Kapitel 10

Während der folgenden zehn Tage bekam Emily dreimal Besuch. Am Tag nach dem gefühlsgeladenen Zusammentreffen mit ihrem zukünftigen Freier suchte Kate Forester sie auf. Sie begrüßten einander wie alte Freundinnen und beschlossen noch in der Tür, sich ab jetzt zu duzen. Kate war ganz in Schwarz, aber dabei dachte sich Emily zunächst nichts, hatte ihre neue Freundin doch recht wenig Geschmack, was Kleidung anbelangte. Aber kaum hatten sie Platz genommen, platzte Kate heraus: »Du siehst noch urlaubsreifer aus als bei deiner Ankunft in Nizza«, worauf Emily entgegnete: »Du siehst auch nicht gerade aus wie das blühende Leben.«

»Ja, ich bin etwas erschöpft und sehe äußerlich gewiß nicht aus wie das blühende Leben, dafür bin ich aber innerlich aufgeblüht. Ich habe letzte Woche meine Mutter begraben.«

Emily starrte sie fassungslos an. »O Gott! Das tut mir wirklich leid.«

»Nein, nein, Emily. Sparen wir uns die Heuchelei. Du mochtest sie nicht und sie dich ebensowenig. Und was mich betrifft, ich habe sie gehaßt. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin. Und ich werde den Teufel tun und die trauernde Tochter mimen. Und noch etwas: Ich bin jetzt eine reiche Frau. Diesmal hatte sie nämlich keine Zeit mehr, ihr Testament zu ändern, wie sie es in den vergangenen Jahren des öfteren getan hat, um mich einzuschüchtern. Letztes Jahr, als sie wirklich glaubte, ich würde sie verlassen, da hat sie mir ihr ganzes Vermögen überschrieben, um mich an sich zu binden. Dennoch habe ich stets damit gerechnet, daß sie ihre Entscheidung wieder rückgängig machen wird. Na ja, jedenfalls bin ich jetzt endlich ein freier Mensch und werde nach Indien fahren.«

»Indien? Wie kommst du auf Indien?«

»Ganz einfach: Dort war ich noch nicht. Aber es gibt ein Hindernis. Ich will nicht alleine reisen, deshalb bin ich hier. Hast du nicht Lust, mich zu begleiten? Nur für drei Monate oder so?«

»Ach, Kate, ich würde schrecklich gern mitkommen. Aber ich habe ein Geschäft.«

»Du hast mir doch erzählt, du hättest zwei gute Mitarbeiterinnen; eine hat doch schon das Geschäft geführt, als du noch ein Kind warst.«

»Ja, das stimmt. Aber wir haben uns vergrößert und somit viel mehr Arbeit.«

»Heißt das, daß du nicht mitkommst?«

»Ach, Kate. Unter anderen Umständen würde ich sofort anfangen zu packen. Aber es ist unmöglich... es gibt noch andere Gründe.«

Kate musterte sie einen Moment intensiv, dann sagte sie: »Hat Paul Steerman dich besucht?«

Kates Blick haltend, erwiderte Emily: »Ja, er war hier.«

»Und wo soll das hinführen?«

»Aber Kate.« Emily rückte näher zu ihr heran. »Wirklich! Was willst du denn damit andeuten?«

»Gar nichts. Ich frage dich nur, wo das hinführen soll. Da kommt nichts Gutes dabei heraus, glaub mir. Unmöglich. Außerdem hat er drei Kinder.«

»Und eine Frau, ich weiß. Ich weiß alles, was ich wissen muß.«

»Nein, du weißt längst nicht alles. Er ist ein charmanter Zeitgenosse, und wenn ich nicht selbst gewisse Sympathien für ihn empfinden würde, würde ich sagen, er ist eine charmante Ratte. Aber ich mag dich auch«, fuhr sie nun leiser fort. »Weißt du, ich hatte nie eine richtige Freundin, aber bei uns beiden habe ich das Gefühl, daß wir richtige Freundinnen werden könnten. Wir sind in vielen Dingen gleicher Meinung. Und deshalb ... möchte ich auch nicht, daß man dir weh tut.«

»Danke, Kate. Ich habe verstanden. Aber... ich bin keine Närrin.«

»Ach, Emily. Das sind wir doch alle; jeder auf seine Weise. Ich habe mich von meiner Mutter jahrelang zur Närrin machen lassen. Sie hat mich behandelt wie eine Sklavin. Toten soll man vergeben, sagt man, aber in ihrem Fall kann ich das nicht; und dabei fühle ich mich nicht einmal schuldig.«

