Der Abend war fortgeschritten, und die Stimmung im Ballsaal hatte ihren Höhepunkt erreicht. Janice und Rosie saßen nebeneinander an einem Tisch und fächelten sich frische Luft zu, während sie an kühlen Minzcocktails nippten und Robert und Jasons hitzige Debatten über vergangene Ruderregatten belächelten.
Der kraftvolle Tusch der Kapelle und die darauffolgende Ankündigung eines Walzers bewahrte die beiden Mädchen vor weiteren Fachsimpeleien, insbesondere Janice, an deren Seite plötzlich ein großer, schlanker Mann auftauchte und höflich erklärte: »Ich glaube, das ist unser Tanz, Miß Montane.«
»O ja. Entschuldigt mich bitte«, nickte Janice in die Runde, und als sie mit ihrem Partner in Richtung Tanzfläche entschwebte, hörten die anderen Robert brummen: »Der hat vielleicht Nerven. Das ist jetzt schon sein zweiter Tanz.«
»Tja, du hättest eben gleich zu Anfang deine Ansprüche anmelden müssen, mein Lieber.«
Robert sah Jason an und meinte nur: »Das gehört sich nicht.«
»Ich nehme alles zurück, Sir.«
»Das freut mich zu hören.«
Als gute Freunde, die sie waren, konnten sie beide herzlich über diesen Wortwechsel lachen. Dann erklärte Jason, der Rosies Hand genommen hatte: »Eines weiß ich gewiß. Die nächsten drei Tänze tanze ich mit dieser Lady.«
»Ich bin sicher, die hat sie dir nur aus Höflichkeit reserviert.«
»Ganz recht, Robert«, gab Rosie zurück. »Er benimmt sich nämlich wie ein Kleinkind, wenn er seinen Willen nicht bekommt.«
Jasons Blick heftete sich auf das Mädchen, das er schon sein ganzes Leben lang kannte. Die Ungezwungenheit, mit der sie sich in dieser Gesellschaft bewegte, verblüffte ihn. So viel Selbstsicherheit hatte er ihr gar nicht zugetraut.
Auf der Tanzfläche fragte er sie: »Gefällt es dir?«
»Ja, es ist wunderbar«, lächelte sie und fügte dann hinzu: »Wäre es nicht schön, wenn Robert es ernst mit Janice meinen würde?«
»Ach, ich finde, er meint es schon ernst genug, und sie auch. Schließlich haben sie sich schon etliche Male allein getroffen.«
»Wirklich?«
»Ja.« Er beugte sich näher zu ihr hin und flüsterte ihr dann ins Ohr: »Wäre es nicht lustig, wenn Bruder und Schwester Bruder und Schwester heiraten würden? Marian macht eine großartige Figur auf dem Pferd. Ich meine, das Pferd ...«
Rosie trat ihm als Antwort kräftig auf die Zehen. »Aua, du bist ja ein richtiger Zankteufel.« Er flüsterte jetzt nicht mehr. »Ja, das bin ich«, bestätigte sie grinsend und drückte ihre Stirn an die seine.
Auf dem Weg zurück zu ihrem Tisch nahm Jason Drinks für alle mit, doch als sie dort ankamen, sahen sie Robert und Janice gerade durch die Verandatür entschwinden ...
»Soll ich dir deinen Mantel holen? Es ist kühl.«
»Nein, ich genieße die frische Luft. Drinnen war es so heiß.«
»Amüsierst du dich?«
»O ja. Ja. Endlich einmal etwas anderes als das ewige »Schwester! Schwester!« und »Jawohl, Schwester Oberin« auf der Station.««
»»Ist sie so ein Drachen?«
»»Ein Drachen? Ein Scheusal ist sie. Sollte ich jemals in die Verlegenheit kommen, Oberin zu werden und jemand tadeln zu müssen, dann zähle ich in Gedanken erst bis zehn, bevor ich den Mund aufmache, das habe ich mir geschworen.«
»»Ja, als keifende Oberschwester kann ich mir dich auch gar nicht vorstellen.«
Sie durchquerten den Garten und setzten sich nebeneinander auf eine niedrige Steinmauer. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann hoben beide ihren Blick und sahen sich an. »»Janice«, flüsterte Robert.
»»Ja?«
»»Ich liebe dich.«
»»Und ich liebe dich, Robert«, erwiderte sie, ohne den Blick zu senken.
