Kapitel 16

An Weihnachten war Emily gesundheitlich so einigermaßen wieder auf der Höhe; sie hatte ihre Arbeit nebenan teilweise wieder aufgenommen, doch es umgab sie immer noch eine Art von matter Teilnahmslosigkeit, die allen Sorgen bereitete. Sie war einfach nicht mehr die alte Miß, wie es die Mädchen nebenan ausdrückten. Aber war das ein Wunder, nach allem, was sie hatte durchmachen müssen? Von einem skrupellosen sogenannten Gentleman verführt, von dessen Mätresse halb totgeschlagen, und zu guter Letzt hatte sie auch noch das Kind verloren, was ihr in gewisser Weise sogar ganz recht war. Ja, ihre stille Trauer war nur mehr als verständlich.

Obwohl sie die Weihnachtstage frei hatten, ließ es sich keines der Mädchen nehmen, am Heiligen Abend mit einem kleinen Geschenk für Emily vorbeizuschauen. Selbst der Doktor hatte sich die Zeit für einen kurzen Besuch genommen. Esther selbst hatte ihn nicht kommen sehen, deshalb erkundigte sie sich bei Alice, ob er ein Geschenk für die Miß mitgebracht habe.

»Soviel ich weiß, nicht«, antwortete Alice.

»Was, nicht einmal Blumen?«

»Nein, keine Blumen.«

Am Silvesterabend arbeiteten alle länger, denn der Neujahrstag war ebenfalls frei. Unter normalen Umständen wäre Emily an diesem Abend mit Alice und der Köchin allein gewesen, und sie war daher um so überraschter, als gegen halb zwölf Esther und Lena unter fröhlichem Lachen ins Wohnzimmer gestürmt kamen. »Was führt euch zwei denn um diese nachtschlafende Zeit hierher?« war alles, was sie sagen konnte. »Ihr müßt ja halb erfroren sein.«

»Sind wir auch«, sagte Lena. »Es schneit, aber bei all den Verrückten, die draußen auf der Straße herumtanzen, schafft es kaum eine Flocke, auf den Gehsteig zu fallen.«

Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen trat Alice auf Esther zu: »Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen, Gnädigste?«

»Ja, aber nur, wenn ich Ihnen dafür ein Ohr abnehmen darf, Miß«, entgegnete Esther.

In das allgemeine Gelächter hinein sagte Emily: »Wir werden noch ein paar Gläser brauchen, Alice.«

Die drei machten es sich inzwischen auf der Couch vor dem Kamin gemütlich. »Sie haben sich umgezogen«, sagte Esther an Emily gewandt, die in der Mitte saß. »Dieses pflaumenblaue Samtkleid habe ich schon immer an Ihnen gemocht. Es steht Ihnen wunderbar zu Gesicht.«

Ganz automatisch bedeckte Emilys Hand die rechte Wange, worauf Lena sagte: »Oh, man sieht sie fast gar nicht mehr. In ein paar Wochen werden sie ganz verschwunden sein, sagt der Doktor. War er da?«

Emily sah Lena an. »Der Doktor? Nein. Aber den brauche ich jetzt auch nicht. Habe in letzter Zeit so viel von ihm gesehen, das reicht mir für den Rest meines Lebens.«

»Na ja, aber ich muß sagen, Sie können wirklich froh sein, daß er für Sie da war, als Sie ihn am dringendsten brauchten.«

»Sie sagten letzte Woche, daß er im Frühling heiratet«, warf Esther ein. Wie ist sie denn?«

»Sehr jung, sehr kindisch und sehr hübsch.«

»Wirklich?« wunderte sich Esther. »Daß er so einen Typ Frau bevorzugt, kann ich mir gar nicht vorstellen.«

Ich auch nicht, dachte Emily. Mein Gott, war ich dumm! Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr verachtete sie sich für ihre Dummheit und ihre mangelnde Menschenkenntnis. Ausgerechnet sie, die sich immer eingebildet hatte, Köpfchen zu haben ... ja, um einen Hut daraufzusetzen, aber zu mehr taugte ihr Kopf scheinbar nicht. Esther hatte recht, nicht viele Ärzte hätten sich so aufmerksam um sie bemüht wie Steve. Aber vielleicht hatte er sie da noch als eine besondere Patientin betrachtet? Ja, bestimmt, aber das war lange, lange her – in einem anderen Leben, wie es ihr jetzt schien. Und doch lagen zwischen heute und damals nur wenige Monate. Aber in dieser Zeit war sie zum Lieben geboren worden und an der Liebe gestorben, denn innerlich fühlte sie sich jetzt wie tot. Und das Wissen um diese Eskapade, denn mehr war es nicht gewesen, hatte die Liebe eines Mannes getötet, der ihre Schutzmauer bis zu dem Punkt abgetragen hatte, da sie erkannte, daß nur ihr Stolz die Zuneigung zu ersticken suchte, die sie für ihn zu empfinden begann ...