Als Kate nicht mehr weitersprach, sondern jetzt vor sich hin ins Leere starrte, fragte Emily sie: »Möchtest du noch eine Tasse Tee?«

»Nein, danke. Ich muß noch zur Schneiderin. Diese hier -« sie zupfte an ihrer schwarzen Jacke, »die habe ich heute zum letzten Mal angehabt. Von nun an trage ich alle Farben des Regenbogens.«

Lächelnd schlug ihr Emily daraufhin vor, bei dieser Gelegenheit doch auch gleich einen Friseursalon aufzusuchen. »Du hast so schönes Haar, aber so streng zurückgekämmt, wie du es immer trägst, würde das kein Mensch vermuten.«

»Das habe ich ohnehin vor. Außerdem lasse ich mir die Fingernägel maniküren und die Fußnägel gleich mit.«

Lachend gingen die beiden zur Tür. »Wenn du irgendwann in der Zeitung liest, daß man in Indien eine Engländerin entführt hat, dann wird es dir hoffentlich leid tun, daß du mich allein hast fahren lassen.«

»Du kannst doch eine Zofe mitnehmen«, schlug Emily vor.

»Ich kann Zofen nicht ausstehen. Vielleicht, weil die Zofen meiner Mutter mich nie beachtet haben. Nun ja«, fuhr sie mit einem leisen Seufzer fort und warf Emily dabei einen strengen Blick zu: »Gebrauche in diesem speziellen Fall deinen klugen Kopf, meine Liebe. Märchen basieren nicht auf Tatsachen; sie sind nur ein Produkt unserer rosaroten Fantasie.« Damit verließ sie Emily, deren Gedanken wieder einmal in Aufruhr geraten waren und die sich jetzt fragte, ob Kate mit diesen rätselhaften Worten hatte andeuten wollen, daß es noch einiges gab, was sie über Paul wissen wollte, in Verachtung einer Mrs. DeWhit aber tunlichst darüber schwieg?

In der folgenden Nacht blieb Alice vor Schreck fast das Herz stehen, als sie in der Diele beinahe mit einem Mann zusammenstieß, der gerade die Hintertür zuzog. Bevor sie noch schreien konnte, hörte sie ihn wispern: »Alles in Ordnung, Alice. Deine ... Herrin erwartet mich.«

Zunächst erkannte sie ihn im Halbdunkel nicht, doch dann schluckte sie und murmelte: »Oh, Mr. Steerman!«

»Wo ist Madam?« flüsterte er, und Alice flüsterte zurück: »Zuletzt sah ich sie im Salon.«

»Danke. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt haben sollte.«

Alice blieb wie angewurzelt stehen und sah ihm nach, wie er den Flur entlang zum Salon ging und vor der Tür kurz innehielt. »O mein Gott!« entfuhr es ihr. Am liebsten wäre sie schnurstracks zur Köchin gerannt und hätte ihr alles erzählt, doch im selben Moment wurde ihr klar, daß niemand etwas davon erfahren durfte. Niemand. Und wie würde die Miß ihr morgen früh entgegentreten? Da war der Doktor. Warum konnte sie den nicht nehmen? Er war so ein feiner Mensch. Bei diesem hingegen war sie sich diesbezüglich gar nicht so sicher. Nein, absolut nicht. Ein verheirateter Mann mit Kindern. O Gott! Was sollte das nur werden? ... Am besten ginge sie jetzt gleich zu Bett. Der Miß wollte sie heute abend auf keinen Fall mehr begegnen.

»Sind Sie wach, Miß? Ich habe Ihnen den Tee gebracht.«

»Ja, Alice, ich bin wach. Danke schön.«

Emily schlug die Augen auf, und als sie Alice zur Tür gehen sah, rief sie sie zurück. »Alice, komm bitte einen Moment zu mir.«

Langsam ging Alice zum Bett zurück und blieb unsicher am Fußende stehen. »Du hast Mr. Steerman gestern abend durch den Hintereingang kommen sehen«, begann Emily. »Und du nimmst jetzt wahrscheinlich das Schlimmste an. Doch so stehen die Dinge nicht, Alice. Wir sind ... Freunde. Weiter nichts als Freunde. Wenn er jedoch an der Vordertür klingelte, würde das einen ganz falschen Eindruck erwecken. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, Miß.«

