Sie war glücklich. So glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben, einfach deshalb, weil sie nie zuvor so geliebt worden war. Und sie konnte sich nicht vorstellen, daß eine andere Frau jemals von einem Mann so geliebt wurde wie sie von Paul. Ihre Tage verbrachte sie jetzt damit zu warten, daß es Abend wurde. Wie oft waren sie im vergangenen Monat zusammen gewesen? Oh, sie wollte gar nicht nachzählen. Sie wußte nur eines: Wenn sie eine Nacht ohne ihn verbrachte, dann litt sie schrecklich. Und sie vermied es peinlichst, sich zu fragen, wo das alles hinführen oder wie es enden würde. Sie machte sich nicht einmal Gedanken, als ihre Monatsregel ausblieb, denn ihr Zyklus war schon immer sehr unregelmäßig gewesen. Das einzige, was ihr Kummer bereitete, war, daß er nach ihrem Beisammensein immer aufstehen und sie oft schon nach einer Stunde wieder verlassen mußte. Ein- oder zweimal war er an ihrer Seite eingeschlafen, und sie war versucht gewesen, ihn die ganze Nacht weiterschlafen zu lassen. Nur die Furcht, daß sie ebenfalls einschlafen und Alice ihn am nächsten Morgen in ihrem Bett finden könnte, hatte sie dazu bewogen, ihn zärtlich zu wecken.
Hatte Alice einen Verdacht? Aber wie sollte sie? Waren sie nicht immer sehr leise gewesen, und hatte Alice ihr nicht erzählt, daß sie einen extrem tiefen Schlaf habe? Außerdem ging sie stets vor zehn Uhr nach oben in ihr Zimmer. Aber was war mit Esther? Lag nicht schon seit Wochen eine Spur von Argwohn in ihrem Blick? Sie hatte als erste von allen die Veränderung an ihr bemerkt.
In letzter Zeit fiel es ihr zunehmend schwerer, ihre Gefühle zu verbergen und ihre übliche geschäftsmäßige Art beizubehalten, wenn sie in der Werkstatt oder im Verkaufsraum zu tun hatte; und besonders oben in der Änderungsabteilung, wo sie der Versuchung widerstehen mußte, nicht das eine oder andere Kleid für sich auszusuchen. Das hätte Esther und auch Lena gewiß stutzig gemacht, da sie alle Mühe hatten, die steigende Nachfrage der Kundinnen zu befriedigen.
Im Ankleideraum hörte Emily zufällig, wie Lena zu Esther sagte: »Siehst du? Da steht dieser Bursche schon wieder und schaut zu uns herüber. Neulich stand er doch auch schon dort.«
»Vielleicht ist es ein Bote.«
»Nein, das kann nicht sein, sonst würde er ja irgend etwas bringen oder abholen.«
»Ja, da magst du recht haben.« Esther legte die Schere aus der Hand und ging zum Fenster. Dann wandte sie sich an Emily, die gerade ein Mieder an einer Schneiderpuppe probierte. »Kommen Sie doch bitte mal einen Moment her, Emily. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wer das ist?«
Emily nahm zwei Stecknadeln aus dem Mund, steckte sie in das Nadelkissen, das sie an einem Gurt befestigt um die Hüfte trug, und ging ans Fenster. Nach einem kurzen Blick auf die Gestalt, die gegenüber auf dem Gehsteig stand, meinte sie: »Das ist kein Junge mehr. Der ist bestimmt schon sechzehn oder siebzehn. Außerdem ist er für einen Boten viel zu gut gekleidet. Er war schon einmal da, sagtest du?«
»Ja, letzte Woche. Aufgefallen ist er mir, weil er direkt vor unserer Tür stand, und als ich ihn fragte, ob er nach einer Hausnummer suche, starrte er mich so komisch an und ist dann einfach weggegangen. Haben Sie gehört, daß vor ein paar Tagen in Marlborough Terrace eingebrochen worden ist?«
»Na, wenn schon«, entgegnete Emily lachend und wandte sich vom Fenster ab. »Glaubst du, er hat es auf unsere Hüte abgesehen?«
»Immerhin haben wir immer Geld in der Kasse«, gab Lena zu bedenken.
»Richtig. Aber dem würden wir schon unsere Krallen ins Fell schlagen; der soll nur kommen«, kicherte Esther.
Emily sah noch einmal zu dem jungen Mann hinunter, der ganz offensichtlich den Eingang beobachtete, sich dann unvermittelt abwandte und wegging. Er hatte einen guten Gang, schritt kräftig aus, beinahe wie ein Soldat. Aber weshalb beobachtete er das Haus? Laut Aussage der Mädchen mußte es bereits das dritte Mal sein? Sie hatte plötzlich ein komisches Gefühl. Gewöhnlich schaltete man in einem solchen Fall die Gendarmerie ein. Sofern man nichts zu verbergen hatte, selbstverständlich.