»»Seit wann weißt du das denn?«
»»Ich glaube, es begann bei unserem Weihnachtsdinner. Seither denke ich ständig an dich.«
»»Ach, meine Geliebte.« Er hatte ihre Hand genommen und preßte sie an seine Brust. »»Mir geht es ganz genauso. Seit diesem Essen bist du mir nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Ich denke immerzu nur an dich. Du hast etwas an dir, was ich nicht beschreiben kann. Du bist einfach wunderbar. Ich ... ich muß dir etwas gestehen. Bisher hatte ich immer Hemmungen Frauen oder Mädchen gegenüber, das liegt an meinem Elternhaus und besonders an der Beziehung zu meinem Vater. Aber seit ich dich kennengelernt habe, ist diese Angst verschwunden. Ja, ich wußte vom ersten Moment an: Die ist es.«
Ihre Gesichter bewegten sich langsam aufeinander zu, und als sich ihre Lippen berührten, schloß sie die Augen und schmiegte sich in seine Arme. Ihr erster Kuß war innig und süß, aber nicht leidenschaftlich. Und als sie sich voneinander lösten, hatten beide glänzende Augen und feuchte Wangen.
»Wenn ich die Gabe deines Vaters besäße«, wisperte er ihr zu, »dann würde ich das, was ich empfinde, in ein Gedicht fassen. So aber kann ich dir nur mit einfachen Worten sagen, daß wir soeben das Siegel der Liebe auf unser gemeinsames Leben gedrückt haben. Wir heiraten bald.«
Da kam kein »Aber du hast mich ja noch gar nicht gefragt«, sondern ein lächelndes »Ja, Liebling, bald«.
»Du bist wunderbar! Einfach wunderbar«, rief er aus und preßte Janice wieder an sich. »Kein affektiertes Gehabe, kein empörtes ›Da muß ich erst mit Vater sprechen‹ oder eine der hundert Antworten, die das Young Lady’s Journal bei solchen Gelegenheiten empfiehlt.«
Lachend wand sie sich aus seinem Arm und meinte: »Ach, wenn du willst, dann kann ich auf der Stelle ganz elegant in Ohnmacht fallen. Das habe ich schon ein paarmal gesehen.«
Er stimmte in ihr Lachen ein und zeichnete mit einem Finger die Linien ihres lächelnden Gesichts nach. »Ich kann es kaum erwarten, morgen meinem Großvater die Neuigkeit zu überbringen und dann in euer Haus zu stürmen und auszurufen: ›Sie will mich heiraten! Ihr werdet sie herausgeben müssen! Sie heiratet mich!‹«
Ihre Stimme klang mit einem Mal ganz nüchtern. »Versprich mir eines«, bat sie. »Komm nicht gleich in unser Haus gestürzt; ich möchte es meinen Eltern vorher gern selbst sagen.«
»Wie du wünschst, meine Liebe. Ja, natürlich, das ist nur recht und billig. Aber ... was ist mit heute Abend? Sollen wir es den anderen sagen?« Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein, besser nicht«, sagte sie schließlich. »Ich möchte ihnen die Schau nicht stehlen. Mutter hat mir nämlich erzählt, daß Jason gerade erst die Augen aufgegangen sind, was Rosie betrifft. Ich glaube, die beiden sind gestern ebenfalls zu einem Entschluß gekommen, haben ihn aber noch nicht offiziell bekanntgegeben. Laß ihnen doch den Vortritt.«
»Ganz wie du möchtest, Schatz. Aber am liebsten würde ich jetzt gleich auf den nächsten Berg steigen und mein Glück in die Welt hinausschreien. Vielleicht fahre ich morgen hinauf nach High Gully – unser Haus in Schottland –, dort gibt es ein paar ganz ansehnliche Hügel. Weißt du, ich habe mir nie viel aus High Gully gemacht; es war mir immer zu einsam und abgelegen. Aber mit dir dort zu leben, das könnte ich mir jetzt sehr gut vorstellen. Nur du und ich alleine in den Bergen. Unser An wesen ist beinahe so etwas wie eine einsame Insel; zum nächsten Nachbarn geht man eine gute halbe Stunde zu Fuß. Ja, genau das mache ich, sobald wir verheiratet sind; ich werde dich dorthin entführen.«
»Ist es groß?«
»Ja, es ist in der Tat ein recht großes Anwesen.«
»Oh, gut, dann machen wir daraus ein Seuchenhospital. Es war schon immer mein Traum, so ein Hospital zu leiten«, erklärte sie lachend, und ehe Robert noch etwas dagegenhalten konnte, erhob sie sich und meinte: »Ich glaube, wir sollten langsam wieder hineingehen.«
»Einen Kuß noch«, verlangte Robert. Und als sich ihre Lippen und ihre Körper wieder voneinander gelöst hatten, nahm er sie an der Hand, und sie rannten ausgelassen wie Kinder zurück zu dem hellerleuchteten Ballsaal, selbst ein Leuchten in den Augen, das trotz aller widrigen Umstände nie erlöschen sollte.