»Seine Frau und die Kinder sind auf dem Kontinent. Er ist ganz allein. Ja, auch wenn man reich ist, kann man einsam sein. Du bist jetzt sehr schockiert, Alice, nicht wahr?«

»Nein, Miß. Ich bin nicht schockiert. Ich weiß, daß ... diese Dinge passieren. Überall. Man muß nur den Prinzen anschauen. Aber ... aber ich mache mir Sorgen um Sie, Miß.«

»Ach, Alice, das brauchst du nicht. Es gibt nichts, worüber du dich sorgen müßtest. Er ist ein guter Freund. Genau wie Miß Forester. Wir haben uns im Urlaub angefreundet und möchten diese Freundschaft auch weiterhin pflegen. Aber er kann mich nicht so offiziell besuchen wie Miß Forester, das verbietet der Anstand. Verstehst du das, Alice?«

»Ja, Miß. Das verstehe ich wohl.«

»Und noch etwas, Alice«, fuhr Emily fort und nahm ihre Teetasse vom Nachttisch. »Bitte behalte das für dich.«

»Oh, natürlich behalte ich das für mich. Gewiß doch.«

»Danke, Alice.« Ihr Blick wanderte zum Fenster hin. »Die Sonne scheint; es wird ein herrlicher Tag werden. Ach, bestell bitte der Köchin, ich möchte nur gekochte Eier und Toast zum Frühstück.«

»Ja, Miß.«

Als sich die Tür leise hinter Alice geschlossen hatte, ließ Emily sich in die Kissen zurücksinken und machte die Augen zu. Sie hatte diese Hürde besser genommen als erwartet, und sie hatte in Alice eine Verbündete, was ein großes Glück war. Aber jetzt stand ihr eine noch sehr viel höhere Hürde bevor, die nicht so einfach zu nehmen sein würde...

Steves Besuch lag beinahe eine Woche zurück, doch wenn er das nächste Mal kam, mußte sie ihm offen sagen, wie die Dinge standen. Aber konnte sie ihm erklären, daß sie sich in einen verheirateten Mann mit drei Kindern verliebt hatte, der noch dazu aus allerbesten Kreisen stammte? Dessen Vater der angesehene Mr. William Anderson Steerman war, ein Mann von Rang und Namen? Nein. Nein, das konnte sie nicht. Sie wollte ihn nicht verletzen, besonders nachdem sie jetzt auch seine Familie kennengelernt und ihn durch sie ein wenig besser verstehen gelernt hatte.

Aber wie sollte sie es ihm dann erklären? Konnte sie sagen, er sei nur ein Freund – genau wie Sie, Steve –, aber er muß sich durch die Hintertür schleichen, weil die Gesellschaft so engstirnig ist?

Sie schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Diese spezielle Hürde würde sie nehmen, beschloß sie, wenn sie direkt davor stand ...

Als Steve sie nach zehn Tagen noch immer nicht besucht hatte, dachte sie: Er weiß es! Irgendwie mußte er es herausgefunden haben. Vielleicht hatte er aber auch nur zwei und zwei zusammengezählt, als sie an besagtem Sonntag die Visitenkarte gelesen und angesichts Pauls Namen weiß wie die Wand geworden war.

Warum sollte sie eigentlich keine Freunde haben dürfen? fragte sie sich weiter, nur um sich im nächsten Augenblick an die Stirn zu tippen und eine dumme Gans zu schelten. Aber er war doch nur ein Freund. Während der drei Besuche, die er ihr in der vergangenen Woche abgestattet hatte, hatten sie sich unterhalten, er hatte ihre Hand gehalten und sich mit einem Kuß verabschiedet. Mehr war nicht gewesen. Und am Ende seines dritten Besuches hatte er ihr gesagt, daß er die nächsten zwei, drei Wochen nicht zu ihr kommen könne, da er mit seinen Eltern und seiner Familie nach Schottland fahren müsse. Seltsam, obgleich sie in den letzten zwei Tagen unglaublich viel gearbeitet hatte, um der steigenden Nachfrage nach neuen Hutmodellen für die anstehende Rennsaison nachzukommen, spürte sie doch eine gewisse Leere in sich.

