Kapitel 17

Die grauen, trostlosen Januarwochen machten einem noch trostloseren Februar Platz, bis an einem Mittwoch dann – es war bereits Ende Februar – zum ersten Mal wieder die Sonne schien und einen Hauch von Frühling mitbrachte.

An diesem Morgen herrschte im Geschäft reges Treiben. Emily sprach gerade oben mit einer Kundin, als Alice den Kopf in Esthers Arbeitszimmer steckte und wisperte: »Lady Montane ist hier.«

»Montane? Wer ist Lady Montane?«

»Die Mutter vom Doktor.«

»Lady Montane? Gütiger Himmel!«

»Am besten geben Sie gleich der Miß Bescheid.«

»Ja, und du geh runter und sag ihr, daß sie gleich kommt.«

Erst fünf Minuten später gelang es Esther, Emily einigermaßen taktvoll von ihrer anspruchsvollen Kundin loszueisen und ihr ins Ohr zu flüstern: »Die Mutter vom Doktor wartet unten.«

»Wer?«

»Lady Montane.«

»Oh!« entfuhr es Emily, die sichtlich überrascht die Treppen hinunter und durch die Verbindungstür in ihr Wohnzimmer eilte, wo Lady Montane sich nach ihrem Eintreten sogleich mit einer höflichen Entschuldigung erhob.

»Ich bitte Sie, Lady Montane«, wehrte Emily ab. »Es ist an mir, mich zu entschuldigen, daß ich Sie warten ließ. Es tut mir leid, ich war gerade mit einer sehr pedantischen Kundin beschäftigt, und die Mädchen konnten mich nicht eher benachrichtigen.«

»Ich komme auch ausgerechnet zur ungünstigsten Zeit, und unangemeldet obendrein. Das war wirklich sehr ungeschickt von mir.«

»Aber nein. Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee oder Kaffee anbieten?«

»Ja, eine Tasse Tee nehme ich gerne an.« Emily zog an der selten benützten Kordel, die neben dem Kamin hing, und beinahe im selben Augenblick erschien Alice in der Tür.

»Würdest du uns bitte ein Tablett mit Tee und Gebäck zurechtmachen?«

»Ja, Miß. Sofort.«

»Ihr freundliches Mädchen hat mich vom Geschäft aus in Ihr Haus geführt, wie sie es nannte. Es ist wirklich ein sehr schönes Haus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, und dieses Zimmer gefällt mir besonders gut. Eigentlich kenne ich es ja schon, denn Steve hat es mir bereits ausführlich beschrieben.«

»Wirklich?«

»Ja. Doch Sie werden sich gewiß wundern, warum ich so mir nichts, dir nichts bei Ihnen herbeigeschneit komme. Das war ein wenig unverschämt von mir, aber ich hänge sozusagen zwischen zwei Terminen fest. Wissen Sie, mein Mann hat diese Woche bei Gericht zu tun, und ich bin mit Cissie und William – Sie erinnern sich doch an meine Tochter? – in die Stadt gefahren, weil er am Nachmittag zu einer Blutuntersuchung ins Hospital muß. Das kam alles ein bißchen überraschend, und so konnten wir Steve nicht vorher Bescheid geben. Ich komme gerade von seiner Praxis. Er sei bei diesen Leuten unten am Fluß, teilte mir seine überaus mürrische Haushälterin mit, und komme erst gegen ein Uhr zurück. Nun, um ein Uhr habe ich mich mit Cissie, dem Jungen und meinem Mann zum Lunch verabredet. In der Zwischenzeit wollte ich einige Erledigungen machen, und dann habe ich plötzlich an Sie gedacht. Ich wußte, daß Ihr Geschäft nicht weit von der Praxis entfernt liegt. Also nahm ich mir eine Droschke, gab dem Kutscher Ihre Adresse, und hier bin ich.«

»Und ich freue mich sehr, Sie zu sehen, denn ich denke so oft an diesen Sonntag bei Ihnen.«

»Ich auch, meine Liebe. Es ist wirklich schade, daß wir uns seither nicht mehr gesehen haben. Aber Sie sind ja auch sehr beschäftigt.«

Emily sah auf ihre Hände, die gefaltet auf ihrem Schoß lagen, und erwiderte dann mit leiser Stimme: »Nicht so beschäftigt, daß ich nicht Gelegenheit gehabt hätte, drastische Fehler zu begehen. Steve hat Ihnen ... ja davon erzählt.«

»Ja, meine Liebe, das hat er; und es hat mir sehr, sehr leid getan für Sie. Daß solche Dinge immer den nettesten Menschen passieren müssen. Steve war sehr betroffen. Er mag Sie nämlich sehr gern, wie Sie ja sicher wissen, und er ist sehr unglücklich über Ihre Situation.«

Emily ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie sprach. »Er... war ein sehr guter Freund. Und ich bin froh, daß er jetzt sein Glück gefunden hat. Sie freuen sich sicher schon alle auf die Hochzeit.«

»Die Hochzeit?«

»Steves Hochzeit mit Miß Braize.«

Sie wandten sich beide zur Tür, als Alice mit dem Tee hereinkam. »Soll ich einschenken, Miß?« fragte sie, nachdem sie das Tablett auf dem Tisch abgestellt hatte.

»Ja, bitte, Alice«, entgegnete Emily und fuhr dann in höflichem Plauderton fort: »Es tut so gut, endlich einmal wieder die Sonne zu sehen. Der Februar ist wirklich der trostloseste Monat im ganzen Jahr.«

»Ja, da gebe ich Ihnen recht. Aber bald kommt der März und damit der Frühling. Ich liebe den Frühling, Sie auch?«

»Aber ja. Im April sind die Parks in der Stadt ein einziges Blütenmeer. Danke, Alice.«

Als sie allein waren, nahm Emily den Gesprächsfaden wieder auf. »Und der Frühling ist die schönste Zeit zum Heiraten.«

»Ja, in der Tat. Hat Steve... Ihnen alles darüber erzählt?«

»Nur, daß er Miß Braize heiraten wird und sie schon seit vielen Jahren kennt.«

»O ja, das ist richtig. Die beiden kennen sich schon von Kindesbeinen an. Naja, Steve war schon zwölf, als Nan geboren wurde, und etwas älter, als Biddy zur Welt kam.«

»Wird es ein großes Fest werden?«

»Was? Ach, Steves Hochzeit meinen Sie.«

Emily beobachtete, wie Lady Montane zur Seite blickte und einen Moment nachzudenken schien, bevor sie antwortete: »Nun, soweit ich das mitbekommen habe, wird es eine recht stille Angelegenheit werden, glaube ich.«