Ohne ihre Arbeit an dem Mieder zu beenden, legte Emily den Gurt mit dem Nadelkissen ab und verließ wortlos den Raum. Dieses ungewöhnliche Verhalten veranlaßte die beiden Frauen, fragende Blicke auszutauschen, und Lena zu der Bemerkung: »Ich würde zu gerne wissen, was neuerdings mit ihr los ist. Sie benimmt sich so launisch wie eine Henne auf einem Gelege Gipseier.«
»Es ist wegen dem Doktor. Seit Wochen ist er jetzt schon nicht mehr hier gewesen. Das weiß ich von unserer Madam Alice. Ich habe sie ein bißchen ausgehorcht. Ob sie Streit gehabt hätten, hab’ ich sie gefragt, und sie meinte nur: ›Nicht mehr als üblich; die haben sich doch immer in der Wolle.‹ Aber weißt du, Lena, streiten ist nicht gleich streiten. Die beiden hatten gute Auseinandersetzungen, das weiß ich, weil ich sie einmal gehört habe. Und er mochte sie. Das konnte ich ihm an der Nasenspitze ablesen. Nun, es sprang einem nicht gleich ins Gesicht, aber du weißt, was ich meine. Diese hartnäckigen Auseinandersetzungen hatten nur den Zweck, seine Gefühle zu verbergen ... Sie ist eine Närrin.«
»Da stimme ich dir zu, Esther: Sie ist eine Närrin. Solche Männer, wie der Doktor einer ist, sind äußerst dünn gesät.« Sie stieß einen leisen Seufzer aus und fügte dann hinzu: »Wenn er doch nur sein Augenmerk auf mich lenken würde! Ich wäre zu allem bereit, und außerdem bin ich erst vierzig.« Der Knuff, den ihr Esther auf diese Bemerkung hin versetzte, war so kräftig, daß Lena gegen die Schneiderpuppe fiel und es gerade noch schaffte, diese am Umfallen zu hindern. »Schau nur, was du angerichtet hast! « rief Lena aus. »Stunden hat sie an dieses Mieder hingearbeitet, und jetzt sind ein paar Nadeln herausgefallen.«
Während sie mit vereinten Kräften versuchten, die Nadeln wieder an die richtigen Stellen zurückzustecken, meine Lena: »Ich frage mich andauernd, worauf es dieser Bursche wirklich abgesehen hat. Für nichts und wieder nichts steht er sich hier nicht die Beine in den Bauch, das ist mal sicher.«
Fertig angekleidet und zum Aufbruch bereit, saß Paul auf Emilys Bett, ihre Hände ruhten in den seinen, und seine Stimme klang belegt, als er sagte: »Am Tag bist du wunderschön, Emily, aber nachts bist du eine Offenbarung. Wie soll ich nur die nächsten Tage ohne dich überstehen?«
»Wie lange wirst du fortbleiben?«
»Das kann ich nicht vorhersagen, Liebling ... diesmal nicht. Vaters Geburtstag ist das Ereignis des Jahres schlechthin. Ach, meine Geliebte, du glaubst ja nicht, wie ausdauernd meine Familie zuweilen sein kann. Die Feiern nehmen kein Ende; immer dieselben Gesichter, dieselben langweiligen Gespräche, dieses geistlose Geplapper. Obwohl -« Er schnitt eine Grimasse. »Dieses Jahr wird es ein bißchen anders sein. Da werden im Rauchsalon politische Diskussionen stattfinden, und die Alten werden mich mit Ratschlägen überhäufen, wie ich mein zukünftiges politisches Leben zu meistern habe. Aber -«
»Wird es eine Woche dauern, zwei oder...?«
»Ja, zwei Wochen, schätze ich; zwei öde Wochen ohne dich.« Er griff unter ihren Nacken, hob ihr dichtes Haar an und breitete es auf dem Kopfkissen aus. »Deine Haare sind wie Flügel.«
»Wird deine ganze Familie dort sein?«
Seine Brauen machten einen Satz, als er antwortete: »Ja ... ja. Selbstverständlich, meine Liebe.«
»Ich meine die Kinder.«
»Oh, die Kinder? Ja, natürlich. Aber ich werde wenig von ihnen haben; sie sind meistens oben im Kinderzimmer.«
»Sprichst du nie mit ihnen?«
»Nun ja, ehrlich gesagt sehe ich sie nur selten, obwohl mir das nicht gefällt. Ich erinnere mich, ich war sieben, als ich meine Mutter zum ersten Mal sah. Sie war ›Mama‹, eine Lady, die meinen Kopf tätschelte und ›Sei ein guter Junge‹ sagte. Und ich war zwölf, als ich meine erste Unterhaltung mit meinem Vater hatte. In gewissen...« Er verkniff sich den Ausdruck ›Schichten‹ und sagte stattdessen: »... Haushalten bleiben die Kinder im Kinderzimmer, bis sie ins Internat kommen; die Jungen mit sieben, die Mädchen mit neun. In einer normalen Familie kennen die Kinder ihre Eltern, aber wir wurden von Gouvernanten großgezogen. Und in meinem Haushalt ist es nicht anders; deshalb glaube ich, werde ich von meinen Kindern im Allgemeinen nicht viel sehen. Natürlich gibt es Ausnahmen. Sollte sich mein Sohn zum Beispiel mit vier oder fünf Jahren ein Pony wünschen, so werde ich selbstverständlich mit ihm ausreiten.«
Sie wollte ihn daran erinnern, daß er einmal behauptet hatte, die Zeit mit seinen Kindern zu genießen, aber sie kam nicht dazu, denn er fuhr fort: »Na ja, jetzt weißt du wenigstens, meine Liebe, daß nichts und niemand die Stunden füllen kann, die wir getrennt sind. Ich wünschte nur«, seufzte er, »ich könnte dich irgendwohin mitnehmen und dich ganz für mich allein haben. Und daß ich nicht mehr durch die Hintertür zu dir schleichen muß, sondern durch die Vordertür kommen und dich in meine Arme schließen kann. Hast du je daran gedacht, dieses Geschäft aufzugeben und irgendwo an einem ruhigen Ort ein Haus zu nehmen, wo wir uns nicht so zu verstecken brauchen?«
Sie setzte sich langsam auf, bis sich ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit seinem befand, und fragte dann ganz ruhig: »Wenn ich das täte, würdest du dann jeden Tag und jede Nacht bei mir sein?«
»Ach, mein Liebling!« Aus seiner Stimme sprach tiefstes Bedauern. »Du weißt, wie die Dinge stehen. Du weißt, daß ich gebunden bin. Das habe ich dir doch schon alles erklärt. Und eines ist sicher: Sie wird sich niemals von mir scheiden lassen, ganz gleich, was ich tue. Und sie würde mir umgekehrt auch niemals einen Anlaß bieten, mich von ihr scheiden zu lassen. Sie ist klug und hartnäckig. Und dann ist da noch mein Vater. Er ist ein sehr autoritärer Mann, seine Familie bedeutet ihm alles. Und meine Karriere. Ich liebe meinen Vater sehr, aber ich weiß andererseits auch genau, daß seine Liebe zu mir und sein Interesse an meiner politischen Karriere eng mit seinem Bestreben verbunden sind, mein Leben mitzuleben. Er war in der Politik nie sehr erfolgreich. Was Geschäfte und Geldverdienen anbelangt, ja, da hatte er Erfolg, aber dieses Geschäft wurde ihm von seinen Vorfahren quasi schon in die Wiege gelegt, und das nötige Kapital dazu. Du siehst also, meine Liebste, ich bin in vielerlei Hinsicht gebunden. Du bist meine einzige Freiheit. Aber darüber reden wir ein andermal. Eines weiß ich allerdings gewiß: Ich könnte dich niemals aufgeben.«
Als sie daraufhin sein Gesicht in ihre Hände nahm und mit weicher Stimme flüsterte: »Ich auch nicht. Für mich gibt es nur dich«, antwortete er: »Und für mich gibt es nur dich.«
Leise schloß sich die Tür hinter ihm. Emily lehnte sich zurück, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, und als die Tränen zwischen ihren Fingern hindurchzusickern begannen, fragte sie sich, warum ihr das Schicksal eine solche Liebe beschert hatte, wenn sie diese nur im Verborgenen leben durfte – ohne die Aussicht, daß sich je etwas daran ändern würde. Sie drehte sich zur Seite und preßte das Kissen, auf dem eben noch sein Kopf geruht hatte, ganz eng an sich.