Steve hatte gerade seinen letzten Patienten verabschiedet und war auf dem Weg nach nebenan, um wie üblich nach der Morgensprechstunde mit Emily eine Tasse Kaffee zu trinken, als ihm das Dienstmädchen einen Brief brachte. »Der Bote bat mich, Ihnen diesen Brief unverzüglich auszuhändigen, Sir.«
Dem leichten Unbehagen beim Öffnen des Umschlags folgte, als sein Blick den Briefkopf und dann die Unterschrift erfaßt hatte, wieder dieses beklemmende Angstgefühl, das seit dem Besuch dieses Mannes in seinem Innersten schwelte.
Der Inhalt des Briefes war kurz und bündig abgefaßt: William Anderson Steerman bat ihn darum, ihn in einer sehr dringlichen Angelegenheit baldmöglichst aufzusuchen.
Nachdenklich starrte Steve auf das Schreiben in seiner Hand. »Anderson... Steerman«, murmelte er vor sich hin, die beiden Namen durch eine Pause voneinander trennend, dann begriff er.
In der Halle bat er das Dienstmädchen, seiner Frau Bescheid zu geben, daß er rasch noch einen Besuch zu machen habe, aber bald zurück sei. Dann nahm er Hut und Mantel und verließ eiligen Schrittes das Haus.
Er ging die kurze Wegstrecke zu Fuß, die ihm selbst nach zwanzig Jahren noch gut in Erinnerung war. Damals hatten ihn Ärger und Wut dorthin getrieben, heute begleitete ihn auf diesem Weg ein Gefühl ängstlicher Beklommenheit.
Als er zehn Minuten später die Halle betrat, war ihm, als habe er diese erst gestern verlassen; nichts hatte sich in all den Jahren verändert, nur der Diener, der ihn jetzt empfing, war ein anderer. Dieser hier hinkte ein wenig und hatte weißes Haar.
»Guten Morgen, Herr Doktor«, begrüßte er Steve höflich. »Ich bin Mr. Steermans Diener. Wollen Sie mir bitte folgen?«
Er ging auf eine Tür zu, die er ohne anzuklopfen öffnete. »Doktor Montane, Sir«, meldete er.
Obgleich so viele Jahre vergangen waren, erkannte Steve den alten Mann auf der Chaiselongue sofort wieder. Sein Haar war weißer geworden, das Gesicht hagerer, aber er bewahrte noch immer eine tadellose Haltung.
»Guten Morgen. Bitte nehmen Sie Platz.«
Steve hatte sich kaum in den Sessel gesetzt, den ihm eine dünne, blaugeäderte Hand bedeutete, als der alte Herr ohne Umschweife das Gespräch eröffnete. »Unsere letzte Begegnung liegt schon etliche Jahre zurück, Doktor. Der damalige Grund dafür war der Fehltritt meines Sohnes. Der Grund unseres heutigen Zusammentreffens ist leider noch sehr viel ernsterer Natur, hat er doch mit den Folgen dieses Fehltritts zu tun. Darf ich fragen, Sir, ob Ihnen ein Mann namens Dimarca bekannt ist?«
»Ja, er hat mich kürzlich aufgesucht.«
»Dann nehme ich an, Sie wissen, weshalb ich Sie zu mir gebeten habe. Und ich nehme weiter an, Sie wissen, daß Sie nicht der leibliche Vater der Kinder Ihrer Frau sind. Das Datum Ihrer Vermählung und das Geburtsdatum der Kinder lassen daran keinen Zweifel bestehen. Darf ich fragen, ob letztere darüber ebenfalls informiert sind?«
»Nein, sind sie nicht.« Steves Stimme klang barsch.