»Da kommt sie!« rief Lena. »Und verschüttet das ganze Wasser. Mensch, Mädchen, kannst du den Kessel nicht gerade halten?«

»Ich hab’ nur zwei Hände. Wie wär’s, wenn Sie mir helfen würden, anstatt schlaue Reden zu schwingen?«

Lena schnalzte mißbilligend mit der Zunge und meinte dann zu Emily: »Können Sie denn nicht einen anständigen Butler engagieren? Diese Mädchen haben alle zwei linke Hände.«

»Möchten Sie Ihren heißen Whisky lieber über den Schoß oder durch die Kehle laufen lassen?« gab Alice schlagfertig zurück und goß dann heißes Wasser in die reichlich mit Whisky gefüllten Gläser. »Wer nimmt Zucker? Sie, Miß?«

»Nein, danke, Alice. Und ich möchte auch nicht so viel Whisky. Sollten wir damit nicht warten, bis es zwölf schlägt?«

»Das dauert noch zehn Minuten«, warf Esther ein, »bis dahin bin ich verdurstet. Mir ist schon ganz flau im Magen; gib mir mein Glas, Alice.«

Kurz darauf hielten alle ihre Gläser in die Höhe und prosteten sich zu.

»Ein gutes neues Jahr!«

»Ja, ein gutes neues Jahr!«

»Schneiden Sie jetzt den Kuchen an, Miß?« fragte Alice gespannt.

»Ich glaube, damit warten wir noch ein Weilchen.«

Lena warf einen Blick auf den gedeckten Tisch. »Hm, das sollte reichen, um ein ganzes Regiment durchzufüttern. Ach, übrigens, wo ist denn die Köchin? Kommt sie denn nicht rauf?«

Alice schüttelte den Kopf. »Nein, sie hatte wieder ihren Moralischen; sie liegt schon im Bett.«

»Ach«, machte Esther und schnitt ein Gesicht. »Schon wieder? Hat bestimmt wieder einen zuviel erwischt. Und sie behauptet immer, sie trinkt nichts. Dabei schluckt sie schon seit Jahren wie ein Specht – und glaubt tatsächlich, daß es keiner merkt!«

»Meinst du, sie wird schlafen können heute nacht?«

»Denke ich schon, Miß«, gab Alice grinsend zurück. »Die hört weder die Glocken noch die Sirenen. Und wir übrigens auch nicht, wenn wir noch lange hier sitzen.«

In dicke Mäntel gehüllt, standen sie kurz darauf in der Haustür und hörten die ersten Schiffssirenen, in deren Heulen sich beinahe gleichzeitig das Läuten der verschiedenen Kirchenglocken Londons mischte. Eine Droschke fuhr vorbei, und jemand rief ihnen »Ein frohes neues Jahr!« zu. »Danke, gleichfalls«, riefen sie im Chor zurück. Als die Sirenen und Glocken langsam verhallten und dem Gelächter und den Glückwunschrufen der Menschen, die sich auf den Straßen versammelt hatten, Platz machten, gingen die drei wieder ins Haus zurück.

Im Wohnzimmer reichte Emily jetzt die Sandwiches und Pasteten herum und schnitt den Kuchen an. Und ein Glas Portwein für jeden tat ein übriges, daß die Unterhaltung immer fröhlicher wurde und bald in Gelächter und Gekicher ausartete, als Esther ein bisher unbekanntes Talent enthüllte und äußerst gekonnt den Gang, die Mimik und den Akzent einiger ihrer Kundinnen nachahmte. Besonders treffend imitierte sie dabei Mrs. Glenda Brompton und Lady Wearmore, zwei ihrer besten, aber auch unbeliebtesten Kundinnen.