An dem Morgen, als sie zum ersten Mal diese Übelkeit überkam, kniff sie die Lippen zusammen, so fest sie konnte, denn sie wußte, wenn sie diese nur einen Spalt öffnete, würde der verzweifelte Schrei »Nein! Nein!«, der in ihrem Kopf widerhallte, unwillkürlich seinen Weg nach draußen finden. Er hatte gesagt – nein, er hatte ihr versprochen –, daß sie nichts zu befürchten habe. Nichts. Nein, hatte er gesagt, das wäre das letzte, was er wollte. Aber warum dann? Warum? Es war sieben Wochen her, seit er zum ersten Mal neben ihr in diesem Bett gelegen hatte.
Unvermittelt schoß sie hoch und blieb kerzengerade sitzen. In der Nacht, als der dichte Nebel sie überrascht hatte, da war er unvorbereitet zu ihr gekommen. Aber... konnte es da passiert sein? Ja. Genau in dieser Nacht war es passiert. Ihre Regel war schon lange überfällig. O Gott! Was sollte sie jetzt tun? Diese Schande! Ein uneheliches Kind. Sie mußte nachdenken. Ganz ruhig überlegen. Und ihre Angestellten ... sie würde jeglichen Respekt verlieren.
Sie könnte das Kind woanders zur Welt bringen. Aber einfach acht Monate oder mehr verschwinden? Die Leute waren nicht dumm. Warum kam er bloß nicht? Er war jetzt schon über zwei Wochen fort. Warum hatte er ihr nicht wenigstens geschrieben? Sie hörte ein Klopfen an der Tür. Alice kam mit dem Morgentee herein. »Oh, Sie sind schon wach?« begrüßte sie sie. »Ein wunderschöner Tag heute. Was ... was haben Sie denn, Miß? Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Alice konnte gerade noch das Tablett abstellen, ehe sie von Emily zur Seite geschubst wurde, die an ihr vorbei zum Waschtisch stürzte und sich übergab.
Alice feuchtete rasch ein Handtuch an, um ihrer Herrin damit das Gesicht abzutupfen, doch Emily riß es ihr förmlich aus der Hand und murmelte: »Es... es geht schon wieder. Ich muß etwas Falsches gegessen haben.«
»Wahrscheinlich der Fisch gestern abend, Miß. Ich mag Seehecht auch nicht besonders; Kabeljau ist mir da schon lieber. Legen Sie sich noch einmal hin und trinken Sie Ihren Tee. Tee ist in solchen Situationen nie verkehrt.«
Emily ließ sich zum Bett führen und von Alice zudecken. Der Tee, der eben noch diesen Brechreiz ausgelöst hatte, tat ihr jetzt gut. Als sie die Tasse ausgetrunken hatte, reichte sie diese Alice mit der Bemerkung: »Sag Esther nichts davon. Die ... macht mich sonst nur nervös.«
»Nein. Nein, Miß.«
Kaum war Alice aus dem Zimmer gegangen, da ließ Emily wieder den Kopf in ihre Hände sinken und dachte: Wenn es doch nur der Fisch wäre! Großer Gott, was mache ich jetzt nur...?
Am zweiten, dritten und auch an diesem vierten Morgen schaffte sie es noch rechtzeitig, das Badezimmer am Ende des Flurs zu erreichen, und als sie anschließend in ihr Zimmer getaumelt kam, wo Alice sie erwartete, setzte sie sich auf ihr Bett und stieß einen tiefen Seufzer aus: »O Alice.«
»Es wird alles gut, Miß«, tröstete sie diese und fuhr dann in verändertem Tonfall fort: »So was passiert nun mal. Niemand will es, aber man kann auch nichts dagegen machen. Dem Mädchen, mit dem ich aufgewachsen bin, ist das auch passiert. Und die war erst fünfzehn.«
Emily hob den Kopf. »Fünfzehn?« wiederholte sie. »Und was geschah mit ihr?«
»Nun, sie mußte ins Armenhaus ziehen. Meine Pflegemutter hat sie rausgeschmissen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Miß.«
Emily verspürte den beinahe hysterischen Zwang zu lachen. Es hörte sich an, als habe Alice damit sagen wollen: »Keine Angst, wir stecken Sie nicht ins Armenhaus.« Sie fühlte sich krank; aber es war nicht nur die Übelkeit, die ihr zu schaffen machte, sondern dieses schreckliche Gefühl, das sie nun den ganzen Tag über beherrschte. Wenn sie doch nur etwas dagegen einnehmen könnte. Wenn doch nur Steve noch kommen würde ...
Steve ... Was würde der wohl denken? Sie sah sich wieder an diesem wunderschönen Sonntag mit seiner Familie um den großen Eßtisch sitzen. Ja, in ihrer Erinnerung war dieser Sonntag noch immer wunderschön. Und wohin hatte er geführt? ... Dazu ...
Was sollte sie nur tun?
Warum kam er nicht zurück? Mittlerweile waren schon drei Wochen vergangen. Und wenn er nun überhaupt nicht mehr käme? Das kam vor: Männer wurden ihrer Geliebten überdrüssig. O Gott, was wälzte sie nur für törichte Gedanken! Bei ihnen war das doch etwas ganz anderes ... sie liebten sich und hätten unter anderen Umständen geheiratet ... Was sagte Alice da?
