Kapitel 3

Der Vorschlag, gemeinsam nach Hause zu fahren – zumindest bis London, wo er dann den Zug nach Sussex nehmen mußte –, kam von Robert.

Es war der erste Samstag im Dezember. Am Abend zuvor hatten die Studenten das Semesterende traditionsgemäß mit einem feuchtfröhlichen Fest gefeiert, das später in McVains Zimmer seine Fortsetzung fand, wo noch mehr Wein getrunken und noch mehr Geschichten erzählt wurden. Verschwommen erinnerte sich Jason, daß er irgendwann im Laufe der Nacht eine Pantomime zum besten gegeben und unter dem tosenden Beifall seiner Kommilitonen diverse Varieté-Sänger imitiert hatte. Ganz genau wußte er es nicht mehr, aber Robert hatte noch am Morgen schallend darüber gelacht.

Robert vertrug eine Menge; er schien an Alkohol gewöhnt zu sein. Und er hatte auch an diesem Abend, wie schon etliche Male zuvor, Jason geraten, Bruce einfach nicht zu ernst zu nehmen. »Der ficht einen inneren Kampf aus, weißt du. Sein Vater ist ein recht einfacher Mensch, steinreich zwar, aber ohne große Bildung. Deshalb reitet er auch immer auf seiner Großmutter mütterlicherseits herum. Sie ist eine DeWhit. Das habe ich dir gestern dauernd versucht zu erklären. Diese Frau weiß alles über dich. Kennst du sie?«

»Nein«, hatte Jason daraufhin geantwortet. »Nie von ihr gehört.«

Am frühen Morgen dann nahmen sie sich eine Droschke und ließen sich zum Bahnhof fahren.

»Komisch, wie viele Studenten über das Wochenende noch hierbleiben«, bemerkte Jason, als die Droschke aus dem Campus rollte. »Ich für meinen Teil kann es kaum erwarten heimzukommen, obwohl ich heute morgen auf allen vieren aus dem Bett kriechen mußte. Mein Gott, hatte ich einen dicken Schädel! Bis auf weiteres lasse ich besser die Finger vom Wein; das ist nichts für mich.«

»Warum hast du denn kein Aspirin genommen?«

»Hab’ ich, zwei sogar«, entgegnete Jason seufzend und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, woraufhin Robert seinen Studienkollegen nachdenklich betrachtete. Das war der erste Mensch, an dessen Freundschaft ihm wirklich sehr viel lag, ging es ihm durch den Sinn. Während der vergangenen zwei Wochen hatte er jede Gelegenheit genutzt, mit Jason ins Gespräch zu kommen. Und er war sehr überrascht, als dieser plötzlich die Augen aufschlug, ihn intensiv anschaute und sich erkundigte: »Was machst du eigentlich über die Weihnachtsferien?«

»Nun ja, wahrscheinlich werde ich wieder im Dreieck springen müssen«, sagte er und lachte kurz auf. »Zuerst besuche ich meine Eltern in Sussex, anschließend dann meinen Großvater, wobei es davon abhängt, wo er sich gerade aufhält. Er führt nämlich zwei Haushalte – einen in Schottland und einen in London – und pendelt ständig hin und her.«

»Ich nehme an, du wirst dich vor Einladungen zu Gesellschaften und Bällen kaum retten können.«

Robert kramte umständlich in seiner Manteltasche und brachte schließlich seinen Tabaksbeutel zum Vorschein, um sich eine Pfeife zu stopfen. Er konzentrierte sich eine Weile ganz auf diese Tätigkeit und meinte dann lachend: »Wie kommst du darauf, daß ich mich vor Einladungen kaum retten könnte?«

»Na ja, nachdem deine Familie drei Wohnsitze unterhält, da dachte ich mir einfach, daß du jeden Abend auf einer anderen Gesellschaft tanzt.«

Die Pfeife brannte, und Robert nahm erst einen tiefen Zug, bevor er antwortete: »Es wird dich vielleicht überraschen, Jason, aber ich war in meinem ganzen Leben erst auf einer einzigen dieser sogenannten Gesellschaften. Und das war die Hochzeit meiner älteren Schwester. Freilich, da gibt es die Jagden, aber die würde ich nicht als Gesellschaften bezeichnen. Unsere schottischen Freunde und Nachbarn sind alle im Alter meines Großvaters und ziemlich seriös.« Er lächelte.