Überrascht und recht verblüfft hörte Emily ihre Besucherin daraufhin kichern. »Wissen Sie, Emily, ich habe wirklich eine sehr merkwürdige Familie; bei uns geschehen pausenlos unvorhergesehene Dinge. Mein Mann sagt immer, Steve ist so dickköpfig wie ein Esel. Er geht stur seinen eigenen Weg und läßt sich von niemandem dreinreden. Seit geraumer Zeit versuchen wir schon mit vereinten Kräften, ihn dazu zu überreden, die Praxis von Doktor Raymore zu übernehmen, wenn dieser in den Ruhestand tritt. Das wäre ideal und« – sie machte eine Pause und schmunzelte abermals – »unter den gegebenen Umständen sehr passend. Aber Steve wird wie immer nach seinem eigenen Gutdünken handeln und uns in letzter Minute mit seiner Entscheidung überraschen. Mein Mann nennt es Heimlichtuerei, Steve dagegen Strategie. Aber ich möchte Sie jetzt nicht länger aufhalten. Ich fahre zurück in die Praxis und hinterlasse Steve eine Nachricht. Sollte er aber zufällig vorbeikommen ... kommt er denn mal vorbei?«

»Er betreut meine Angestellten, und hin und wieder stattet er mir einen Besuch ab.«

»Nun, sollten Sie ihn zufällig sehen, bevor er in die Praxis fährt, würden Sie ihm dann bitte ausrichten, daß ich hier war?« Sie zuckte kurz mit den Schultern und fügte lachend hinzu. »Na, der wird sich wundern, das kann ich Ihnen sagen. Und er wird genau wissen wollen, worüber wir uns unterhalten haben. Er ist nämlich sehr neugierig. Es ist der Arzt in ihm, glaube ich: Er muß immer allem genau auf den Grund gehen... Auf Wiedersehen, meine Liebe. Und ich würde mich freuen, wenn Sie uns bald wieder einmal besuchen kommen.«

»Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Auf Wiedersehen.«

Nachdem sie Lady Montane zur Tür begleitet hatte, ging Emily zurück in ihr Wohnzimmer. Sie stellte sich ans Fenster und sah der abfahrenden Droschke hinterher. Er hatte also seiner Mutter alles erzählt, und sie kam trotzdem, um sie zu besuchen. Sie ist eine sehr nette Frau, dachte Emily. Und eine richtige Lady, charmant und liebenswürdig. In gewisser Weise kommt er nach ihr, sinnierte sie weiter. Na ja, nicht was ihren Charme betrifft; aber ihre Liebenswürdigkeit, die hat er geerbt. Die bevorstehende Hochzeit nahm Lady Montane scheinbar als gegeben hin, obgleich sie an diesem besagten Sonntag den Eindruck gewonnen hatte, als betrachtete sie sie als zukünftige Schwiegertochter. Aber vielleicht hatte sie sich da auch getäuscht; sie waren ja alle so nett zu ihr gewesen.

Emily trat vom Fenster zurück, und mit einem Mal überkam sie wieder dieses tiefe Gefühl von Einsamkeit. Sie mußte sich regelrecht überwinden, wieder nach nebenan an die Arbeit zu gehen.

Mehr schlecht als recht quälte Emily sich durch den restlichen Tag. Es hatten sich keine weiteren Kundinnen angesagt, doch insgeheim rechnete sie damit, daß Steve vorbeischauen und mit ihr über den Besuch seiner Mutter sprechen würde. Aber er kam nicht, und um neun Uhr abends befand sie sich – schon fürs Zubettgehen fertiggemacht – in ihrem Schlafzimmer.

Seit neuestem hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, abends im Bett zu lesen – es half ihr dabei, leichter einzuschlafen. Und sie konnte nicht mehr in einem dunklen Raum schlafen, denn immer wieder suchten sie diese Alpträume heim, in denen sie mit dieser Frau rang, und wenn sie dann im Dunkeln aufwachte, ängstigte sie sich noch mehr.

Vom Bett aus langte sie nach dem Gedichtband auf ihrem Nachttisch. Sie hatte sich nie die Frage gestellt, warum sie diese Gedichte las, da sie nichts Heiteres oder Erbauliches an sich hatten, sondern sie eigentlich nur verwirrten, genau wie jenes, welches sie gerade zu lesen begann. Es bestand nur aus wenigen Zeilen, besaß keinen Rhythmus und war mitten auf der Seite platziert, als wolle es den Eindruck erwecken, man habe es zufällig hier fallenlassen. Es lautete folgendermaßen:

Wo bist Du, Gott? Ich kann Dich nicht finden!

Aber Du weißt, wo ich bin,

sechsundvierzig B, oberster Stock, unter dem Dach.

Wirst Du dafür sorgen, daß ich es warm habe,

wenn ich tot bin?

Emily ließ das Buch geräuschvoll zuklappen. Was für ein schwermütiger Charakter, dieser S. Petersen. Sie wußte nicht, warum sie weiterhin seine Gedichte las. Auch dieses hatte ihr wieder einen kalten Schauer über den Rücken gejagt, obgleich sie wußte, was hinter diesen Worten steckte, was dieser Mann damit ausdrücken wollte. Die ärmsten der Armen waren genauso wertvolle Menschen wie alle anderen. Und wie so oft fragte sie sich, was sie selbst tun konnte, um solchen Menschen zu helfen. Und wie immer lautete ihre Antwort: Nichts ... Aber Steve tat etwas.

Steve! Warum spukte er noch immer in ihrem Kopf herum?

Sie streckte ihre Hand nach der Gaslampe aus und drehte den Docht herunter...

Sie wollte nicht an ihn denken, und seine Mutter hatte sie wieder an seine bevorstehende Hochzeit erinnert. Ja, hätte er sich irgendeine andere Frau ausgesucht, das hätte sie ja noch verstanden, dachte sie zum wiederholten Male... aber ausgerechnet diese alberne Gans! Und im selben Augenblick tadelte sie sich für ihre Gedanken. Sie war ja nun wirklich die letzte, der es anstand, einen anderen ob der Wahl seines Partners zu kritisieren. Sie war noch viel dümmer gewesen, und wie sie sich dafür haßte!

Ihre Gedanken schweiften unruhig umher, sie wurde schläfrig und schlief bald darauf ein...

Und kaum wurde dieser schreckliche Alptraum wieder lebendig, da warf sie sich von einer Seite zur anderen, um die Hände abzuwehren, die sich auf ihr Gesicht legten, und blieb dann plötzlich wie erstarrt liegen. »Emily, meine Liebste. Ich bin es«, hörte sie eine Stimme sagen, als sich gleich darauf eine Hand auf ihren Mund preßte und den Schrei erstickte, der sich ihrer Kehle entrang.