»Ich glaube, Sie sollten es Esther erzählen, Miß. Sie wird sich darüber freuen ... äh, ich meine, sie wird Ihnen bestimmt gerne helfen wollen. Außerdem, wenn man es dann sieht...«
»Sei still, Alice. Bitte schweig!« rief Emily verzweifelt, stand vom Bett auf und begann, im Zimmer umherzugehen ... Es Esther erzählen, weil man es bald sehen würde! Sie blieb stehen. Ja, gerade war ihr klar geworden, daß es die Reaktion ihrer Angestellten war, wovor sie sich am meisten fürchtete. Hätte sie alleine gelebt, so hätte sie sich mit der Situation abgefunden, denn ein Kind hatte sie sich schon lange gewünscht. Ja, das war ihr Wunschtraum gewesen, als sie damals Jim heiratete; aber nicht nur ein Kind wollte sie mit ihm haben, nein, zwei, drei, eine richtig große Familie.
Aber da waren ja nicht nur ihre Angestellten, sondern auch die Nachbarn. Die meisten hatten sie als Geschäftsfrau akzeptiert. Sie besuchten sie zwar nicht, grüßten auf der Straße jedoch stets höflich. Auch wenn sie ohne Begleitung unterwegs war, was diese Damen selbstredend nie wagen würden, da es bedeutete, sich mit den Dienstboten auf eine Stufe zu stellen.
Ach, zum Teufel mit den Nachbarn! Zum Teufel mit den Angestellten! Sie würde ein Kind bekommen, sein Kind, und es würde ein wunderbares Kind werden. Komme, was wolle, sie würde sich dessen nicht schämen. Jetzt drehte sie sich zu Alice um. »Hat Esther dich ausgefragt?«
Alice schüttelte den Kopf und schürzte dann die Lippen. »Sie will immer alles wissen, Miß. Aber sie macht sich auch Sorgen um Sie, deshalb, meine ich, sollten Sie sie einweihen.«
Emily setzte sich in einen Sessel und sagte nach kurzem Schweigen: »Ich glaube, ich kann es ihr nicht sagen, Alice. Es wird gewiß ein unglaublicher Schock für sie sein... für alle hier. Und ich weiß, daß ich damit jeden Respekt verlieren werde...«
»Nein, das würden Sie nicht, Miß. Sie kann ja manchmal ein Biest sein, die Esther, aber sie und alle anderen werden zu Ihnen halten, wenn man sie darum bittet. Aber wenn sie den ersten... Schock überwunden haben, und ein Schock wird es sein, da brauchen wir uns nichts vorzumachen, werden sie ...«
»War es ein Schock für dich, Alice?«
»Ja und nein, Miß. Ich wußte, daß er Sie besuchte.«
»Du hast es gewußt? Aber wie hast du es ...«
»Nun ja. Miß ... Geräusche, wissen Sie. Mein Bett steht genau über dem Flur. Normalerweise ist es nachts im Haus so still wie in einer Gruft... und das kleinste Geräusch ... nun, die Tür quietscht ein bißchen.«
Über das Gesicht des Mädchens huschte ein Lächeln und löste bei Emily wieder einmal das Bedürfnis aus, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen und sich von ihm trösten zu lassen. Doch statt dessen streckte sie ihre Hand aus und sagte: »Du bist mir wirklich eine Freundin, Alice; darf ich dich deshalb bitten, zu gegebener Zeit mit Esther zu sprechen? Ich selbst bringe es einfach nicht fertig. Sie wird so schockiert sein. Alle.«
»Aber nein, Miß; solche Dinge passieren überall. Machen Sie sich keine Gedanken. Nur ... ich finde, Sie sollten sich untersuchen lassen ... oder, falls Sie das nicht möchten sich wenigstens etwas gegen die Übelkeit aus der Apotheke holen. Es gibt da ein Mittel, das meiner Pflegemutter ganz gut geholfen hat. Etwas, um den Magen zu beruhigen. Und wenn die Übelkeit nachläßt, werden Sie sich auch wieder besser fühlen ... anders zwar, aber gut. Soll ich später mal in die Apotheke laufen?«
»Ja bitte, Alice. Das wäre nett von dir. Und wenn du schon ausgehst, könntest du mir dann vielleicht noch einen Gefallen tun und beim Grossisten vorbeigehen und dort eine Nachricht von mir abgeben? Ich habe um elf Uhr einen Termin mit Mr. Burton, den ich absagen möchte. Es liegt nicht gerade auf dem Weg, aber du kannst ja eine Droschke nehmen.«
»Das ist nicht nötig. Ich kenne jede Menge Schleichwege und bin zu Fuß viel schneller als jede Droschke«, erwiderte sie und lachte kurz auf. »Und billiger kommt es Sie außerdem.«
Eine Stunde später – Emily war gerade beim Ankleiden – klopfte es an ihrer Tür, und Esthers Stimme fragte: »Kann ich hereinkommen?«
»Ja, Esther.«
Emily streifte sich den zweiten Unterrock über, und als sie ihn hinten am Rücken zuschnürte, erkundigte sich Esther: »Wie fühlen Sie sich heute?«
»Oh, schon viel besser.«
»So sehen Sie mir aber nicht aus. Sie sollten lieber den Doktor kommen lassen.«
»Es ist alles in Ordnung, Esther.«
»Wo ist sie hingegangen?«
»Wer denn?«
»Na, Ihre Zofe.« Das Wort ›Zofe‹ troff nur so vor Sarkasmus.
»Ich habe sie mit einer Nachricht zum Grossisten geschickt.«
»Alice? Aber sonst erledigt doch Jean gewöhnlich diese Wege.«
Emilys Stimme klang jetzt eine Spur schärfer. »Sie hatte noch eine andere Nachricht für mich zu überbringen, und so habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Findest du daran irgend etwas ungewöhnlich?«
»Ja, finde ich, wenn Sie mich schon danach fragen. Botschaften zu überbringen ist bei uns immer etwas Besonderes und meistens mit einer Droschkenfahrt verbunden. Und noch etwas. Diese Alice wird langsam ein bißchen größenwahnsinnig. Demnächst wird hier eine Stunde der Wahrheit stattfinden. Ich sag’s Ihnen bloß.« Damit machte sie kehrt und marschierte aus dem Zimmer. Emily’ ließ sich erschöpft auf ihr Bett fallen.