»Nun, das ist insofern sehr bedauerlich, als mich dieser Mann hat wissen lassen, daß mein Enkelsohn und die junge Dame, die Ihren Namen trägt, seit neuestem miteinander Umgang pflegen.«
Anderson Steerman. Anderson Steerman. Steve schloß einen Moment lang die Augen. »Aber der junge Mann hat sich nur mit Anderson vorgestellt«, erklärte er dann. »Mein Sohn hat ihn in Oxford kennengelernt.«
»Ja, und ich bin sicher, daß Sie nicht die leiseste Ahnung von seiner wahren Identität hatten, ansonsten hätte dieses Treffen hier nicht stattfinden müssen. Es war meine Idee, daß er, beziehungsweise auch seine Geschwister, nur den Namen Anderson führen sollten, da ich damals nicht abschätzen konnte, welche Schritte Ihre Gemahlin gegen meinen Sohn unternehmen würde. Ich dachte dabei in erster Linie an die Zukunft der Kinder und an die Gemeinheiten, die mein Enkelsohn sich in der Schule würde gefallen lassen müssen, sollte bekannt werden, daß sein Vater neben seiner Frau und den drei Kindern noch zwei Mätressen hatte, von denen er eine vergewaltigte, nachdem diese ihn zurückgewiesen hatte. Ja, es ging mir bei dieser Entscheidung allein um die Kinder. Ich für meinen Teil fühlte mich stark genug, den Rest meiner Tage mit dieser Schande zu leben. Aber daß ich mich jemals mit einer Situation wie dieser auseinandersetzen muß, damit habe ich freilich nicht gerechnet. Sie verstehen, was ich meine, Sir?«
Was Steve jetzt sagte, klang wie ein Bellen: »Und ob ich verstehe, Sir. Zumal diese Situation das Leben zweier Menschen ruiniert, die sich unglücklicherweise ineinander verliebt haben.« Er war aufgesprungen und funkelte den alten Mann wütend an. »Wenn Sie mich fragen, ist es mehr als verwerflich, daß diese beiden jungen Menschen unter Umständen ihr ganzes Leben lang unter den Fehltritten dieses hemmungslosen genußsüchtigen Schweines von Mann leiden müssen, das Sie großgezogen und insofern bei seinem unseligen Treiben auch noch unterstützt haben, als Sie neben seiner Familie auch seine Geliebte und deren Brut finanziell ausgehalten haben, damit er Muße hatte, weiterhin seiner Lust zu frönen. Wie Sie sehen, Sir, tragen Sie an der ganzen Sache ebensoviel Schuld wie Ihr verkommener Sprößling. Und ich habe jetzt die undankbare Aufgabe, meinem Sohn beibringen zu müssen, daß das Blut einer Familie in seinen Adern fließt, die in mehr als einer Hinsicht gen Himmel stinkt. Denn was haben Sie in Ihrem Leben anderes getan, als Geld zu scheffeln? Geld, das Sie mit Menschen verdienten und immer noch verdienen, die in Ihren Fabriken für einen Hungerlohn schuften. Ich, Sir, bringe einen Teil meines Lebens damit zu, Menschen zu behandeln, die sich keinen Arzt leisten können; den Menschen, die wiederum ihr Leben in Ihren Fabriken verbringen. Ich habe Ihre Karriere verfolgt, Sir; die Karriere, zu der Sie jetzt auch Ihren Enkel drängen wollen. Und ich sage bewußt drängen, Sir, denn dieser junge Mann, der sich mir als Robert Anderson vorgestellt hat, hat mir gestanden, daß er die Vorstellung haßt, in Ihr Geschäft einzusteigen. Er möchte viel lieber noch ein weiteres Jahr an der Universität studieren. Aber sein Großvater schert sich einen Teufel um die Wünsche seines Enkels. Er will ihn › verbratene Sie mögen ein alter Mann sein, und ich sollte vielleicht nicht so zu Ihnen sprechen, Sir, aber alt sind Sie nur äußerlich, Ihr Verstand ist noch immer jung und agil und ganz aufs Geldverdienen ausgerichtet. Nun, ergötzen Sie sich daran, denn ich sage Ihnen jetzt folgendes: Sie werden diesen jungen Mann niemals halten. Er wird zwar niemals mein Schwiegersohn werden, wie ich gehofft hatte, aber er wird, soweit ich seinen Charakter einschätzen kann, auch niemals so werden wie Sie, Sir, oder – Gott bewahre – wie sein Vater. Und ...«
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. »Sie haben geläutet, Sir?«
»Nein, Gibbons, ich habe nicht geläutet.« Die Stimme des alten Mannes bebte ein wenig. »Aber ich glaube, der Doktor möchte gehen.«
Steve machte zunächst noch keine Anstalten zu gehen, sondern fuhr leise fort: »Ein letztes Wort noch, Sir. Mir fällt gerade ein, daß mein Sohn seinen leiblichen Vater bereits kennengelernt und mir als mitleiderregende, verwirrte Kreatur beschrieben hat, die auch noch halbseitig gelähmt ist. Nun, ich kann nur hoffen, Sir, daß Ihr Sohn noch viele, viele Jahre in dem Bewußtsein seines Verfalls zu leben hat, bis er dann in der Hölle schmort.« Nach diesen Worten drehte er sich abrupt um und stürzte aus dem Haus, Hut und Mantel in der Hand und ohne die Haustür hinter sich zu schließen.
