»Nun, Montane, du sitzt da mit gespitzten Ohren, sagst kein Wort, und dabei bist du der Mann für Geschichte. Wie, glaubst du, wird es mit England weitergehen, jetzt, da die Königin tot ist und ihr unerfahrener Sohn auf dem Thron sitzt? Wird unser Land weiterhin so stabil und – was das Erobern anbelangt – so erfolgreich bleiben?«
Jason ließ seinen Blick auf Hector Mills-Cotton verweilen. Er mochte ihn nicht besonders, und entsprechend knapp fiel denn auch seine Antwort aus. »Gleich vorweg, ich glaube, das mit dem Erobern kannst du weglassen. Die Ereignisse der vergangenen zehn Jahre haben unmißverständlich gezeigt, daß ein Wandel unumgänglich ist. Das neunzehnte Jahrhundert war eine wahre Brutstätte der Spannungen zwischen den Mongolen-Staaten und Europa, und China war quasi die Mutter des Ganzen. Und was geschah dann? Wir und andere Nationen setzten ihr durch den Krieg und den Handel so arg zu, bis sie fast ausgeblutet war, und überließen sie dann mit offenen Wunden den Japanern, damit sie ihr den Rest geben konnten.«
»Willst du China etwa als arme, falsch verstandene, in die Irre geführte und drangsalierte Nation darstellen?« schnappte Mills-Cotton. »Und was ist mit dem Boxeraufstand? Und den Massakern?«
»Ja, was ist damit? Meiner Meinung nach war das die logische Konsequenz eines verzweifelten Volkes, einer uralten Kultur, ausgelöst durch die Japaner, die Hunnen und die Engländer und deren unersättliche Gier nach Handel und Profit. Die alte Kaiserwitwe befahl das Massaker, ja, aber niemand spricht von den vielen Mandarinen, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um die Engländer vor dem Kommenden zu warnen. Ja, von den fürchterlichen Verwüstungen, die auf das Konto der Chinesen gehen, von denen hört und liest man viel, aber über die Zerstörungswut westlicher Soldaten, die raub- und brandschatzend durchs Land zogen und antike Bauwerke und Kunstschätze dem Erdboden gleichmachten, die nun für immer für die Welt verloren sind, von denen spricht kaum jemand. Ja, Kopien davon existieren noch, von den Japanern nachgemacht, die ohnehin die größten Imitatoren sind. Und all das geschah nicht im letzten Jahrhundert, sondern praktisch zu unseren Lebzeiten. Es ist wirklich zu schade, daß die Eroberer sich nicht auch die Philosophie dieser großen Nation zu eigen gemacht haben, andererseits ist es ein großes Glück, daß einige Überlebende des Aufstandes mit den Lehren des Konfuzius vertraut waren und an den Frieden glaubten oder immer noch glauben.«
»Du meine Güte!« rief Bruce McVain und schüttelte den Kopf. »Bist du etwa einer von den neuen Sozialisten?«
»Nein, bin ich nicht. Aber ich bin auch kein eingefleischter Tory oder einer dieser gemäßigten Liberalen.«
»Hört, hört. Hier sitzt der neue Premierminister, der genau wie der gegenwärtige nicht weiß, zu welcher Seite er gehört.«
»Oh, ich weiß genau, zu welcher Seite ich gehöre«, gab Jason zurück, verkniff sich aber den Zusatz ›und das ist nicht die deine‹. Seit er dem Ruderclub beigetreten war, mußte er feststellen, daß er McVain noch weniger leiden konnte als Mills-Cotton. Robert Anderson dagegen mochte er sehr, und auch mit Jim Fordyce kam er gut aus. Es war Anderson, der sich schließlich bemüßigt fühlte, diese hitzige Diskussion abzubrechen. »Ich würde Vorschlägen, wir lassen die Politik für heute ruhen und gehen unsere eigenen Angelegenheiten an.«
»Einverstanden, aber nur, wenn du noch ein Glas Wein rausrückst. Du bist sehr knausrig mit deinem Wein, Robert, finde ich.«