»Aber du hast doch noch eine Schwester, sagtest du. Geht die denn nicht zu Gesellschaften oder Bällen?«

»Marian? Die macht sich aus so was nichts. Die ist nur glücklich, wenn sie auf einem Pferd sitzt. Marian verbringt ihre Zeit entweder im Stall oder hetzt ihre Pferde durch die Landschaft. Wie steht es mit dir? Reitest du viel?«

»Ich? Nein, überhaupt nicht.«

»Wirklich?«

»Nun, ich bin mitten in London aufgewachsen.«

»Verstehe ... und was treibst du dann so in deiner Freizeit?«

»Ach, verschiedenes. Unsere Familie geht zum Beispiel gerne aus, ins Theater oder ins Variété. Manchmal vergrabe ich mich auch in historischen Recherchen, aber am liebsten begleite ich meinen Vater auf seinen Visiten.«

»Patienten besuchen?«

»Ja, aber nicht solche, die zu meinem Vater in die Praxis kommen. Die Leute, die er besucht, haben noch nie etwas von Pimlico gehört; vom East End vielleicht, aber selbst dort waren die meisten von ihnen noch nicht einmal.«

»Hat dein Vater dort eine Praxis?«

»Ja, er unterhält dort seit vielen Jahren eine Art Ambulanz; die hat er schon vor meiner Geburt eröffnet, soviel ich weiß.«

»Aber die haben doch gewiß eigene Ärzte in diesen Vierteln.«

»Sicherlich, aber umsonst gibt es dort auch nichts. Wenn du kein Geld hast, dann kannst du dich entweder zum Sterben hinlegen oder deine Wunden so lange vor sich hin eitern lassen, bis das Bein von selbst abfällt.«

Robert ließ ein verlegenes Lächeln hören. »Verzeihung«, murmelte er dann. »Echauffiere dich bitte nicht so. Da ich nicht über deine Erfahrung verfüge, mag man mir meine Unwissenheit verzeihen. Aber warum hast du denn nicht Medizin studiert, wenn du dich schon so engagierst?«

Jasons Tonfall änderte sich, als er nach einer Weile erklärte: »Ach, weißt du, ich glaube, ich bin zu egoistisch. Ich habe miterlebt, wie sich mein Vater für andere Menschen aufarbeitet, und mir ist klar geworden, daß ich nicht über den Enthusiasmus und die Geduld verfüge, mich für Leute aufzuopfern, die das wenige Geld, das sie in den Fabriken verdienen, in Gin umsetzen, oder das Elend der obdachlosen Kinder zu ertragen. Du hast doch sicher Dickens gelesen, oder?«

»O ja, den habe ich gelesen. Doch seine Einstellung, daß nur die Armen leiden, die geht mir manchmal gegen den Strich. Körperlich leiden sie bestimmt, da hat er recht. Aber gib ihnen genug zu essen und zu trinken, dann sind sie zufrieden und glücklich. Die Mittelschicht lebt dagegen in Saus und Braus und leidet nicht weniger. Und ihr Leiden, Jason, ist meiner Meinung nach schwerer zu ertragen als das Leid dieser Leute, die dein Vater betreut. Die können nämlich ihre Gefühle in die Welt hinausschreien und ihre Wunden zeigen, wohingegen die sogenannte Oberschicht ihren Kummer und ihre Schmerzen hinter einer Maske der Gelassenheit verbergen muß. Wenn ich mich zwischen körperlichem und seelischem Leid entscheiden müßte, fiele mir die Wahl nicht schwer.«