Trotz aller Mühe, Esther und Lena gegenüber ein ungezwungenes Verhalten an den Tag zu legen, hatte sie das Gefühl, daß die beiden sie neuerdings mit einem gewissen Mißtrauen beobachteten. Die Kameradschaft, die vor ihrem Urlaub zwischen ihnen bestanden hatte, existierte so nicht mehr. Und auch das trug mit dazu bei, daß sie nun, wenn sie abends in ihrem Bett lag, mit dem Gefühl einschlief, alle Bürden dieser Welt auf ihren Schultern zu tragen. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, daß die Bekanntschaft mit einem Mann ihr Leben plötzlich auf den Kopf stellen und Gefühle in ihr wecken sollte, die sie vorher nie für möglich gehalten hätte. Und doch spürte sie während seiner Besuche das beinahe unbezwingbare Verlangen, sich in seine Arme zu werfen und alles um sich herum zu vergessen. Nichts schien mehr von Bedeutung zu sein, wenn er bei ihr war, einzig der Wunsch, daß er bei ihr bliebe.

Jetzt stand sie in der Werkstatt neben Sarah Hubbart, die gerade einen Hut garnierte. »Nein, Sarah«, rief sie.

»Doch nicht die dunkelroten Rosen. Versuch es mit den roséfarbenen und steck sie auf das mauvefarbene Band. So -« demonstrierte sie es ihr.

»Ja, gut«, nickte Sarah. »Und Sie meinen, die dunkelroten passen nicht?«

»Nein, die beißen sich mit dem Mauve. Bring mal die hellgrünen Blätter und leg sie um die Rose. Ja, das ist gut. So machen wir es ringsherum. Aber nimm nur die kleinen Blüten, die sich gerade öffnen. Später kannst du ja dann noch ein paar Knospen dazwischenmogeln.«

An einem anderen Tisch saß Jean Felton und wollte wissen, wer die fünf Hüte ausliefern solle, die gerade fertig geworden seien.

»Wer ist denn das letztemal gefahren?«

»Margie, Miß.«

»Und was ist mit Amity?«

»Der wird in Droschken immer schlecht, sagt sie.«

»Nun, dann bleibt es wohl an dir hängen, Jean«, erwiderte Emily lächelnd.

»Ja, sieht so aus«, grinste Jean und war schon bei der Tür. Und als im selben Moment Alice hereinkam, sprang sie mit dem Ausruf »Platz da für die Kammerzofe!« zur Seite.

»Eines schönen Tages kriegst du von mir eins auf den Mund.«

»Ach ja? Und wann würde es der gnädigen Frau passen? Montag vielleicht?«

Hinter Alice erhob sich ein Kichern, als diese auf Emily zutrat und sagte: »Der Doktor ist da, Miß.«

»Danke, Alice. Ich komme sofort.«

Sie gab noch einige Anweisungen, bevor sie die Werkstatt verließ, langsam durch die Diele ging und die Verbindungstür zu ihrem Arbeitszimmer öffnete. Dort blieb sie einen Moment stehen, atmete ein paarmal kräftig durch und überlegte, was sie ihm sagen sollte. Ihr fiel nichts ein.

Als sie dann die Tür zum Wohnzimmer öffnete, stand Steve vor dem Kamin, drehte sich zwar zu ihr um, sagte aber nichts, bis sie neben ihm stand, und dann nur: »Wie geht es Ihnen?«

»Sehr gut, danke. Kann nicht klagen.« Und im selben spaßhaften Tonfall fragte sie: »Und selbst?«

»Wie immer. Danke der Nachfrage. Obgleich ich mich heute ausnahmsweise einmal herausgeputzt habe, wie Sie sicher bemerkt haben werden. Ich habe nämlich das Vergnügen, zwei junge Damen ins Theater und anschließend zum Dinner auszuführen.«

Emilys Brauen machten einen leichten Satz nach oben. »Lassen Sie mich raten: die Schwestern Braize?«

»Richtig geraten. Zwei äußerst interessante junge Damen, wenn man sie näher kennt.«

»Ja, ganz gewiß. Besonders die jüngere ... die immer so nett kichert.« Weshalb redete sie so? War sie etwa gekränkt, weil er mit diesen beiden altjüngferlichen Schwestern ausging? Lächerlich!