Plötzlich unterbrach das zweimalige Anschlagen des Türklopfers Esthers Silvestervorstellung, und einen Augenblick lang sahen sie sich fragend an, bis Alice strahlend erklärte: »Ihr erster Neujahrsbesuch, Miß.«

»Moment, Alice, erst wollen wir nachsehen, ob es auch ein willkommener Besucher ist«, warf Esther ein. »Ich komme mit zur Tür.«

Als Alice die Haustür öffnete, riefen sie und Alice aus einem Mund: »Oh, hallo, Doktor! Ein gutes neues Jahr! «

»Ein gutes neues Jahr, die Damen! Steigt da oben eine Party? Ich klopfe schon eine ganze Weile.«

»Ja, so kann man es nennen«, entgegnete Alice kichernd. »Esther gab der Miß, Lena und mir gerade eine Sondervorstellung. Es war unglaublich komisch.«

Er legte seinen Mantel ab und sagte, während er seine Krawatte lockerte: »Was, ihr seid nur zu viert und macht so einen Spektakel?«

»Sie sind unser erster Besucher im neuen Jahr und ein dunkler Mann dazu, das heißt, Sie bringen uns Glück.«

»Genau aus dem Grund bin ich auch gekommen«, entgegnete er, als er den Salon betrat. Er ging geradewegs auf Emily zu, die aufgestanden war, doch es war Lena, die ihm als erste »Ein frohes neues Jahr, Doktor!« zurief. »Das wünsche ich Ihnen auch, Lena«, erwiderte er. Und erst, als er vor ihr stand, sagte Emily leise: »Ein gutes neues Jahr! Wie schön, Sie zu sehen.«

Sie wußte nicht, warum sie das hinzugesetzt hatte. Es war nur ein Gedanke gewesen, der unbeabsichtigt den Weg über ihre Lippen gefunden hatte.

Er überreichte ihr eine schmale Tragetasche, aus der ein Korken ragte. »Ich habe eine Flasche Gin mitgebracht. Damen bevorzugen Gin, habe ich mir sagen lassen.«

»O ja, ich liebe Gin«, pflichtete Lena ihm bei und nickte eifrig mit dem Kopf, worauf Esther sich sofort einmischte und meinte: »Mag sein, aber du bekommst keinen Schluck davon. Whisky und Portwein, das reicht. Du bist ohnehin nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Ich meine, wir sollten uns langsam verabschieden. Es ist gleich eins.«

»Bitte, meine Damen, so bleiben Sie doch. Ich hätte sonst ein schlechtes Gewissen, durch mein Hereinplatzen Ihr fröhliches Fest gestört zu haben. Es ist doch Silvester.«

»Sie hat recht, Doktor; wir waren ohnehin schon auf dem Weg. Nur was den Gin betrifft, da teile ich nicht die Meinung meiner werten Kollegin. Aber morgen ist ja auch noch ein Tag. Sie heben mir doch ein Schlückchen auf, Emily, nicht wahr?«

»Aber gewiß, Lena.«

Sie drängte Esther und Lena nicht zum Bleiben, und nachdem sie sich vom Doktor verabschiedet hatten, begleitete Emily die beiden zur Tür.

In der Halle blieb sie kurz stehen. »Ich danke euch«, sagte sie leise. »Es war sehr lieb von euch, daß ihr gekommen seid. Ich... weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich heute abend allein gewesen wäre.«

Es gäbe keinen Grund, sich zu bedanken, sie wären auf alle Fälle gekommen, versicherten sie ihr und küßten Emily dann ganz spontan zum Abschied die Wange.

Nachdem sie die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, wanderte ihr Blick in Richtung Wohnzimmer. Etwas zögernd setzte sie sich in Bewegung, als Alice ihr mit einem Tablett Gläser entgegenkam. »Ich denke, ich koche Ihnen jetzt eine gute Tasse Kaffee«, sagte sie.

»Danke, das ist nett von dir, Alice.«

»Und anschließend sehe ich mal nach der Köchin. Die kriegt an Feiertagen immer das heulende Elend. Besonders an Weihnachten und Silvester.«

»Ja, Alice. Tu das.«

Und als sie das Wohnzimmer betrat und ihn so allein da stehen sah, dachte sie bei sich: Schade, daß Alices gutgemeinter Rückzug zu nichts führen wird.