Starr vor Entsetzen riß Emily die Augen auf und starrte in Paul Steermans Gesicht. Sein weingeschwängerter Atem wehte über sie hinweg. Sie versuchte sich aufzurichten, doch das Knie auf ihrer Brust hinderte sie daran. »Hör mich an, Emily. Bitte, hör mich an. Ich muß mit dir reden«, murmelte er mit schwerer Zunge.

Reglos lag sie da, den Blick starr auf sein Gesicht geheftet: »Ich... ich mußte kommen... ich mußte dich sehen. Ich fühle mich wie ein Gefangener. Mein Leben ist vorbei. Ich kann es dir erklären. Ich habe niemanden mehr. Niemanden! Keine Menschenseele mehr. Ich mußte alles aufgeben, und ich habe es für dich getan. Keine Politik mehr. Das haben sie auch unterbunden. Wußtest du das? Ich wollte immer zu dir kommen, o ja, ich wollte so oft kommen, doch sie haben es nicht zugelassen. Aber ich liebe dich, Emily. Emily!«

»Laß mich zufrieden. Geh weg! Ich hasse dich. Hörst du, ich verachte und ich hasse dich«, preßte Emily mit schriller Stimme hervor.

»Nein! Nein! « schrie er jetzt beinahe. »Du könntest mich nie hassen. Du liebst mich viel zu sehr.«

»Ich habe dich nie geliebt. Nie! Wie hätte ich dich lieben können?«

»Du hast mich geliebt. Du hast mein Kind getragen, Emily. Aber keine Angst, meine Geliebte, ich mache dir ein anderes, und noch eines... Wehr dich nicht. Emily, bitte. Ich liebe dich doch so.«

Als er die Bettdecke wegriß und seinen schweren Körper über sie schob, stieß Emily einen gellenden Schrei aus: »Alice! Alice!«

Es vergingen nur wenige Minuten, bis Alice ins Zimmer gestürzt kam, aber da war es schon geschehen. Ihr Körper lag da wie tot, nur ihre Stimme konnte noch leise wimmern: »Alice!«

»Sie Schwein! Sie verdammtes, dreckiges Schwein!« brüllte Alice und zerrte den Mann aus dem Bett, der zusammengerollt neben Emily auf der Seite lag. Dann holte sie aus und schlug ihm ihre Faust mitten ins Gesicht.

»Sie ... versteht es. Ich mußte ... zurückkommen.«

»Sie sind betrunken. Raus! Verschwinden Sie, Sie verkommener Dreckskerl, Sie!«

An den Bettpfosten geklammert, zog er sich mühsam hoch, ordnete seine Kleider und stolperte zur Tür. Dort blieb er kurz stehen und meinte noch, indem er Alice einen hämischen Blick über die Schulter zuwarf: »Übrigens, Küchentüren sollte man abends absperren. Hab’s nur durch Zufall entdeckt. Eure Köchin war mindestens so blau wie ich... Weißt du, Alice, ich liebe sie immer noch. Ich liebe...«

Sie hatte sich inzwischen einen Hocker geschnappt, um ihn ihm hinterherzuwerfen, aber da war er schon aus der Tür. Und draußen auf dem Flur hörte sie ihn noch einmal böse kichern: »Ich kenne den Weg, Alice. Danke, ich finde alleine hinaus.«

Alice saß neben Emily auf dem Bett und streichelte ihre leblose Hand. »O Miß! O Miß! Es tut mir so leid ... ich bin sofort runtergerannt, als ich Sie hörte. Aber ich habe ja nicht geahnt, daß so was ... Nein! Lassen Sie sich zudecken. Miß. Der Kerl gehört eingesperrt. Ja, eingesperrt gehört so einer. Miß«, sie tätschelte vorsichtig Emilys Wange, »so sagen Sie doch etwas. Bitte, sprechen Sie. Soll ich Ihnen vielleicht einen Tee bringen? Ja, ich mache schnell Tee. Bin sofort wieder zurück«, versprach sie und eilte aus dem Schlafzimmer. Sie ging jedoch nicht direkt in die Küche, sondern hinüber ins Nachbarhaus, ins Zimmer der Köchin, die dort selig in ihrem Bett schnarchte, und gab ihr eine schallende Ohrfeige. »Sie ... Sie betrunkene alte Schachtel, Sie! Warum haben Sie die Küchentür nicht abgeschlossen?«

»W... as? Was ist los? Hast du mich etwa geschlagen?«

»Wissen Sie nicht, was Sie heute nacht angestellt haben? Sie haben die Küchentür offengelassen, und er war hier.«

»Wer? Von wem sprichst du überhaupt?«

»Sie wissen genau, von wem ich rede. Von dem, der früher öfter abends gekommen ist. So, und jetzt setzen Sie den Kessel auf und kochen einen starken Tee für die Miß. Den bringen Sie ihr dann rauf. Und wenn Sie sich auf der Treppe den Hals brechen, soll mir das nur recht sein.« Damit drehte Alice sich um und rannte wieder hinauf ins Schlafzimmer. Doch das Bett war leer. Ratlos blickte sie sich um und eilte dann zum Badezimmer, dessen Tür sie verschlossen fand. »Miß! Miß! Ich bin’s, Alice«, rief sie. »Machen Sie auf. Bitte, so machen Sie doch auf!«

Da sie keine Antwort erhielt, begann sie, mit der Faust gegen die Tür zu hämmern. »Miß! Hören Sie mich? Machen Sie die Tür auf!« Als sie daraufhin immer noch keine Antwort erhielt, rannte sie nach oben in ihr Zimmer, zog rasch einen Rock über ihr Nachthemd, warf sich den Mantel über und rannte wieder hinunter ins Schlafzimmer. Nachdem sie noch einmal erfolglos geklopft hatte, stürzte sie aus dem Haus, ohne jedoch zu versäumen, die Haustür hinter sich abzuschließen.

Auf der Straße hielt sie die nächste Droschke auf und rief dem Kutscher atemlos die Adresse des Doktors zu. »Schnell! Bitte, beeilen Sie sich. Es geht um Leben oder Tod«, keuchte sie.

Kurz darauf hämmerte sie wieder gegen eine Tür, diesmal die des Doktors. »Doktor Montane! Doktor Montane!«

Im ersten Stock ging ein Fenster auf, und die barsche Stimme einer Frau rief hinunter: »Was soll der Krach? Was wollen Sie? Der Doktor schläft.«

»Dann wecken Sie ihn auf. Sagen Sie ihm, es geht um Mrs. Ratcliffe. Sie ist schwer krank.«

Ehe das Fenster wieder zuging, hatte ein Mann die Haustür geöffnet. »Ja, was gibt es?« wollte er wissen.