»Ihr Kichern, wie Sie es nennen, ist nur ein Zeichen von Nervosität. Sie ist Gesellschaft nicht gewöhnt. Die beiden führen ein sehr zurückgezogenes Leben.«

»Ich verstehe. Verzeihung, ich habe wieder einmal nach dem ersten Eindruck geurteilt... und das sollte man niemals tun.«

»Nein; da muß ich Ihnen recht geben.«

Er zupfte am Saum seines Jacketts und deutete dann auf den Tisch. »Ohne meine Tasche bin ich verloren. Gewöhnlich stelle ich sie hier ab. Aber ich denke, das erübrigt sich zukünftig, so blendend, wie Sie aussehen. Haben Sie Besuch von Ihrem neuen Freund erhalten während der letzten Tage? Er versprach doch, Ihnen seine Aufwartung zu machen, wenn ich die Köchin recht verstanden habe.«

Emily zog scharf die Luft ein, bevor sie antwortete: »Jawohl, ich hatte Besuch von meinen beiden neuen Freunden.«

»Von beiden?«

»Ja, genau das sagte ich. Von Miß Kate Forester und Mr....« Sie zögerte kurz. »Steerman.«

»Oh, Mr. Steerman?« Er legte den Kopf zur Seite, als ob er nachdächte. »Ein ungewöhnlicher Name, Steerman. Doch nicht etwa einer von den Anderson Steermans?«

Emily schwieg. Sie spürte, daß seine Stimme und sein Benehmen sie wieder einmal an ihrem wunden Punkt trafen.

»Na, wenn das so ist, dann steigen Sie ja ganz oben in die Gesellschaft ein. Ich weiß ein wenig über die Anderson Steermans; nur vom Hörensagen allerdings. Das Vergnügen, ein Familienmitglied kennenzulernen, hatte ich noch nicht. Mein Vater und der alte Steerman waren eine Zeitlang auf derselben Akademie. Aber das ist schon ein paar Jahre her. Offenbar besitzen sie ein großes Anwesen in Schottland und neben ihrem Stadthaus noch ein weiteres in Northumberland.« Er unterbrach sich. Sein Tonfall änderte sich, und seine Miene nahm einen besorgten Ausdruck an. »Wenn es sich um denselben Steerman handelt, dann hat er nur einen Sohn, und soviel ich weiß, ist dieser verheiratet.« Es folgte noch eine Pause, dann die Frage: »Ist er verheiratet, Emily?«

Sie wich einen Schritt zurück, bevor sie sich umdrehte und auf die Couch setzte. Er ließ sie nicht aus den Augen, kam dabei langsam auf sie zu, blieb vor ihr stehen und sagte ganz ruhig: »Haben Sie ... hegen Sie tiefere Gefühle für ihn?«

Als sie immer noch schwieg, verlangte er in einem Ton, der sie vor Schreck zusammenzucken ließ: »Antworten Sie mir!«

Jetzt starrte sie zu ihm hoch, dunkelrot im Gesicht. »Wie können Sie es wagen, mich so anzuschreien! Dazu haben Sie kein Recht!«

Er erhob seine Stimme nur um eine Nuance. »Sie wissen, warum ich es wage. Das habe ich Ihnen deutlich zu verstehen gegeben. Und Sie sitzen hier und erzählen mir, daß Sie Gefühle für einen Mann hegen, den Sie zufällig in einem Hotel kennengelernt haben und der überdies noch verheiratet ist! Erzählen Sie mir mehr darüber. Haben Sie vor, seine Mätresse zu werden? Denn dazu führen solche Verbindungen für gewöhnlich. Wissen Sie das nicht? Natürlich wissen Sie das. Sie sind kein Backfisch mehr; Sie kennen das Leben: Sie waren verheiratet und sind geschieden. Und doch sind Sie eine Frau, die man bewundern und in die man sich ... verlieben kann. Aber wie ich sehe, war das ein Fehler; ein ganz großer Fehler meinerseits.«

Er wandte sich ab. »Mein Gott!« murmelte er. »Ich kann es nicht glauben. Sie, eine Mätresse? Eine Hure?« Dann heftete sich sein Blick wieder auf sie. »Haben Sie sich schon einmal gefragt, welche Stelle Sie auf seiner Liste einnehmen? Es ist ja bekannt, daß diese Typen ihre Geliebten wechseln wie ihre Hemden.«

Emily hatte ihre Stimme wiedergefunden und war vom Sofa aufgestanden. »Ich bin nicht seine Geliebte!« fauchte sie wütend.