Stunde der Wahrheit... die schlägt eher, als du denkst, Esther. Seltsam, sie schien von fürsorglichen Menschen umgeben, und doch fühlte sie sich so allein... wie auf einer Insel. Nein! Eher wie in einem Gefängnis.
Warum kam er nur nicht? Wochen waren inzwischen verstrichen, ohne die geringste Nachricht von ihm. Aber er hatte ihr doch erklärt, daß es schwierig sei, ihr zu schreiben, wenn er bei seiner Familie weilte.
Als sie fertig angekleidet war, warf sie einen Blick auf ihr Spiegelbild. Ihr milchiger Teint schien etwas von seiner Wärme verloren zu haben und wirkte jetzt eher teigig; und ihre Augen lagen in tiefen Höhlen, die sie noch größer erscheinen ließen. Er hatte gesagt, sie sei wunderschön, aber von Schönheit konnte sie jetzt keine Spur mehr an sich entdecken. Ihr Gesichtsausdruck verhieß schiere Angst. Aber hatte sie sich nicht immer wieder eingeschärft, sich nicht zu fürchten; dieses Kind zu bekommen, weil sie es sich wünschte? Sie wollte etwas ganz für sich allein haben. Etwas Beständiges ... Sie verscheuchte den Gedanken, daß die Beziehung zu dem Vater dieses Kindes möglicherweise nicht von Dauer sein könnte. Doch so einfach ließ sich dieser Gedanke nicht verscheuchen. Warum nicht? beharrte ihre innere Stimme. Die meisten Männer in seiner Position hatten eine Geliebte; viele von ihnen waren sogar gesellschaftlich akzeptiert. Aber sie wollte nicht als seine Geliebte akzeptiert werden, sie wollte einfach nur ihn. O ja, sie wollte ihn; mehr noch, sie verzehrte sich nach ihm.
Sie wandte sich vom Spiegel ab, setzte sich in den Lehnstuhl am Fenster und sagte sich, daß sie jetzt unmöglich nach nebenan zu den anderen gehen konnte. Die redeten gewiß schon über sie, weil sie sich in den letzten Wochen so seltsam benahm und nur noch selten lachte oder mit ihnen plauderte.
Mit einem Seufzer lehnte sie sich zurück, schloß die Augen und versuchte, die Zukunft auszusperren, und merkte dabei nur, daß sie sich nach der Vergangenheit zu sehnen begann.
Als ob sie auf sie gewartet hatte, fing Esther Alice noch an der Haustür mit der Frage ab: »Und wo ist das gnädige Fräulein gewesen?«
»Draußen, sonst könnte ich ja wohl kaum reinkommen, oder?«
»Spar dir deine Frechheiten. Ich hab’ allmählich die Nase voll von dir. Was soll das alles bedeuten?« fauchte Esther und hielt Alice am Arm fest, worauf diese zurückfauchte: »Fassen Sie mich nicht an!«
»Erst will ich von dir wissen, was da oben vor sich geht... oh!« rief sie, als Alice ihre Hand wegschlug. »Du kleine Teufelin! Du wagst es, mich zu schlagen?«
»Ja, und das nächste Mal schlage ich richtig zu, wenn Sie das noch einmal tun. Außerdem haben Sie recht, da oben geht wirklich etwas vor. Und ich hätte es Ihnen schon längst erzählt, wenn Sie mich anständig behandelt hatten. Ich bin kein Küchenmädchen mehr, und das können Sie nicht verwinden, nicht wahr?« Alice trat einen Schritt zurück, bevor sie ungerührt fortfuhr: »Also, es gibt tatsächlich Neuigkeiten, und diese werde ich Lena und Ihnen nachher mitteilen. Wir sehen uns in einer Viertelstunde nebenan«, erklärte sie und fügte mit einer Geste und in einem Tonfall, als sei sie die Herrin im Haus, hinzu: »Außerdem möchte ich Ihnen beiden dringend raten, sich hinzusetzen, bevor ich anfange zu berichten.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt, ließ Esther mit offenem Mund stehen und ging nach oben.
Noch in Hut und Mantel betrat sie Emilys Schlafzimmer und gab ihrer Herrin, die immer noch am Fenster saß, die versprochene Medizin. »Vielen Dank«, murmelte Emily, nahm das Fläschchen und studierte das Etikett. »Beseitigt garantiert alle Beschwerden wie Übelkeit, Magenschmerzen, Schwindel und Fieber«, las sie und starrte dann Alice an, die mit ruhiger Stimme erklärte: »Er wird heute abend kommen, Miß.«
»Was? Was sagst du da?«
»Ich meine Mr. Steerman. Ich sah ihn eben. In einer Droschke. Er ist ja nicht zu verwechseln; hab’ ihn mir auch noch mal genau angeschaut, bevor er weiterfuhr.«
Emily schloß die Augen und seufzte. »Unglaublich, daß du ausgerechnet ihm begegnet bist, bei den Tausenden von Menschen in der Stadt.«
»Komisch, nicht? Das habe ich mir auch gedacht. Aber jetzt hole ich Ihnen erst mal eine Tasse Kaffee ... und dann gehe ich nach nebenan.« Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. »Ich sollte doch die anderen einweihen, sagten Sie vorhin, und ich denke, ich werde es am besten gleich tun. Esther ahnt bereits, daß irgend etwas mit Ihnen nicht stimmt.«
Emily sah Alice eine Weile schweigend an. »Allmählich beginne ich zu glauben, daß uns jemand bei unseren Entscheidungen den Weg weist, bei manchen zumindest. Im Augenblick wüßte ich wirklich nicht, was ich ohne dich anfangen sollte, Alice.«
Alices Lächeln kehrte zurück. »Ach, da hätte sich schon jemand gefunden. Solche wie mich gibt es eine Menge in London, die nur auf die Gelegenheit warten, sich als nützlich zu erweisen. Ich hatte einfach Glück. Also, ich hole jetzt den Kaffee.«
»Danke, Alice. Danke für alles.«
»Da gibt es nichts zu danken, Miß«, erwiderte Alice und drehte sich, vor Verlegenheit ein wenig rot geworden, rasch um und verließ das Zimmer. »Sie glaubt, sie hat Glück gehabt«, murmelte Emily vor sich hin. »Ja, Glück hängt immer davon ab, was man vom Leben erwartet.«
Und sie hat ihn gesehen. Sie hat sich gewiß nicht getäuscht. Und wenn er in der Stadt ist, dann kommt er bestimmt so schnell wie möglich zu ihr – heute abend!
