm gab es nur alles oder nichts. Und es mußte bei ›nichts‹ bleiben.