»Möchten Sie einen Drink?« Er deutete auf die Flasche Gin, die er auf dem Tisch abgestellt hatte.

»Nein, vielen Dank. Das wäre zuviel des Guten, wie Esther schon sagte. Aber bitte bedienen Sie sich, oder möchten Sie lieber ein Glas Whisky?«

»Normalerweise gerne, aber für heute lasse ich es besser genug sein. Doktor Smeaton hatte ein paar Freunde eingeladen, und wir haben ihm geholfen, etliche Flaschen zu leeren. Und einer von uns Medizinmännern sollte noch stehen können, für den Fall, daß man uns braucht. Am Neujahrsmorgen gibt es immer etliche Köpfe zu flicken.«

»Es war sehr nett von Ihnen, daß Sie vorbeigekommen sind.«

»Ach«, meinte er leichthin. »Ich mache Silvester immer meine Runde. Jedenfalls freut es mich zu hören, daß Sie einen lustigen Abend verbracht haben. Sie wissen schon, daß Sie ganz besonders liebe Angestellte haben, nicht? Sie kümmern sich wirklich rührend um Sie. Und das ist nicht selbstverständlich heutzutage.«

»Ja, ich weiß. Ich kann mich wirklich glücklich schätzen« – in dieser Hinsicht zumindest, fügte sie im Stillen hinzu.

Emily saß jetzt auf der Couch, Steve rechts neben ihr in einem Sessel. Er ließ seinen Blick eine Weile schweigend durch das Zimmer schweifen. »Das ist ein so farbenfroher, gemütlicher Raum«, bemerkte er dann. »Ich war nur selten abends hier, wenn die Lampen brennen; dadurch wirkt er noch viel behaglicher. Unser Salon zu Hause strahlt eine ähnliche Atmosphäre aus.«

»Apropos, haben Sie es geschafft, Weihnachten mit Ihrer Familie zu verbringen?« fiel ihr dabei ein.

»Ja, den zweiten Feiertag. Aber wie immer ging es bei uns zu wie in einem Tollhaus. Alle waren sie da. Die Familie war vollzählig versammelt; auch Harry und Kate haben sich dieses Fest nicht entgehen lassen. Ja, sie waren alle da. Natürlich haben auch sämtliche Freunde aus der Umgebung vorbeigeschaut. Ach, ich wünschte, ich wäre am Weihnachtsabend dabei gewesen, als Tante Phoebe unserem Nachbarn lautstark ihre Meinung über ihn an den Kopf warf. Du meine Güte, das war was!« lachte er. »Dieser Mann gehört zu der Sorte Farmer, die zwar eine Farm besitzen, sie aber nicht selbst bewirtschaften. Dafür hat er einen Gutsverwalter, wie er ihn nennt, und dieser Verwalter hat auf dessen Anordnung hin kürzlich einen alten Arbeiter entlassen, weil dieser ein paar Kohlköpfe für sich abgezweigt hatte. Selbstverständlich mußte er dann auch aus seiner Hütte ausziehen. Mutter und Vater hatten zu Hause offenbar darüber gesprochen und die Entscheidung mißbilligt, aber natürlich nicht gewagt, den Nachbarn daraufhin anzusprechen. Das hat dann Tante Phoebe übernommen. Vera, meine ältere Schwester, die Sie ja kennengelernt haben, schilderte mir in glühendsten Farben, wie Tantchen sich in Szene setzte und ihm unmißverständlich ihre Meinung sagte, die angeblich auch die aller Nachbarn und Dorfbewohner sei, wie sie mit erhobenem Zeigefinger hinzufügte. Wenn er den alten Roland nicht wieder einstelle, so erklärte sie am Schluß, werde ihn ein schlimmer Fluch treffen.« Er lachte jetzt laut und herzlich. »Stellen Sie sich vor, Tante Phoebe steht vor Ihnen und verflucht Sie bis in die Steinzeit! Der Mann wurde käseweiß, sagte Vera, und es bedurfte eines doppelten Whiskys, um ihn wieder zu beruhigen. Aber das war noch nicht alles. Am nächsten Morgen beschwerte sich Tante Phoebe nicht minder lautstark bei der Familie, weil man sie nicht wie üblich zu Bett gebracht hatte. Sie wissen ja, wie das so ist am zweiten Feiertag: Die Kinder sind immer noch aufgeregt und rennen schnatternd im Haus herum, und die Erwachsenen haben einen dicken Kopf. Und um das Chaos perfekt zu machen, kam ich auch noch hereingeschneit, stocknüchtern, mit klarem Kopf und habe mich schier totgelacht, als Vera mir Tante Phoebes Auftritt vorspielte, was sie bis zur Perfektion beherrscht.«