Jason starrte den Mann an, der sein Freund geworden war. Schon öfter hatte er bei ihm eine Art von Betrübtheit festgestellt, die er nicht recht deuten konnte. Anfangs glaubte er, er sei einsam, doch diese Vermutung hatte er sehr schnell als lächerlich verworfen, als er feststellte, daß Robert bei allen überaus beliebt war. In gewisser Weise schmeichelte es ihm, von ihm als Freund betrachtet zu werden, denn schon vom ersten Tag an hatte er sich zu ihm hingezogen gefühlt. Vater würde ihn bestimmt mögen, hatte er sich anfangs hin und wieder gedacht, und dabei fiel ihm spontan ein, daß sie im Augenblick die Diskussion über die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Klassen ganz unbefangen fortsetzen konnten, wohingegen – wenn diese Diskussion bei ihm zu Hause stattfände – sich die ganze Familie einmischen und das Wohnzimmer binnen kurzem in den legendären Speaker’s Corner verwandeln würde. Die Erinnerung an zu Hause ließ ihn lächeln. Er freute sich unheimlich, wieder in sein häusliches Chaos zurückzukehren. Und während sein Blick weiterhin auf seinem Freund ruhte, der jetzt aus dem Fenster sah, durchfuhr ihn der traurige Gedanke, daß dessen Familienleben sicherlich nicht so fröhlich war wie das seine. Er schien sich geradezu davor zu fürchten, nächstes Jahr nach Hause zurückkehren zu müssen, und überlegte wohl schon, ob er nicht noch ein Jahr in Oxford anhängen sollte. Aber anscheinend hingen alle Entscheidungen von seinem Großvater ab. Seltsam auch, daß er niemals seinen Vater erwähnte.

Deshalb sagte Jason jetzt: »Fährst du direkt weiter nach Sussex?«

Robert wandte sich vom Fenster ab. »Ja«, erwiderte er knapp.

»Wirst du irgendwann länger in London sein?«

»Möglich. Das hängt von ...«

»Deinem Großvater ab?«

»Ja, von meinem Großvater«, wiederholte er kurz angebunden.

»Weißt du, ich dachte nur, wenn du in London bist, könntest du uns ja einmal besuchen.«

»Danke, das würde ich wirklich gern tun. Zumal ich dich so oft von deinem Vater, deiner Mutter und deiner Schwester habe schwärmen hören, daß ich mir mittlerweile schon mein eigenes Bild von deiner Familie gemacht habe.«

»Oh, ich bezweifle, daß dein Bild die Wirklichkeit trifft. Da ist ja nicht nur meine Familie, sondern auch noch das Konglomerat zwischen den drei Häusern: Mutters Hutsalon, unser Wohnhaus in der Mitte und daneben das Haus von Vaters Partner und dessen Familie. Wenn du bei uns an einem Werktag hereinschneist, wirst du glauben, du bist im Tollhaus gelandet. Aber dennoch wirst du jederzeit willkommen sein.«

»Danke.«

»Warte, ich schreibe dir die Adresse auf. Klopfe an der mittleren Haustür an, Nummer vierunddreißig. Wahrscheinlich wird dir Alice aufmachen und sagen: ›Die Praxis ist nebenan‹, oder, wenn sie die Tür schon hundertmal am Tag aufgemacht hat: ›Links geht’s zum Doktor, rechts zu den Hüten.‹ Die Wahl ihrer freundlichen Worte hängt ganz davon ab, mit wem sie es zu tun hat; ob ein Gentleman anklopft oder eine Dame oder ›die‹. Unter ›die‹ fallen Bettler, Botenjungen, Prediger aller Couleur, Lumpensammler ... um nur einige zu nennen.«

»Das hört sich ja an wie die reinste Menagerie«, kommentierte Robert mit einem breiten Grinsen.

»Bravo, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Jedenfalls bist du sehr herzlich eingeladen, dir dieses Kuriositätenkabinett anzuschauen.«

Am Paddington Place verabschiedeten sie sich: Jeder nahm sich eine Droschke, Jason zum Willington Place und Robert zur Victoria Station.