»Ich ... ich brauche Doktor Montane.«

»Der schläft. Ich bin Dr. Nelson. Was kann ich für Sie tun?«

Jetzt erhob sich eine Stimme hinter dem Mann. Es war Steve. »Alice? Was ist los?« rief er aufgeregt.

»Die Miß! Sie ist wieder attackiert worden.«

»Was!«

»Ja. Ja.« Alice nickte heftig mit dem Kopf. »Und jetzt hat sie sich im Ankleidezimmer eingeschlossen und macht nicht auf. Ich ... ich habe solche Angst, daß -«

»Ich komme sofort. Bist du mit der Droschke da?«

»Ja. Ja, Doktor.«

Während der junge Mann ihm den Mantel überwarf, schnürte Steve sich die Stiefel zu und saß eine Minute später mit Alice in der Droschke.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, flog er förmlich die Treppe hinauf in Emilys Schlafzimmer, wo die Köchin vor der verschlossenen Badezimmertür stand. »Da drinnen tut sich kein Mucks, Doktor«, sagte sie mit schwerer Zunge, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Hab’ vorhin den Tee heraufgebracht und dann dort drinnen etwas fallen hören.«

»Emily! Emily!« Steves Stimme klang streng. »Emily, machen Sie auf! Hören Sie mich? Emily!«

Mit einer Handbewegung bedeutete er Alice, Platz zu machen, und schob gleichzeitig die angetrunkene Köchin unsanft zur Seite. »Aus dem Weg«, rief er, nahm Anlauf und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Erst beim vierten Versuch gab das Schloß nach, und die Tür sprang krachend auf.

Emily lag auf dem Fußboden, das Gesicht in den Armen vergraben, neben sich auf einem kleinen Tisch eine leere Tablettenschachtel.

Er hob sie in eine halb sitzende Position, kontrollierte ihre Pupillen und versuchte dann, sie ganz aufzurichten. »Helfen Sie mir!« brüllte er die Köchin an. »Nehmen Sie den anderen Arm.«

»Aber sie kann ... nich’ gehn, Doktor«, lallte sie.

»Sie muß aber, Frau. Und du, Alice, lauf schnell und bring einen Krug heißes Wasser mit zwei Eßlöffeln Salz darin.«

»Salz?«

»Ja, Salz habe ich gesagt! Lauf jetzt. Und Sie«, wandte er sich an die Köchin, »halten Sie sie gut fest, und sehen Sie zu, daß Sie dabei selbst nicht Umfallen. Und eines sage ich Ihnen: Wenn Sie nicht ab sofort die Finger von der Flasche lassen, werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, daß Sie in diesem Haus keine Gelegenheit mehr haben, auch nur einen Schluck Wasser zu trinken. Halten Sie sie fest! Und jetzt gehen. Langsam gehen.«

Sie waren bereits viermal mit der halb bewußtlosen Emily den Korridor auf und ab gegangen, als Alice mit dem Wasserkrug zurückkam. »So, jetzt bringen wir sie langsam ins Schlafzimmer und setzen sie hin. Hast du das Wasser mit dem Salz umgerührt?«

»Ja, habe ich, Doktor.«

»Gut, dann gieß ein Glas voll.«

»Aber ... es ist noch heiß.«

»Das kühlt im Glas schon ab.«

Als er das Glas an Emilys Lippen führte, blieb ihr Mund fest geschlossen, bis er ihr recht unsanft die Nase zudrückte und sie keuchend nach Luft schnappte. Jetzt konnte er ihr etwas Salzwasser einflößen. Was sie nicht schluckte, lief an ihrem Hals entlang über das Nachthemd.

Als sie nach zwei Gläsern Wasser immer noch keinerlei Reaktion zeigte, gab ihr der Doktor rechts und links eine Ohrfeige, und zwar so fest, daß Alice unter dem klatschenden Geräusch zusammenzuckte.

Und als sie dann endlich würgte und noch einmal würgte, rief der Doktor: »Den Nachttopf. Schnell!«

Emily erbrach sich. »Gott sei Dank!« murmelte Alice erleichtert, doch der Doktor beschied ihr nur brummend: »Es ist noch zu früh, ihm zu danken«, und hielt Emily dann noch einmal die Nase zu, damit sie mehr Salzwasser schluckte. Und als ihr Körper sich aufzubäumen begann, befahl er der Köchin: »Schnell, nehmen Sie wieder ihren Arm.« Dann schleppten sie die immer noch bewußtlose Emily wieder durchs Zimmer, wobei die Köchin in ihrer typischen Art vor sich hinbrummelte: »So eine Holzhammermethode ... das kann man ja nich’ mit anschauen... am liebsten würde ich gehen.«

»Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen vorhin gesagt habe. Sie werden noch eher gehen, als Ihnen lieb ist, mit und ohne Holzhammermethode.«

»Sie sind ein harter Mensch, Doktor.«

»Möglich, aber an Ihrem Grab werde ich mir dann vorwerfen müssen, daß ich nicht hart genug gewesen bin.«

»Doktor Smeaton ist -«

»Ach, halten Sie endlich den Mund, Frau, und gehen Sie weiter.«

Nach der dritten Runde bat er Alice, ein sauberes Nachthemd für ihre Herrin bereitzulegen. »Vorher wechsele aber bitte noch die Laken«, setzte er hinzu.

Emily lag jetzt auf der kleinen Couch vor ihrem Bett, Steve hatte sich daneben in einen Sessel gesetzt. Und als das Bett fertig überzogen war, zogen Alice und die Köchin ihrer Herrin das frische Nachthemd an, während er diskret mit dem Rücken zu ihnen am Waschtisch stand, sich die Hände wusch und den Schweiß vom Gesicht spülte.

Nachdem sie Emily zu Bett gebracht hatten, wandte sich Steve noch einmal an die Köchin: »Sie gehen jetzt am besten auch ins Bett, aber ohne Schlummertrunk! Und morgen werde ich ein Wörtchen mit Ihrer Herrin reden. Sie kann unmöglich jemanden in ihrem Haus beschäftigen, der vergißt, die Türen abzuschließen. Haben Sie mich verstanden?«

Die Frau nickte bedächtig, warf ihm einen grimmigen Blick zu und brummte zwischen zusammengepreßten Lippen: »Nur zu gut, Doktor.« Dann verließ sie behenden Schrittes das Zimmer.

»Hast du ihr erzählt, was genau passiert ist?« wollte Steve jetzt von Alice wissen.