»Und das muß ich auch sein, Hector«, entgegnete Robert und nickte vielsagend. »Du hast die Flasche nämlich fast allein geleert. So, jetzt hört zu, Freunde. Das ist mein letztes Jahr hier, und ich habe vor, diesmal in den Torpids und später den Achtern mehr Punkte zu holen als in den Jahren zuvor, selbst wenn ich dafür übers Wasser laufen und die Burschen rammen müßte.«
»Wir kriegen das schon hin bei den Torpids, keine Bange«, versicherte ihm Hector, »nur beim Achter habe ich so meine Bedenken. Gut, bis Mai haben wir ja noch Zeit, aber die anderen auch.«
Jetzt hievte sich Jim Fordyce aus dem tiefen Ledersessel hoch und legte Robert die Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, mein lieber Robert, wir werden dich schon richtig aufbauen. Und in Oriel tragen wir dich dann auf den Schultern durch die Stadt und lassen dir das Hochamt lesen ...«
»Schluß jetzt mit dem Unsinn, Jungs. Ich muß meine Arbeit noch fertigschreiben, und ihr habt bestimmt auch noch etwas zu tun, wenn ich mich nicht irre.«
»Genau. Die Höhe einer Pyramide errechnet sich aus...«
»Schafft ihn weg, bitte.«
Unter lautem Gelächter verließen sie Roberts Zimmer. An der Tür drehte sich Bruce McVain zu Jason um und sagte: »Hast du am Mafeking-Tag wenigstens laut hurra gerufen, Montane?«
Die kleine Gruppe verfiel in betretenes Schweigen, denn jeder wußte, daß Bruce die Frage nur gestellt hatte, um Jasons Vaterlandsliebe zu testen. »Nein, habe ich nicht«, lautete Jasons Antwort. »Mein Cousin ist dort unten gefallen. Sein Name war Major James Montane, und er hinterließ eine Frau und drei kleine Kinder.« Als er daraufhin eilig davonging, folgte ihm keiner seiner Kameraden, und er hörte auch nicht, wie Anderson sagte: »Das war nicht sehr geschmackvoll, Bruce.«
»Möglich«, gab McVain zurück. »Aber ich kann den Kerl nicht leiden, und das soll er ruhig wissen. Versteh gar nicht, warum ihr ihn unbedingt im Boot haben wolltet. Cassidy war doch nicht schlecht.«
»Das ist meine Sache.«
»Ja, ist es wohl. Gute Nacht.«
Niemand antwortete ihm, als auch er seines Weges ging. Zurück blieben Jim Fordyce, Hector Mills-Cotton und Robert Anderson. »Ich kann mir schon denken, warum er ihn nicht leiden kann«, meinte Jim mit gedämpfter Stimme. »Montane ist im Gegensatz zu Bruce so durch und durch britisch, daß er diesen überzogenen Patriotismus gar nicht nötig hat.«
»Schon gut«, brummte Mills-Cotton und schob Fordyce zur Treppe. »Immer wenn du zu tief ins Glas schaust, fängst du an, die Charaktere der Leute zu sezieren. Komm jetzt.«
Nachdem Robert Anderson die Tür hinter seinen Freunden geschlossen hatte, lehnte er sich mit dem Rücken dagegen und betrachtete nachdenklich das Chaos, das sie in seinem Zimmer hinterlassen hatten: leere Gläser und Flaschen stapelten sich auf dem Tisch; Papiere und Zeitungen lagen auf dem Boden verstreut, dazwischen Asche und Kohlestückchen aus dem Kamin. Aber das Aufräumen war Sache seines Burschen; er würde sich jetzt schlafen legen. Das war kein sonderlich vergnüglicher Abend gewesen. Obwohl das alles seine Freunde waren ... oder nicht? Bis jetzt jedenfalls hatte er Hector als seinen Freund betrachtet, doch Hector war im Grunde ein aristokratischer Snob. Aber dieser Jason, das war ein feiner Kerl. Es war die Redlichkeit und diese Offenheit, die beinahe an Furchtlosigkeit grenzte, die ihm an Jason so imponierte. Er wünschte, er wäre auch so freimütig. Verfluchte Arbeit, er konnte jetzt nicht mehr denken; er würde morgen ganz früh aufstehen und sie fertigschreiben. Er durfte seinen Großvater nicht enttäuschen. In einem Monat schon begannen die Weihnachtsferien. Großer Gott! Wie es ihm davor graute!