Steve sah zu Boden, holte ein paarmal tief Luft und sagte dann erheblich ruhiger: »Aber Sie erlauben ihm, Sie zu besuchen. Und Sie haben zugegeben, eine gewisse Zuneigung zu ihm zu empfinden: Das stand Ihnen im Gesicht geschrieben. Jetzt weiß ich auch, warum Sie so verstört aus diesem Urlaub zurückgekehrt sind und in den darauffolgenden Wochen immer unglücklicher wirkten: Er hat sich nicht gemeldet. Heute dagegen lag ein ganz anderer Ausdruck auf Ihrem Gesicht. Nun, jetzt wissen Sie über meine Gefühle Ihnen gegenüber Bescheid, und ich denke, ich habe das Recht, Sie zu bitten, ihn nicht wiederzusehen; mir zu versprechen -«

»Ich werde Ihnen überhaupt nichts versprechen«, schnappte sie. »Und darüber hinaus haben Sie kein Recht, in dieser Form mit mir zu sprechen. Ich mache mit meinem Leben, was ich will – und ich werde auch die Konsequenzen dafür tragen, daß Sie’s nur wissen.«

Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen, und die Haut spannte sich über seinen Wangenknochen, so angespannt war seine Miene. Zwischen zusammengepreßten Zähnen stieß er hervor: »Ich werde Ihren Namen auf Doktor Smeatons Patientenliste setzen.« Damit drehte er sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Emily ließ den Kopf in die Hände sinken, hielt sich die Ohren zu, konnte aber nicht verhindern, daß sie das Zuschlägen der Haustür wie ein Fausthieb traf. Anstatt sich auf die Couch zu werfen, ging sie wie in Trance im Zimmer auf und ab, und als die Tränen dann über ihre Wangen strömten, machte sie keinen Versuch, diese abzuwischen. Widersprüchliche Stimmen fochten einen erbitterten Kampf in ihrem Inneren aus. Sie haßte ihn. Wie konnte er es wagen, so mit ihr zu reden; sie eine Hure zu schimpfen! Wie ein Tagtraum stand ihr plötzlich eine Szene aus vergangenen Tagen vor Augen, als sie sich mit Mrs. Arkwright eines Abends nach einem Fabrikbesuch später als gewöhnlich auf den Heimweg gemacht und der Kutscher sie aus welchen Gründen auch immer durch dunkle Gassen chauffiert hatte. Sie erinnerte sich jetzt wieder genau an Mrs. Arkwrights Worte, als diese auf eine Gruppe spärlich bekleideter Frauen aller Altersstufen deutete, die mit eindeutigen Gesten um Kundschaft warben, und sagte: »Gott helfe ihnen. Wenn es nach mir ginge, würde ich ihre sogenannten Beschützer alle lynchen. Sieh dir die an! Die ist bestimmt noch keine vierzehn.«

Die Erinnerung an diesen Abend war ihr geblieben, und sie wußte genau, was hinter der respektablen Fassade dieser Stadt ablief.

Aber warum nur hatte sie plötzlich das Gefühl, etwas verloren zu haben? Etwas Gutes, Dauerhaftes. Und ging es ihn überhaupt etwas an, was sie tat? Er hatte kein Recht, ihr vorzuwerfen, sie sei Pauls Mätresse!

Aber sie würde es bald sein!

Nein! Nein! Das durfte nicht geschehen. Sie würde in Ungnade fallen; jeglichen Respekt verlieren. Und es wäre absolut verhängnisvoll, wenn ... wenn ...

Wenn was? Wenn was?

Es würde bedeuten, daß sie niemals wieder heiraten konnte. Nie eine Familie haben würde ... eine Familie wie die seine ... und einen so wunderschönen Sonntag verleben. Nein, es gab keine Sonntage mehr. Er war gegangen; hatte die Tür hinter sich für immer geschlossen...

»Was ist los, Miß? Was haben Sie denn? Hat er Sie beleidigt? Kommen Sie, setzen Sie sich. O mein Gott! Sie sind ja völlig außer sich. Soll ich Esther rufen?«

»Nein! Bitte nicht Esther.«

»Hier ist ein sauberes Taschentuch, Miß. Trocknen Sie sich die Tränen ab. Ja, so ist es gut. Soll ich Ihnen eine Tasse Tee bringen?«

Als Emily nickte, eilte Alice sofort aus dem Zimmer; aber draußen blieb sie einen Moment stehen, sah zur Haustür hinüber und murmelte halblaut vor sich hin: »Armer Doktor. Wenn sie doch nur zur Besinnung käme. Aber wer kann das schon bei einem Mann wie Mr. Steerman?«