»Ja ... ja, ich glaube schon; ich war so furchtbar durcheinander.«

»Das ist ja auch verständlich. Ich werde morgen mit ihr darüber sprechen. Aber, aber, nicht weinen. Du bist sehr tapfer gewesen und hast vor allem richtig und schnell reagiert.«

»Es war so schrecklich, Doktor. Er hat sich gebärdet wie ein Wahnsinniger. Und sie hat sich nach Kräften gewehrt; ja, das hat sie.«

»Es ist ja gut, Alice. Ich verstehe schon. Du solltest jetzt auch ins Bett gehen.«

»Aber jemand ...«

»Ja, jemand sollte bei ihr bleiben, deshalb werde ich es mir auf diesen beiden Stühlen hier bequem machen. Und mach dir keine Sorgen um sie. Sie wird wieder auf die Beine kommen.«

»Ach, Doktor. Die Ärmste hat so viel durchmachen müssen.«

»Das ist wahr. Aber ab jetzt wird sich alles ändern. Das kann ich dir versprechen.«

»Ehrlich?«

»Ja, Alice. Und jetzt geh schlafen. Du wirst morgen einen anstrengenden Tag haben. Und mach dir keine Gedanken mehr. Gute Nacht. Horch, Big Ben schlägt schon Mitternacht.«

»Gute Nacht, Doktor.«

»Gute Nacht, Alice.«

Er schob den Nachtkasten beiseite und platzierte die beiden Sessel so neben dem Bett, daß er Emily im Auge hatte. Dann nahm er das Plaid vom Sofa, machte es sich in den Sesseln so gut es ging bequem und deckte sich zu. Seine letzten Gedanken vor dem Einschlafen galten jedoch nicht Emily, sondern dem, was er am nächsten Morgen zu tun beabsichtigte.

Als Emily die Augen aufschlug, fiel ihr Blick geradewegs auf Steve. Sie fühlte sich elend, ihr Kopf jedoch war klar. Sie erinnerte sich an alles, was geschehen war, bevor sie die Tabletten schluckte; sogar an Alices Stimme, die sie anflehte, doch die Tür aufzumachen. Was danach passierte, das konnte sie nur ahnen. Und Steve war da. Aber warum tat er das? So viel Freundlichkeit konnte einem weh tun. Oh, sie wünschte, sie wäre gestorben.

Leise öffnete sich die Tür. Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete Emily, wie Alice mit einem Tablett in der Hand hereinkam, dieses auf dem Tisch abstellte und an ihr Bett trat.

»Wie fühlen Sie sich, Miß?« Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Ich glaube, eine Tasse Tee ist jetzt genau das Richtige für Sie, nicht?«

Die gute Alice, dachte Emily. In gewisser Weise war sie ihm sehr ähnlich, so liebenswürdig, so aufmerksam und besorgt anderen gegenüber. Warum taten sie das alles? Ach, wenn sie sie doch nur allein gelassen hätten... Sie konnte diesem Tag nicht ins Auge blicken; und der Zukunft schon gar nicht...

Dem langgezogenen Brummen aus dem Sessel folgte ein leises Zischen, dann richtete sich Steve ruckartig auf: »Du liebe Zeit! Da bist du ja schon wieder, Alice. Wie spät ist es denn?«

»Gleich sieben, Doktor.«

»Siehen Uhr? Ich muß tatsächlich eingeschlafen sein.«

»Nun«, grinste Alice, »wenn ich midi richtig erinnere, sagten Sie doch, daß Sie hundemüde seien. Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»O ja, bitte.« Er schwang die Beine von dem zweiten Stuhl, blieb jedoch noch sitzen und trank erst seinen Tee, bevor er aufstand und Emily einen beiläufigen Blick zuwarf, als habe er sie gerade erst bemerkt. »Schönen guten Morgen auch.«

Statt einer Antwort bekam er nur einen stummen Blick von ihr.

»Na, wie fühlen Sie sich? Miserabel, nicht wahr?«

Als sie immer noch nicht antwortete, fuhr er achselzuckend fort: »Ist ja auch kein Wunder. Ich glaube, Sie gehen sich jetzt erst einmal ein wenig frisch machen. Ich bin gleich wieder zurück.«

Nachdem Steve das Schlafzimmer verlassen hatte, stellte Alice rasch die Stühle an ihren Platz zurück, bevor sie zu Emily ans Bett trat. Sie strich ihr mit sanften Bewegungen das Haar aus der Stirn und sagte dabei leise: »Daß Sie sich elend fühlen, ist ganz normal. Aber es wird alles gut werden, hat er gesagt. Du liebe Güte! Der war vielleicht aufgeregt. Aber es wird alles wieder gut, bestimmt. Bleiben Sie erst mal schön liegen.«

Emily wollte protestieren, aber sie fühlte sich körperlich so schwach, daß sie kaum ihre Teetasse halten konnte. Und auch als Alice sagte: »Ich wasche Ihnen jetzt das Gesicht und die Hände, dann fühlen Sie sich gleich frischer«, protestierte sie nicht. Im Augenblick war jeglicher Widerspruchsgeist in ihr erloschen.

Sobald Steve zurückkam, verließ Alice das Zimmer. Er setzte sich zu Emily ans Bett und wiederholte, den Blick fest auf sie geheftet, noch einmal Alices Worte. »Keine Angst, es wird alles gut werden.«

Jetzt drehte Emily ganz langsam den Kopf in seine Richtung, bis sich ihre Blicke trafen. Ihre Stimme klang dünn, als sie ihn fragte: »Warum haben Sie mich denn nicht gehen lassen? Damit hätten Sie mir einen größeren Gefallen getan.«

»Ich? Sie gehen lassen? Unmöglich«, erklärte er und zuckte dabei mit den Schultern. »Das hätte ich schon deshalb nicht gekonnt, weil... ich Sie nämlich zufällig liebe.«

Auf diese Worte hin schnellte ihr Kopf aus den Kissen hoch, um gleich darauf wieder matt zurückzusinken, und als sie ihn dann aus aufgerissenen Augen anstarrte, setzte er hinzu: »Nun machen Sie mal kein so erstauntes Gesicht. Das kann Sie doch nicht ernsthaft überrascht haben, oder? Ich habe Sie vom ersten Augenblick an geliebt und werde Sie immer lieben. Sie halsstarrige, bockbeinige Person, Sie. Ja, Sie sind wirklich eine schreckliche Frau. Aber es ist, wie es ist... ich liebe Sie einfach.«

»Aber Sie ... Sie wollten doch...«

»Heiraten?« half er ihr weiter und grinste dabei breit. »Ach das! Hören Sie, ich bin ein Mann, und Sie haben mein Ego angekratzt, indem Sie mir einen anderen Mann vorzogen. Und ich wollte nicht, daß Sie glauben, ich könnte ohne Sie nicht leben. Nein, so ein Typ bin ich nicht. Ich wollte Ihnen zeigen, daß – entschuldigen Sie den platten Ausdruck – andere Mütter auch schöne Töchter haben, die nur darauf warten, zum Traualtar geführt zu werden. Und deshalb habe ich genau die ausgesucht, die Ihnen am meisten gegen den Strich geht.«

Irgendwo tief in ihrem Inneren formte sich ein Lächeln, und obwohl sie es nicht auf ihre Lippen bringen konnte, wunderte sie sich doch über seine Worte. Er war so menschlich, dieser Mann, behaftet mit all den menschlichen Schwächen und gleichzeitig so entschlossen, so aufmerksam, so zuvorkommend.