Sie erhob sich aus dem Stuhl und betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Ihre Wangen hatte etwas Farbe bekommen, und die Schatten unter ihren Augen waren verschwunden.
»Warte einen Augenblick, Alice. Lady Steele ist nebenan; sie ist schon am Gehen. Esther bringt sie nur noch rasch zur Tür«, sagte Lena.
Die beiden warteten und lauschten dabei den Stimmen, die aus dem Nebenzimmer zu ihnen herüberdrangen. »Ich muß mich jetzt auf den Weg machen«, hörten sie Lady Steel sagen. »Ich treffe mich nämlich anschließend mit meiner Schwägerin bei Claridges.«
»Claridges«, raunte Lena Alice zu, »und keinen Penny in der Tasche. Gott allein weiß, wie die jetzt so über die Runden kommen. Früher sind sie im Geld geschwommen. Ja, ja, das kommt davon, wenn man sein Geld in Goldminen steckt. Aber sie ist immer noch eine Lady, da gibt’s nichts. Also, gehen wir hinein. Du hast uns etwas zu sagen, habe ich gehört.«
Alice folgte der rundlichen, nicht mehr ganz jungen Lena in den Ankleideraum, die sofort mit der Bemerkung. »Wir hatten Anweisung, uns zu setzen« auf die Couch zusteuerte. »In einer Minute werden Sie auch wissen, warum«, war Alices knappe Antwort.
»Ich kann es kaum erwarten.«
Nachdem Alice nicht aufgefordert worden war, ebenfalls Platz zu nehmen, blieb sie, die Hände auf eine Stuhllehne gestützt, stehen und hörte Lena zu, die sagte: »Du hast dich da drüben ja ganz hübsch eingenistet. Aber ich mache dir daraus keinen Vorwurf; naja, unter der Köchin hast du’s ja auch nicht gerade leicht gehabt. Esther sagt, dein Aufstieg sei dir zu Kopf gestiegen, und du würdest dich manchmal vergessen. Über deinen Urlaub habe ich zwar nicht viel erfahren, aber ich denke mir, daß man dir dort diese Flausen beigebracht hat... Ah, da bist du ja«, wandte sie sich jetzt an Esther, die gerade hereinkam. »Ich sitze bereits. Komm, folge unserer Anweisung und setz dich neben mich.«
Esther tat, wie ihr geheißen, sah Alice dann auffordernd an und meinte: »Also, schieß los. Bin gespannt, was du uns über unsere Herrin und die Vorgänge nebenan berichten kannst, was wir nicht schon längst wissen. Nun, wir sind ganz Ohr.«
Esthers Art brachte Alice sofort wieder auf die Palme. »Am liebsten würde ich auf der Stelle gehen und Sie Ihren geheimen Vermutungen überlassen.«
Die beiden Frauen auf dem Sofa warfen sich ob der Unverschämtheit dieses Mädchens, das noch vor wenigen Monaten eine Dienstmagd gewesen war, erstaunte Blicke zu.
»Sie können mich wohl nie zufriedenlassen, wie?« Alice senkte den Kopf, und als ihr die Tränen in die Augen stiegen, meinte Lena mit weicher Stimme: »Ist schon gut, Kleine. Es ist bestimmt nicht allein deine Schuld. Lassen wir das. Also, was hast du uns zu berichten?«
Alice blinzelte ein paarmal, sah dann von einer zur anderen und erklärte: »Sie bekommt ein Kind. Sie ist schwanger.«
Wenn in diesem Augenblick jemand mit gezogener Pistole ins Zimmer gestürzt wäre, sie hätten nicht schockierter sein können. Esther und Lena starrten sich fassungslos an und suchten instinktiv die Hand der anderen, um sich daran festzuhalten. Es war Lena, die als erste Worte fand: »Und ein Irrtum ist ausgeschlossen?«
»Ja, ein Irrtum ist ausgeschlossen, Lena. Seit vier Tagen übergibt sie sich jeden Morgen.«
»O mein Gott! « Esther hielt sich die Hand vor den Mund und lehnte sich zurück. »Mir wird selbst gleich ganz übel«, sagte sie und schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Nicht sie!« Und an Lena gewandt: »Was machen wir jetzt?«
»Frag mich nicht.« Lena zuckte hilflos mit den Schultern. »Was sie macht, darauf kommt es an.«
Ihrer beider Blicke hefteten sich wieder auf Alice, und ihre Frage kam wie aus einem Mund: »Ja... und was macht sie jetzt? Läßt sie es ... wegmachen?«
»Nein. Sie möchte es bekommen, soviel ich weiß.«
»Von wem ist es denn?«
Da Alice Lena nur stumm anblickte, antwortete Esther an ihrer Stelle: »Vom Doktor natürlich.«
»Nein. Nein, nicht vom Doktor.«
Wieder warfen sich die beiden Frauen staunende Blicke zu und starrten dann das Mädchen an, das über die Stuhllehne gebeugt vor ihnen stand und mit ruhiger Stimme erklärte: »Der Doktor hätte sie niemals in eine solche Situation gebracht. Der Doktor ist ein Gentleman.«
»Und wer ist dann der Herr, der sie in diese Situation gebracht hat?«
Wieder senkte Alice den Kopf und murmelte: »Jemand, den sie im Urlaub kennengelernt hat.«
Lena sprang auf. »Der Mann, den die Köchin neulich samstags hereingelassen hat? Und der dann am nächsten Tag wiederkam? Aber da kann es nicht passiert sein. Ist es ... im Urlaub passiert?«
Alice seufzte tief. »Nein, nicht im Urlaub. Und... sie hat sich wirklich um Abstand bemüht. Aber dann haben sie sich doch ... angefreundet, und ... nun, solche Dinge passieren eben.«
»Stammt er aus der Oberschicht?«
»Ja, Lena. Er ist ein Sir.«
»Und, wird er sie heiraten?«
Als Esther und Alice sie daraufhin nur schweigend ansahen, fuhr Lena fort: »Vielleicht heiratet er sie nicht, weil sie eine arbeitende Geschäftsfrau ist. Diese Leute heiraten meist nicht unter ihrem Stand. Oder ... ist er etwa schon verheiratet?«
»Ja. Ja, er ist verheiratet.«
»Gütiger Himmel! Ausgerechnet unsere Miß! Die so vernünftig ist, so stolz ... so klug und schön; sie hätte jeden anderen Mann haben können.«
»Nein, jeder hätte ihr auch nicht gepaßt«, warf Esther ein. »Den Doktor hätte sie haben können; er war bereit und willig. Ja, und aus einer angesehenen Familie stammt er auch. Aber freilich nicht aus allerersten Kreisen... Kommt dieser denn aus allerersten Kreisen?« erkundigte sich Esther bei Alice, die daraufhin nickend erklärte: »Ja, das kann man sagen. Er stammt wirklich aus allerersten Kreisen.«
»Aber wo treffen sie sich? Kommt er jeden Tag hierher? Wie heißt er denn überhaupt?« wollte Esther jetzt wissen.
