Kapitel 11

»Die Politik ist wie eine Schaukel, Emily. Ein ständiges Auf und Ab, wie zwischen Disraeli und Gladstone. Erst sind die Liberalen oben, dann die Tories. In Bulgarien haben sich unglaubliche Greueltaten ereignet. Natürlich, wenn es Streit zwischen Türken und Christen gibt, müssen wir eingreifen; o ja, selbst bei Auseinandersetzungen zwischen Türken und Russen. Der Funke springt schnell von einem Feuer zum nächsten über. Und das geht fortwährend so weiter. Warum sollte ich also in der Regierung sitzen wollen? Können Sie mir das sagen, Emily?«

Sie lächelte und schwieg, wie sie es immer tat, wenn er über Politik sprach. Aber sie hatte eine Menge gelernt. Freilich, sie hätte diese Informationen auch den täglichen Zeitungen entnehmen können, aber sie fand nie genügend Zeit, diese sorgfältig zu studieren. So vieles passierte momentan in der Welt, und je mehr sie durch ihn darüber erfuhr, desto unwissender fühlte sie sich. Ihr war durchaus klar, daß sich ihr tägliches Leben in einer Art kulturellem Notstandsgebiet abspielte, wo sich die Gespräche nur um Bänder, Blumen und Krempen drehten. Zwei ihrer Arbeiterinnen konnten nicht einmal lesen und schreiben. Aber sie waren deshalb keineswegs dumm oder weltfremd. Und ein Mädchen, das sie kürzlich eingestellt hatte, Brigid McMahon, hatte ihr ganz stolz erzählt, daß sie in Abendkursen Dickens lese.

»Aber unser Wahlkreis besteht hauptsächlich aus armen Leuten, und es wird ein harter Kampf werden. Das ist alles Neuland für mich. Ehrlich gesagt, Emily, ich bin nicht sehr begeistert von der Idee, aber Vater besteht darauf, daß ich mich zur Wahl stelle. Wissen Sie, die Armen auf dem Land unterscheiden sich erheblich von den Armen in den Städten. Dienstboten spreche ich damit nicht an; die sind meist gut versorgt. Nein, ich spreche von Landarbeitern und solchen Leuten. Aber auch die bekommen Kost und Logis frei und Lohn ...«

»Ja, aber soviel ich gehört habe, können sie davon kaum existieren.« Emily war über sich selbst erstaunt, denn es war das erste Mal, daß sie eine seiner Aussagen in Frage gestellt hatte. Es war beinahe so, als diskutiere sie mit Steve.

»Ach, meine Liebe, was wissen Sie schon von Landarbeitern? Sie sind ein Stadtmädchen... eine junge Frau ... eine Dame... eine wunderschöne Lady. Und ich bin dumm genug, unsere kostbare Zeit mit politischen Reden über die Lebensbedingungen der Unterprivilegierten zu verschwenden. Ja, meine Teuerste«, er griff nach ihren Händen. »Sie müssen mich wirklich entschuldigen, aber ich kann mit niemandem so reden wie mit Ihnen, ich will es auch gar nicht. Und in gewisser Weise haben Sie sogar recht, wenn Sie meine Ansichten in Frage stellen. Sie sollten das viel öfter tun, denn ich weiß, Sie haben mehr Einblick in die Welt der Arbeiterklasse, als ich das hatte oder je haben werde.«

»Und dennoch werden Sie sie repräsentieren«, entgegnete sie lächelnd. »Wie Sie mir bereits sagten, befinden sich ja etliche Mühlen, Fabriken und eine Kohlengrube in Ihrem Wahlbezirk.«

Er lachte laut auf, preßte dann aber rasch eine Hand auf den Mund und spähte zur Tür. »Ist Alice schon schlafen gegangen?«

»Ja, vor einer ganzen Weile schon.«

»Ach, Emily.« Er rückte näher zu ihr heran. »Ich hasse dieses Versteckspiel genauso wie Sie. Wenn ich doch nur an der Vordertür klingeln und sagen könnte: ›Guten Abend, Alice. Madam erwartet mich. Oder noch besser -« Jetzt flüsterte er. »›Guten Morgen, Alice. Nein, danke, ich möchte nicht frühstücken; nur eine Tasse Kaffee.‹«