»Ich bin unheimlich eifersüchtig. Das werden Sie noch herausfinden. Und ich tue oft genau das Gegenteil von dem, was man von mir erwartet. Meine Familie weiß das. Als ich meiner Mutter gestern sagte, daß ich beabsichtige, Biddy zu heiraten, da schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und meinte: › Ausgerechnet die, die ist ja fast so schlimm wie Tante Phoebe. Wenn der Rest der Familie davon erfährt, dann brauchst du dich hier bis an dein Lebensende nicht mehr blicken zu lassen‹ Ja, genau das waren ihre Worte. Nun, was haben Sie dazu zu sagen?«

»Oh, Steve«, begann sie und schluckte dann heftig. »Wie ... wie kannst du mich nach all dem noch lieben?«

»Diese Frage habe ich mir allerdings auch etliche Male gestellt. Aber wie gesagt, ich kann mir nicht helfen: Ich liebe dich einfach; ich will nur dich; und ich habe immer noch die Hoffnung, daß du mich eines Tages genauso wirst lieben können wie ich dich. Nein, bitte, weine jetzt nicht. Sag mir nur, glaubst du, daß du mich jemals lieben wirst? Wirklich lieben?«

»Ich ... ich glaube, Steve, daß ich dich schon immer geliebt habe – ich habe es nur nicht gewußt. Ja, ich hatte diese Gefühle für dich, doch ich habe dagegen angekämpft. Aber sprich jetzt bitte nicht weiter. Ich möchte im Augenblick nicht darüber nachdenken oder darüber sprechen, denn letzte Nacht ist etwas geschehen, das alles ändern ...«

»Ich weiß, was letzte Nacht geschehen ist. Man hat es mir auf lebhafteste Weise geschildert. Ich könnte vor Wut platzen. Aber mein Zorn richtet sich nicht gegen dich; nein, nicht gegen dich. Weißt du, ich hatte mir fest vorgenommen, endlich reinen Tisch zu machen. Genauer gesagt, gleich am nächsten Tag, nachdem ich erfahren hatte, daß Mutter und du dieses Gespräch hattet. Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich nicht schon gestern abend gekommen bin.« Er ließ den Kopf sinken. »Ja, das war wirklich ein großer Fehler. Aber du mußt diesen Abend vergessen, Emily. Willst du mich heiraten?«

»O Steve!«

»Nicht ›o Steve‹. Ich frage dich, ob du mich heiraten willst?« wiederholte er und rückte ein wenig näher an sie heran.

»Danke. Ich danke dir. Ja, ich will dich heiraten, Steve. Aber... nein, warte.« Sie drückte sein Gesicht von sich weg, schloß die Augen und ließ den Kopf zur Seite fallen. »Wenn ... ach je! Ich muß es sagen, obwohl es schrecklich ist. Deshalb habe ich auch die Tabletten geschluckt... Ich konnte den Gedanken an die möglichen Konsequenzen nicht ertragen. Weißt du ... was ich meine?«

»Ja, mein Liebes, ich weiß genau, was du meinst; daß du die Konsequenzen noch einmal allein tragen müßtest. Aber das wird nicht geschehen.«

»Oh« – sie rückte von ihm ab –, »du tust das doch etwa nicht, um mich... nicht in Verlegenheit zu bringen, oder?«

»Sei nicht albern. Ich tue das, wie du es nennst, weil ich dich liebe ... Und ich will dich, verstehst du nicht? Ich will dich als meine Frau ... mit deinem Sturkopf, deiner Streitsucht, deinem Geschäftssinn... und deiner Schönheit.« Seine Stimme war jetzt nur noch ein rauhes Flüstern. Er streichelte ihre Wangen, brachte langsam seine Lippen an die ihren, und als sie die Arme um seinen Nacken legte, zog er sie dicht an sich und hielt sie eine Weile. »Ich hätte wirklich keinen ungünstigeren Zeitpunkt für meinen Heiratsantrag finden können als ausgerechnet diesen Morgen, wo du noch halbtot im Bett liegst. Dieses Ereignis hätte gefeiert werden müssen, durch den Salon hätten wir tanzen müssen, oder über den Trafalgar Square ... Bitte! Bitte, hör auf zu weinen. Schau, da kommt dein Schutzengel.« Er legte sie vorsichtig zurück in die Kissen und drehte sich zu Alice um, die wie festgenagelt in der Tür stehengeblieben war und mit großen Augen, aber einem Lächeln im Gesicht von einem zum anderen sah. »Ja, du siehst schon richtig, Alice!« rief er ihr entgegen. »Habe ich dir nicht versprochen, daß alles gut wird? Vielleicht bin ich verrückt, aber ich habe gerade deine Herrin gefragt, ob sie mich heiraten will.«

»Doktor! Sie sind der netteste Mann auf der ganzen Welt«, jauchzte sie wie ein kleines Mädchen und kam ans Bett geeilt. Dort nahm sie Emilys und Steves Hand und drückte sie. »Das ist der glücklichste Tag in meinem Leben. Aber wo werden Sie wohnen?«

»Ach, so weit sind wir noch gar nicht. Vielleicht auf dem Land; dort wird gerade eine nette, kleine Praxis frei.«

»Oh.« Alice klang ein wenig enttäuscht. Doch dann sagte sie: »Werden Sie mich dorthin mitnehmen?«

»Wir werden dich überallhin mitnehmen, Alice. Nicht wahr?« Er tauschte einen Blick mit Emily, und deren Antwort lag in dem Blick, den sie Alice daraufhin zuwarf.