»Das ... das kann ich nicht sagen.«
»Warum nicht? Du hast uns doch ohnehin schon alles erzählt.«
»Das fragen Sie sie besser selbst«, entgegnete Alice.
»Ich weiß gar nicht, wie ich ihr gegenübertreten soll.«
»Versuchen Sie möglichst freundlich zu ihr zu sein. Das braucht sie jetzt. Sie ist völlig aus dem Gleichgewicht und fühlt sich furchtbar elend, innerlich und äußerlich. Und sie macht sich schreckliche Sorgen darum, wie Sie diese Nachricht aufnehmen werden. Also, seien Sie bitte freundlich zu ihr.«
Wieder waren die Blicke der beiden Frauen auf Alice gerichtet, als Lena sagte: »In Ordnung, Alice. Keine Bange, wir werden es ihr so leicht wie möglich machen. Und um die anderen kümmere ich mich schon. Keiner wird sie im Stich lassen, das weiß ich. Geh jetzt wieder zu ihr hinauf und ... beruhige sie. Du weißt schon, was zu tun ist.«
Alice drehte sich um und verließ langsam das Zimmer, während die beiden anderen wieder auf dem Sofa Platz nahmen und erneut fassungslose Blicke tauschten. »Ich kann es nicht glauben. Es will mir einfach nicht in den Kopf«, sagte Esther mehr zu sich selbst und dann an Lena gewandt: »Und warte nur, bis es in der Straße die Runde gemacht hat. Bisher haben sie sie ja alle akzeptiert, aber jetzt wird man mit Fingern auf sie zeigen: Auch zehn Überröcke können nicht verbergen, was sie darunter trägt. Und dann kommt der arme Wurm auch noch als uneheliches Kind auf die Welt, als Bankert... O mein Gott!«
»Vielleicht bekommt sie es ja auch woanders und gibt es weg? Wie ich sie kenne, wird sie schon dafür sorgen, daß es ein gutes Zuhause bekommt.«
»Verlaß dich auf so was nicht, Lena. Du hast doch gehört, was Alice gesagt hat: Sie will das Kind bekommen. Und wenn sie es bekommt, dann behält sie es auch. In manchen Beziehungen kann sie stur sein wie ein Maulesel... Also, das war echt ein Schlag ins Kontor für mich. So schnell komme ich darüber nicht hinweg. Was, und freundlich soll ich zu ihr sein, hat dieses vorlaute Ding gesagt?«
»Ja, das hat sie, Esther. Und weißt du was, ich glaube, in der steckt mehr, als wir alle vermuten. Was meinst du, sollen wir nicht lieber gleich zur Miß raufgehen? In der nächsten Stunde hat sich ohnehin keine Kundschaft angesagt.«
Sie sahen sich einen Moment an, dann strich Lena ihr Haar glatt, und Esther machte den Samtgürtel über ihrem Rock ein Loch enger. Derart gewappnet verließen sie das Ankleidezimmer ... um ›es‹ hinter sich zu bringen.
Leise öffnete sich die Tür. Er trat herein, blieb einen Moment stehen und sah sie an, dann entledigte er sich rasch seines Mantels, eilte auf sie zu, zog sie wortlos in seine Arme und küßte sie. Es war ein langer, zärtlicher Kuß. »Ich habe immer wieder dein Bild vor meinem inneren Auge heraufbeschworen, aber dich nie so wunderschön gesehen, wie du wirklich bist. Ach, Emily. Ich habe dich so vermißt.« Wieder umarmte er sie, bevor er sich zaghaft erkundigte: »Hast du mich auch vermißt?«
»Was für eine Frage!« erwiderte sie und strich mit ihren Fingerspitzen über seine Wange. »Wenn du mir doch nur ein paar Zeilen geschrieben hättest.«
»Ach, meine Liebste, das war so schwierig. Für Wochen glich unser Haus einer Eisenbahnstation; es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Und dann der Unfall. Meine Frau stürzte vom Pferd und hat sich den Rücken verletzt. Und dann mußte ich zweimal meinen Vater in die Stadt begleiten.«
»Du warst zwischenzeitlich zweimal in London?« warf sie dazwischen und hob erstaunt den Kopf aus den Kissen.