Sie schloß die Augen und murmelte: »Bitte, Paul. Bitte nicht.«

»Ich liebe dich, Emily«, sagte er und gebrauchte unwillkürlich das vertraute Du. »Ich wünschte, es wäre nicht so. Ich habe versucht, dich zu vergessen, aber das ist unmöglich. Eine Woche bin ich dir ferngeblieben, um diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten, erinnerst du dich? Aber es hat nichts genützt. Solange ich dich sehen, mit dir sprechen und deine Nähe spüren kann, sagte ich mir, soll mir das genügen. Aber es genügt mir nicht – wird mir nie genügen. Was sollen wir nur tun, Emily?«

»Ich... ich muß an meine Angestellten denken«, hörte sie sich sagen. »Ich könnte die Schande nicht ertragen, wenn...«

»Aber, aber. Welche Schande denn? Es muß doch niemand erfahren. Niemand hat die leiseste Ahnung, daß ich hier bin, oder?«

Ihre Stimme klang jetzt ein wenig schroff, als sie erwiderte: »Alice ist nicht auf den Kopf gefallen.«

»Nein, aber sie ist deine Zofe und scheint mir sehr diskret zu sein.«

»Sie ist im Grunde keine Zofe, sie ist eigentlich eine Hausangestellte.«

»Egal, was sie ist, jedenfalls scheint sie dir sehr ergeben zu sein, soviel ich gesehen habe.«

»So ergeben und diskret wie viele, aber jedem entschlüpft einmal eine Bemerkung. Außerdem, was ist, wenn ich ...«

»Wenn was, meine Liebe? Sag mir, wenn was?«

Sie wagte es nicht, ihn anzusehen, als sie sagte: »Wenn ich ein Kind erwarten würde.«

»O Emily, Emily. Das wird niemals passieren. Ich ... ich kann dir versichern, daß so was niemals geschehen wird. Es darf gar nicht geschehen ... o nein!«

Er zog sie in seine Arme und hielt sie fest umschlungen; und zum zweiten Mal seit ihrem Kennenlernen trafen sich ihre Lippen und verweilten aufeinander wie damals in der Höhle. Und als sie sich dann voneinander lösten, sank Emily in die Sofaecke und wisperte mit belegter Stimme: »Bitte, Paul, geh jetzt.«

»Ja, meine Liebste. Ich werde gehen. Aber morgen abend komme ich wieder.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, küßte sie noch einmal, ganz sanft diesmal, und flüsterte: »Bis morgen abend, mein Liebling.«

Sie sah ihm dabei zu, wie er den Mantel anzog, Handschuhe, Hut und Stock an sich nahm, dann stand sie auf und öffnete leise die Tür. Und obwohl das Zimmer der Köchin im Nachbarhaus lag und Alice oben unter dem Dach schlief, schlichen sie leise wie zwei Diebe den Flur entlang. An der Tür drehte sie sich zu ihm um, und er küßte sie ein letztes Mal zum Abschied.

Kaum hatte Emily leise die Tür aufgesperrt, wichen sie beide unwillkürlich einen Schritt zurück, als sie den dicken Nebel bemerkten, der wie Qualm in den Hausflur schwebte.

»Gütiger Himmel!« wisperte er. »So einen Nebel hat es um diese Jahreszeit noch nie gegeben. Man sieht ja nicht einmal die Hand vor Augen.«

»Auf der Straße brennen ja die Gaslampen. Vielleicht findest du eine Droschke. Die Kutscher führen normalerweise die Pferde am Halfter und schwenken eine Laterne. Gib mir die Hand. Ich finde den Weg zum Tor blind.«

Vor dem Tor stehend, spähte Emily die Gasse entlang, deren Ende gewöhnlich vom Schein der Straßenlampe erhellt wurde. Doch heute war da nichts außer einer gelblichgrauen Masse, die Emily den Atem verschlug und zum Husten reizte.

Leise zog sie Paul zurück in den Hof und legte wieder den Riegel vor. Immer noch seine Hand haltend, tastete sie sich zurück zur Hintertür, beziehungsweise in die Richtung, wo sie diese vermutete. Und als sie die Tür endlich gefunden hatte, schlüpften sie beide ins Haus zurück, erleichtert aufatmend und gegen den Hustenreiz ankämpfend.

Im Wohnzimmer entledigte Paul sich wieder seines Mantels, bevor er zu Emily trat, die vor dem Kamin stand und sich die Hände über dem Feuer rieb. Mit einer sanften Drehung zog er ihren zitternden Körper an sich, hielt sie eine Weile einfach nur in den Armen und flüsterte dann zärtlich: »Es scheint beinahe so, mein Liebling, als habe das Wetter unser Schicksal in die Hand genommen, was meinst du?«