»So, jetzt muß ich aber schleunigst gehen. Ich habe einiges zu erledigen heute morgen. Alice, du kümmerst dich doch um Emily, bis ich zurückkomme, ja?«

»Aber selbstverständlich, Doktor.«

Er küßte Emily nicht zum Abschied, führte aber ihre Hand an seine Wange und verließ dann das Schlafzimmer. Auf dem Treppenabsatz drehte er sich noch einmal um und rief: »Alice!«, und als diese herbeigeeilt kam, änderte er seinen Tonfall und sagte leise: »Tu mir noch einen Gefallen. Wenn ihre Freundinnen kommen, um sie zu besuchen, dann sag ihnen... ja, sag ihnen, daß gestern nacht ein Mann hier eingedrungen ist. Du kannst ihnen auch sagen, wer es war, aber nicht, was tatsächlich passiert ist. Erzähl ihnen, er habe versucht, sie zu küssen, oder etwas Ähnliches. Verstehst du, was ich meine? Aber sag ihr vorher Bescheid, was du den Leuten erzählst, damit nicht aus Versehen doch die Wahrheit ans Licht kommt. Ich verlaß mich auf dich. Und noch etwas ist ganz wichtig, erklär der Köchin, was sie zu sagen hat, und daß sie fliegt, wenn sie sich nicht daran hält. Gib ihr das klar und deutlich zu verstehen.«

»Keine Sorge, ich werde es ihr schon beibringen, und den anderen auch.«

Sie wechselten einen Blick wie zwei Verschwörer, dann legte er ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Sie kann Gott danken, daß sie dich hat, Alice. Ich habe eine sehr wichtige Angelegenheit zu regeln, und es kann gut sein, daß ich heute nicht mehr vorbeikomme. Ich muß mal sehen. Bleib du bitte bei ihr und versuche sie ein wenig aufzuheitern, denn selbst diese Neuigkeit, mit der ich sie gerade überrascht habe, kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie sie sich wirklich fühlt – hundeelend nämlich.«

»Keine Sorge, Doktor, ich werde mich um sie kümmern. Und ich glaube, der Zeitpunkt war goldrichtig gewählt«

Sie tauschten ein Lächeln, dann meinte er nickend: »Ja, das glaube ich auch.«

Wenig später stand er vor einer auf Hochglanz polierten Tür in der besten Gegend von London und drückte die Klingel. Ein Mann in Livree öffnete. »Sie wünschen, Sir?« »Idi möchte Mr. Steerman sprechen«, sagte er und setzte auf die Frage des Butlers, welchen Mr. Steerman er zu sprechen wünsche, hinzu: »Den Sohn.«

Der Mann zögerte einen Augenblick. »Wen darf ich melden, Sir?«

»Doktor Montane.«

Der Titel ›Doktor‹ schien den Mann beeindruckt zu haben, denn er öffnete jetzt die Türe weit und bat ihn herein. »Wenn Sie sich bitte einen Augenblick gedulden möchten, Sir.«

Steve stand in der Eingangshalle und sah sich ohne größeres Interesse um; er hatte bereits etliche elegante Häuser dieser Art besucht. Der Butler verschwand in dem Korridor, der sich vor ihm erstreckte, und im selben Moment, als er an einer Tür klopfte, erschien oben auf der Treppe, die sich zu seiner Linken emporwand, ein Mann in einem weinroten Hausmantel. Und noch während dieser langsam die Treppe herunterkam, hatte Steve bereits dessen aufgedunsenes Gesicht und die verquollenen Augen registriert. Und obwohl er Paul Steerman nie persönlich kennengelernt hatte, wußte er instinktiv: dies war sein Mann.

Steve trat ihm einige Schritte entgegen, als er die letzten Stufen erreichte. Sie maßen einander einen Moment lang mit musternden Blicken, dann sagte Steve: »Mr. Paul Steerman?«

»Ja. Was wollen Sie?« erkundigte sich dieser mit schwerer Zunge.

»Nur das.«

Steves Faust traf den völlig unvorbereiteten Paul Steerman genau zwischen den Augen, der sich, rückwärts taumelnd, gerade noch am Treppengeländer festhalten konnte. Doch binnen Sekunden war er wieder auf den Beinen, schüttelte kurz den Kopf und warf sich dann mit aller Kraft auf den fremden Besucher. In dem anschließenden Handgemenge schlug er mit dem Kopf gegen Steves Mundwinkel. Der salzige Blutgeschmack auf seinen Lippen brachte Steve so in Rage, daß er nur noch wie ein Besessener um sich schlug. Doch als er dann die Hände, die an seinen Schultern zerrten, gewahrte, brachte ihn dies so weit wieder zur Vernunft, daß er einen letzten, gezielten Schlag im Gesicht seines Gegners landen konnte, der diesen gegen die holzvertäfelte Wand schleuderte.

Und dann erfüllte eine tiefe, achtunggebietende Stimme die Halle. »Was ... was hat das zu bedeuten? Wer sind Sie?«

Zwei Männer, der livrierte Butler und Paul Steermans Diener, hielten Steve noch immer an den Schultern fest, als dieser jetzt dem großen, weißhaarigen Mann, der vor ihm stand, entgegenbrüllte: »Ich bin Doktor Steve Montane und –« Er rang nach Luft und leckte sich das Blut von den Lippen, bevor er unbeirrt fortfuhr: »Und ich bin hier, weil Ihr Sohn letzte Nacht in Mrs. Ratcliffes Haus eingedrungen ist und ihr Gewalt angetan hat... deutlicher gesagt, er hat sie vergewaltigt. Ihre Schreie und Hilferufe weckten zwar das Personal, doch leider zu spät. Aus Verzweiflung hat sie noch in derselben Nacht einen Selbstmordversuch unternommen.«

Die Lippen des alten Mannes formten zunächst ein lautloses »O mein Gott!«, doch im nächsten Moment hatte er die Stimme wiedergefunden. »Lassen Sie ihn los!« befahl er den beiden Dienern.

Steve stolperte ein, zwei Schritte zurück, dann wischte er sich mit einem Taschentuch das Blut vom Kinn. Der große, hagere Mann mit der würdevollen Haltung musterte seinen Sohn einige Sekunden schweigend, ehe er den beiden Männern mit einer knappen Kopfbewegung zuraunte: »Bringen Sie ihn auf sein Zimmer.«

Als Paul Steerman versuchte, die Hände seines Dieners abzuschütteln, herrschte sein Vater ihn an wie einen aufsässigen Jungen: »Auf dein Zimmer!« Und an Steve gewandt, fuhr er in gemäßigtem Tonfall fort: »Die fragliche Frau, ist sie ...«, begann er, worauf Steve ihn sofort korrigierte: »Die fragliche Dame, Sir, wenn ich bitten darf. Ja, sie lebt, steht aber unter einem schweren Schock.« Und da sich Paul Steerman noch in Hörweite befand, rief er mit einem Blick die Treppe hinauf: »Sollte sie den Angriff jedoch nicht überleben, dann wird das Gericht dafür sorgen, daß Ihr Sohn dafür bezahlt. Und nicht zu knapp.«