Während Steves lebendiger Schilderung, die er mit lockeren Gesten unterstrich, schweiften Emilys Gedanken zurück zu diesem herrlichen Sonntag. Ganz klar und deutlich stand ihr die Szenerie vor Augen, und plötzlich schwappte eine Welle wehmütiger Erinnerung über sie hinweg, die ihr die Tränen in die Augen trieb.

Den Blick auf das Feuer im Kamin gerichtet, fuhr Steve fort: »Zu Hause werden sie jetzt gerade mit Pauken und Trompeten das neue Jahr begrüßen. Und das geht so bis zum Morgen. Das ganze Dorf ist auf den Beinen, jeder besucht jeden, und dann kommen sie alle zu uns zum Tanzen. An Silvester kann mein Vater sein schottisches Erbe nicht verleugnen, da tanzt er wie der Lump am Stecken. Ach ja, an diesem Tag ist bei uns wirklich der Teufel los«, schloß Steve lachend und drehte sich zu Emily um.

»Du liebe Güte, was haben Sie denn? Entschuldigung – das kommt sicher von meinem Geschwätz. Weinen Sie nicht! Bitte! Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Sie wischte sich mit einer energischen Geste die Tränen ab und entgegnete leise: »Nein, nein; es war nur alles auf einmal wieder so lebendig ... dieser Sonntag, Ihre Familie, die so... so außergewöhnlich ist. Verzeihen Sie, es geht schon wieder.«

Die Tür ging auf. Alice kam mit dem Kaffee herein und der Meldung: »Die Köchin ist voll wie hunderttausend Mann. Ich fürchte, Sie werden morgen früh auf Ihr Frühstück verzichten müssen, Miß.«

Nach einem kurzen Blick auf Emily lag Alice schon die Bemerkung auf der Zunge: »Sagen Sie, Sie bekommen doch nicht etwa eine Erkältung, Miß?« Doch etwas im Gesichtsausdruck des Doktors machte sie stutzig, und sie meinte statt dessen: »Es ist noch so viel zu essen da, Doktor. Soll ich Ihnen einen Teller zurechtmachen?«

»Danke, Alice. Ich bediene mich selbst«, grinste er. »Da bekomme ich nämlich mehr ab.«

»Aber Doktor!« Alice schüttelte in gespielter Empörung den Kopf und zog sich dann rasch zurück.

Als Emily sich von der Couch erheben wollte, um den Kaffee einzuschenken, legte Steve ihr die Hand auf den Arm und meinte: »Bleiben Sie sitzen, ich mache das schon.«

In tiefes Schweigen versunken, tranken sie beide ihren Kaffee, und erst, als er ihr die leere Tasse abgenommen und sich in seinem Sessel zurückgelehnt hatte, nahm er nachdenklich das Gespräch von vorhin wieder auf: »Ja, das war wirklich ein schöner Sonntag damals, nicht wahr?«

Sofort stiegen ihr wieder die Tränen in die Augen. Was war nur los mit ihr? Mit aller Kraft versuchte sie, diese seltsamen Gefühle abzuschütteln, als seine Hand sich auf die ihre legte. »Weinen Sie nicht. Sie wissen doch, was die Leute sagen: Was man am Neujahrstag tut, tut man das ganze Jahr. Und Sie haben schon genug geweint. Sie sind wieder frei. Diese Freiheit schmerzt im Augenblick und wird sicher noch eine Weile schmerzen, aber das geht vorbei. Das kann ich Ihnen versprechen. Sie haben noch das ganze Leben vor sich, und Sie können es gestalten, wie immer Sie wollen. Betrachten Sie doch nur Ihre Aktivposten, wenn ich so sagen darf: Sie haben ein florierendes Geschäft; Sie haben eine Reihe guter Freunde – und gute Freunde zu haben, das ist mit das Wichtigste im Leben; und bald werden Sie auch gesundheitlich wieder völlig auf dem Damm sein. Sie haben mich ohnehin mit Ihrer raschen Genesung verblüfft; und von den Narben in Ihrem Gesicht ist auch nichts mehr zu sehen.« Seine Hand wollte ihre Wange berühren, aber er zog sie zurück und meinte unvermittelt: »So, jetzt muß ich aber gehen und zusehen, daß ich noch eine Mütze Schlaf bekomme. Morgen steht mir ein harter Tag bevor... ich meine heute. Und Ihnen kann ich nur raten, sich gründlich auszuschlafen. Heute ist ja Feiertag. Kommen Sie.« Er nahm ihre Hand und half ihr von der Couch hoch.