»Ja, meine Liebe. Ich mußte meine zukünftige Wählerschaft besuchen. Ich habe dir doch erzählt, daß ein Parlamentsmitglied verstorben ist und daß ich hoffe, seine Nachfolge antreten zu können, falls ich bei den nächsten Wahlen erfolgreich bin. Mein Vater wich die ganze Zeit über nicht von meiner Seite. Jeden Abend mußte ich ihn in seinen Club begleiten. Und reden, reden und nochmals reden. Diesen Herrn und jenen Sir kennenlernen, der mir bei meiner zukünftigen Karriere behilflich sein könnte.« Er unterstrich das Gesagte mit einer gelangweilten Grimasse. »Jedenfalls werde ich, wenn alles klappt, viel öfter in der Stadt sein. Man muß sich schließlich den Leuten zeigen, die man vor dem Parlament vertritt, wurde mir gesagt. Die nächsten drei Tage bin ich auf alle Fälle hier. Vater ist nach Schottland zurückgefahren, und ich bin frei. Ach, wie ich dich vermißt habe! Du machst dir ja keine Vorstellung.« Wieder lag sie in seinen Armen. Doch bevor seine Lippen die ihren berührten, schob sie ihn sachte mit den Worten von sich weg: »Ich muß dir etwas sagen.«
»Ja? Ich hoffe, es ist etwas Erfreuliches.«
»Ich hoffe, du betrachtest es als solches. Ich ... ich bekomme ein Kind.«
Als er sich daraufhin mit einem Blick der Verwirrung von ihr löste, hatte Emily das Gefühl, als zöge ein bleischweres Gewicht ihr Herz nach unten. Und als er murmelte: »Nein, nein, das kann nicht sein«, zwang sie sich zu der knappen Antwort: »Es kann. Und es ist so.«
»Aber ... aber ich habe immer Vorsorge getroffen.«
»Und ... in unserer ersten Nacht?«
Er sah sie nur stumm an, schloß dann die Augen und ließ den Kopf auf die Brust sinken. »Es tut mir leid, mein Liebling. Unendlich leid. Aber mach dir keine Sorgen.« Er setzte sich wieder aufrecht auf die Bettkante. »Ich werde mich um alles Nötige kümmern. Das kann man ganz diskret arrangieren. Da gibt es gewisse Praxen...«
»Nein!« Sie rückte unwillkürlich ein Stück von ihm weg und preßte den Kopf in die Kissen. »Ich möchte es nicht abtreiben lassen. Ich möchte es behalten.«
»Aber meine Liebe, das würde eine unmögliche Situation heraufbeschwören. Bedenke doch nur die Folgen und ... nein, ich möchte kein Kind ... Emily -« Er griff nach ihrer Hand. »Glaube mir, ich sage das nicht ohne Grund.«
»Ja, ja, selbstverständlich hast du deine Gründe: Du bist bereits Vater von drei Kindern. Aber keine Angst, ich werde keine Forderungen an dich stellen.«
»Emily, bitte, so nimm doch Vernunft an! Ich denke bei der ganzen Sache nur an dich. Es könnte deinem Ansehen ... und deinem Geschäft schaden. Die Menschen sind nun einmal sehr engstirnig und sehr intolerant, was solche Dinge anbelangt. Zudem wäre mir der Gedanke unerträglich, daß du dich mit einem Kind belastest. Ich kenne die Schwierigkeiten und Probleme, die mit dem Großziehen von Kindern einhergehen. O ja, das kannst du mir glauben. Und ich möchte dich ganz für mich allein haben, meine Geliebte. Die Vorstellung, dich an ein Kind zu verlieren ... Emily!« Seine Stimme war jetzt ein einziges Flehen. »Tu es für mich. Ich bitte dich. Laß mich die nötigen Vorbereitungen treffen. Ich... ich denke doch nur an dich.«
»Ich möchte dieses Kind bekommen, Paul. Es ist möglicherweise das einzige Kind, das ich je haben werde.«
Langsam wandte er den Blick von ihr ab. »Dieses Kind treibt bereits jetzt schon einen Keil zwischen uns, meine Liebe. Deine Stimme hat wieder den Klang dieser Mrs. Ratcliffe, als die ich dich kennenlernte. Und ich hatte gehofft, diesen nie wieder von dir zu hören. Niemals!« Er erhob sich von ihrem Bett und fuhr, von oben auf sie hinunterblickend, fort: »Ich werde dich jetzt verlassen, Emily, und dir einen oder zwei Tage Zeit geben, um über meinen Vorschlag nachzudenken. Und ich flehe dich an, dich diesem anzuschließen, denn deine Entscheidung wird auf die eine oder andere Weise unser zukünftiges Leben bestimmen.«
»Welches Leben, Paul? Wenn ich täte, was du von mir verlangst, welche Zukunft hätte ich dann? Hin und wieder eine aufregende Nacht? Es ist beinahe einen Monat her, seit ich dich das letzte Mal sah, und gleichzeitig erfahre ich, daß du währenddessen zweimal in London warst. Hat dich hier auch dieses ständige Kommen und Gehen von Besuchern geplagt, daß du dir vorkamst wie auf einem Bahnhof?«
»Ach, Emily, bitte sprich nicht in einem solchen Ton; diese Art von Sarkasmus paßt nicht zu dir. Es gab Gründe, warum ich dir nicht schreiben konnte, und hier in der Stadt war meine Zeit ebenfalls sehr knapp bemessen. Aber ich möchte mich darüber gar nicht weiter auslassen, denn in deinem momentanen Gefühlszustand würdest du mir ohnehin nicht glauben. Gute Nacht, meine Liebe. Es tut mir im Augenblick sehr leid um uns beide.«
Emily konnte das alles nicht fassen. Das war doch unmöglich. Nein, das konnte ihr nicht passiert sein. Nicht ihr. Esthers Stimme klang ihr auf einmal in den Ohren, als diese sie gefragt hatte: »Wird er zu Ihnen stehen, als verheirateter Mann?« Und sie hatte im Brustton der Überzeugung geantwortet: »Aber ja. Ja.« Und Lena hatte freundlich bemerkt: »Sie sind gewiß nicht die erste Frau, die die Geliebte eines Gentleman geworden ist; glauben Sie nicht, daß sich mindestens ein oder zwei Ihrer besten Kundinnen in der gleichen Lage befinden? Und die sind gesellschaftlich völlig akzeptiert; sie begleiten diese Herren ganz offiziell zu den Rennen. Ja, eine von ihnen könnten Sie sein mit Ihrem gelben Hut.«
Der gelbe Hut. Immer wieder schien dieser Hut in ihr Leben hineinzuplatzen. Und nun trug sie ein Kind unter dem Herzen, das vielleicht niemals gezeugt worden wäre, hätte es diesen Hut nicht gegeben. Ja, es war dieser Hut gewesen, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Sie drehte sich auf den Bauch und vergrub ihr Gesicht in den Kissen, um das bittere Schluchzen, das ihre Tränen begleitete, zu ersticken.