Diese Worte veranlaßten die beiden Diener auf der Treppe, kurz innezuhalten, worauf der alte Herr ebenfalls einen Blick nach oben warf, um sich dann sogleich wieder an Steve zu wenden. »Es scheint mir, als bringen Sie besagter Person ein Interesse entgegen, das über das eines Arztes hinausgeht, Sir; ein übermäßiges Interesse, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Da es sich bei dieser Dame um meine zukünftige Frau handelt, betrachte ich mein Interesse keineswegs als übermäßig, Sir.«

Das weiße Haupt senkte sich, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als der alte Mann erwiderte:

»Wenn das so ist, bedauere ich diese peinliche Angelegenheit um so mehr... und ich verspreche Ihnen, Sir, daß so etwas -«

»Sparen Sie sich die Bemerkung, daß so etwas zukünftig nicht mehr vorkommen wird, Sir«, fiel Steve ihm schroff ins Wort. »Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, daß Ihr Herr Sohn nach dieser Entgleisung keine Gelegenheit mehr haben wird, sich in ehrbaren Kreisen noch einmal sehen zu lassen.«

»Bitte!« Der große alte Mann machte zwei Schritte auf Steve zu. »Ich... ich flehe Sie an, diese Angelegenheit nicht an die Öffentlichkeit zu bringen. Mein Sohn wird dafür bezahlen, das verspreche ich Ihnen.«

»Ach, so wie beim letzten Mal? Als Ihre Schwiegertochter sich derart erniedrigen mußte, um seine Haut zu retten? Das soll jetzt noch einmal geschehen?«

Der alte Mann straffte die Schultern und erklärte mit leiser Stimme: »Ja, darum bitte ich Sie, Sir. Wie zuvor meine Schwiegertochter, so erniedrige auch ich mich jetzt und bitte Sie um Nachsicht.«

Steve konnte sich nicht helfen, aber er hatte auf einmal Mitleid mit diesem alten Mann, dem Oberhaupt einer ehrwürdigen Familie, der einen Taugenichts an Sohn großgezogen hatte. Daß so etwas öfter vorkam, das wußte er, aber es war das erste Mal, daß er ein solches Drama persönlich miterlebte. Er hatte keineswegs die Absicht, diese widerwärtige Angelegenheit an die große Glocke zu hängen, schon allein deshalb nicht, weil Emily eine solche Bloßstellung gar nicht verkraftet hätte. Aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen, wenigstens die Möglichkeit einer Anzeige im Raum stehen zu lassen; er wollte diesen Schuft nicht nur körperlich verletzen, sondern auch für alle Zeiten gesellschaftlich ruinieren. Er hüllte sich einige Zeit in nachdenkliches Schweigen und erklärte dann: »Ich werde sehen, ob ich etwas in Ihrem Sinne unternehmen kann, aber letztlich hängt es davon ab, ob die Dame wieder genesen wird.«

»Vielen Dank.«

Am anderen Ende der Eingangshalle tauchte jetzt ein Hausdiener auf, reichte Steve seinen Hut, der während des Handgemenges zu Boden gefallen war, und öffnete ihm die Haustür, worauf Steve ohne ein weiteres Wort das Haus verließ. Seine Lippen bluteten noch, und seine Knöchel brannten wie Feuer. Er fühlte sich schwach auf den Beinen und hatte nur noch den Wunsch, sich hinzusetzen. Er hielt die nächste Droschke an und ließ sich in die Praxis fahren, wo sein neuer Assistent, Doktor Nelson, der gerade die letzten Opfer einer nächtlichen Wirtshausschlägerei verarztet hatte, ihn mit der Bemerkung empfing: »Gütiger Himmel, Sir! Sie etwa auch?«

»Ja, sieht fast so aus. Ich glaube, ein, zwei Stiche könnten meiner Lippe nicht schaden.«

»Nein, so was! Wie ist das denn passiert? Hat es was mit der Angelegenheit von gestern Nacht zu tun?«

»Ja, in gewisser Weise. Aber Schluß jetzt mit dem Gerede, holen Sie die Nadel.«

Im Umdrehen meinte der junge Mann: »Soll ich mir Ihre Fingerknöchel auch ansehen? Wie ich Sie kenne, machen Sie keine halben Sachen, nicht wahr?«

Steve ließ sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen und dachte: Wie sich die Zeiten doch ändern. Hätte er damals gewagt, in einem so vertraulichen Ton mit dem alten Smeaton zu reden, hätte der mit ihm den Boden gewischt. Aber er mochte die lässige Art dieses Grünschnabels, der zudem noch gute Anlagen mitbrachte.

»Au!« schrie er und dann nochmals »Au!«, als die Nadel zum zweitenmal in seine Lippe stach, aber er wartete, bis der dritte Stich verknotet war, ehe er, eine Hand auf den Mund gepreßt, murmelte: »Das Nähen müssen wir aber noch üben.«

»Ach, und ich dachte, ich sei handwerklich ganz geschickt.«

»Ja, ein Maurer würde es nicht besser machen. Aber keine Sorge, wenn Sie mit einer offenen Lippe hier antanzen, werde ich Ihnen den richtigen Gebrauch von Nadel und Faden gerne noch einmal demonstrieren.«

Lachend wandte sich der junge Mann ab und meinte dann: »Was Sie jetzt brauchen, Sir, ist ein anständiger Drink.«

»Die Diagnose stimmt, Kollege. Holen Sie die Flasche, aber lassen Sie sich dabei nicht von Mutter Shipton erwischen, sonst steht in fünf Minuten Dr. Smeaton in der Tür. Und je weniger über die Angelegenheit gesprochen wird, desto besser.« Er sah zu Doktor Nelson hoch. »Sie verstehen?«

»Ja, natürlich. Haben Sie etwas geschlafen?«

»Ja, ein wenig.«

»Und wie geht es ihr?«

»Sie wird überleben.«

»Gut! Das ist gut.«

Steve schloß für einen Moment die Augen. »Gut!« wiederholte er in Gedanken. »Soweit jedenfalls. Aber was ist, wenn...? Abwarten!« ermahnte er sich und überlegte weiter, daß er sie auf alle Fälle noch vor Ende des Monats heiraten sollte. Doch seine innere Stimme wollte nicht schweigen. »Warum tust du das? Was ist, wenn sie wirklich schwanger ist...?«

»Abwarten. Das Problem lösen wir, wenn es sich tatsächlich stellen sollte.«

Die Frage, warum er das tat, hatte er damit noch immer nicht beantwortet, denn die Tatsache, daß er in sie verliebt war, erschien ihm als Antwort zu simpel. Verliebt zu sein war für ihn ein eher vorübergehender Zustand ... jemanden zu lieben jedoch, das war etwas ganz anderes. Vielleicht war es das.