Sie standen sich gegenüber und sahen sich still an. Und dann begann Steve mit einer Stimme, die sehr viel weicher als sonst klang: »Da wir nicht mehr sein können, Emily, möchte ich Sie bitten, mich als den Freund zu betrachten, als den ich mich Ihnen einst angetragen habe.«

»Vielen Dank«, flüsterte Emily mit einem Kloß im Hals.

»Gut, das wäre geregelt.« Er trat einen Schritt zurück, lächelte und nahm dann seinen Mantel.

Er schlug gerade den Kragen sorgfältig hoch, als eine Frage von ihr ihn abrupt innehalten ließ: »Weiß Ihre Familie von ... von meiner Geschichte?«

Er zögerte kurz. »Nur meine Mutter.«

»Oh.«

»Stört Sie das?«

»Nein.«

»Meine Mutter ist eine sehr verständnisvolle Person, wie fast alle in unserer Familie. Nun, abgesehen von meinem Vater vielleicht. Wie die meisten Männer erwartet er, daß das Leben nach den von ihm gesetzten Regeln abläuft.«

»Wie kommt es dann, daß Sie so anders sind?«

»Oh, so anders bin ich gar nicht. Ich bin nur Arzt, und als solcher werde ich ständig mit den unterschiedlichsten Lebenssituationen konfrontiert, oder salopp ausgedrückt, uns Ärzten hat man die rosarote Brille abgenommen, so daß sich uns das Leben oft ganz ungeschminkt darstellt. Wissen Sie« – er beugte sich näher zu ihr hin –, »mittlerweile könnte ich ein Buch darüber schreiben, was sich hinter so manchen Türen abspielt, ob sie nun in ein Herrenhaus oder eine Hütte führen. Ja, manchmal kommt es mir so vor, als sei das Leben nichts anderes als ein ›So-tun-als- ob‹-Spiel, jedenfalls für viele von uns.« Er setzte den Hut auf und zog ihn tief ins Gesicht. »So, gehen Sie jetzt ins Bett, und denken Sie über meine Worte nach. Darüber werden Sie ganz schnell einschlafen. Gute Nacht, oder besser gesagt, guten Morgen; und nochmals ein frohes neues Jahr!«

Emily erwiderte seine Wünsche nicht, sondern sagte nur: »Gute Nacht und vielen Dank.«

Sie war noch immer im Wohnzimmer, als Alice hereinkam, die, als sie ihre Herrin mit geschlossenen Augen und feuchten Wangen auf der Couch liegen sah, besorgt ausrief: »Aber Miß, weinen Sie doch nicht.« Dann setzte sie sich zu ihr, nahm ihre Hand und tätschelte sie beruhigend.

»Sie haben das neue Jahr mit Tränen begonnen, aber es wird alles gut werden. Es hat gut angefangen. Wir hatten einen lustigen Abend, und es war doch nett vom Doktor, daß er noch vorbeigekommen ist, nicht wahr?« Und in verändertem Tonfall fuhr sie fort: »Er ist sehr fürsorglich, der Doktor. Ein sehr fürsorglicher Mann.«

Mit einem unterdrückten Seufzer lehnte Emily den Kopf an Alices Schulter, die daraufhin schützend ihre Arme um sie legte und nun selbst mit Tränen in den Augen flüsterte:

»Es wird alles gut, Miß. Sie werden sehen. Jeder macht einmal Fehler, und Sie sind nicht die erste, die man so schamlos hintergangen hat. Mein Gott! Wenn ich nur daran denke, könnte ich ihm schon den Hals umdrehen. Ich hoffe, er stirbt einsam; ja, genau, das wünsche ich ihm, daß er ganz einsam stirbt.«