In ihm kochte die Wut, wie er sie an sich noch nie erlebt hatte. Am liebsten hätte er etwas kaputtgemacht, aber nichts schien ihm groß genug, um die Qualen zu lindern, die er ob seiner Familie litt: Seine glückliche Familie würde binnen der nächsten Stunden auseinanderbrechen. Er sah, wie Emilys Schuld ans Tageslicht gezerrt würde, eine Schuld, die sie bis zum heutigen Tag nie hatte verwinden können; er spürte die Verachtung seines Sohnes für seinen wirklichen Vater, wenn er sich dessen Bild in Erinnerung rief; aber vor allem waren da Janice, seine geliebte Tochter, und dieser feine junge Mann. Ja, wirklich ein feiner junger Mann, unverdorben noch von den Menschen, deren Erbmasse er in sich trug. Aber jetzt... o Gott! Er taumelte, konnte sich gerade noch an einem Laternenmasten festhalten. Er preßte die Stirn gegen das kalte Eisen. Oh, wie gut das tat... Er fühlte sich fiebrig.
Wie in Trance legte er den Heimweg zurück und hielt einige Schritte vor seiner Haustüre inne: Zum ersten Mal in seinem Leben zögerte er, sein Haus zu betreten. Bisher hatte er es immer eilig gehabt, nach Hause zurückzukehren, wo ihn Emily stets in der Diele begrüßte, falls sie nicht gerade nebenan im Hutsalon beschäftigt war. In diesem Fall wartete er ungeduldig auf ihre Rückkehr und empfing sie dann oft mit der Bemerkung, daß sie anscheinend ihr ganzes Leben in diesem vermaledeiten Geschäft zubringe. »Nun, wenn du nicht zwei Praxen unterhalten müßtest, wäre ich vielleicht öfter zu Hause«, hielt sie ihm dann entgegen.
Heute jedoch hoffte er geradezu, daß sie nicht im Haus war, denn er mußte sich erst einmal sammeln und sich die passenden Worte zurechtlegen, um ihr die Neuigkeit so schonend wie möglich beizubringen. Aber wie sollte es auch anders sein, ausgerechnet heute war sie zu Hause und kam ihm die Treppe herunter entgegen.
Ihr den Rücken zuwendend, zog er umständlich den Mantel aus und nahm den Hut ab; und als keine munteren Begrüßungsworte von ihm kamen, stellte sie sich vor ihn hin und sah ihn prüfend an. »Was ist passiert?«
Er konnte nicht gleich antworten, schluckte mehrmals, daher erkundigte sie sich besorgt: »Bist du krank?«
»Ja, ich bin krank, aber ... aber nicht körperlich. Komm, gehen wir ins Wohnzimmer.«
Dort bat er sie, ihm etwas zu trinken zu bringen. »Aber keinen Kaffee oder Tee«, sagte er, »sondern etwas Hartes.«
Verwundert sah sie ihn an, eilte dann aber ins Eßzimmer und kehrte kurz darauf mit einer Karaffe Whisky und einem Glas zurück. Steve schenkte sich das Glas randvoll ein und stürzte den Inhalt hinunter, als wäre es Wasser, worauf Emily instinktiv ausrief: »Die Kinder! Ist etwas mit den Kindern?«
»In gewisser Weise, ja.«
»Ein Unfall?«
»Nein, nein. Komm, setz dich ... gib mir deine Hand.«
Sie spürte, daß seine Hand ebenso zitterte wie die ihre. »Nun sag schon, Steve. Bitte. Was ist passiert?«
Er lehnte sich zurück, das Gesicht von ihr abgewendet, und begann mit schleppender Stimme: »Heute morgen bekam ich eine Nachricht, die besagte, ich möge umgehend Mr. Anderson... Steerman aufsuchen.« Als ihre Hand in der seinen zuckte, verstärkte er seinen Griff. »Nun, offenbar hat Mr. Anderson Steerman seit damals die Geschehnisse in unserem Haus aus der Ferne mitverfolgt, denn er teilte mir unumwunden mit, daß ich nicht der Vater der Kinder sei, die ich als meine Tochter und meinen Sohn ansehe. Gut, diesen Sturm hätten wir noch umschiffen können, denke ich, wäre da nicht die unumstößliche Tatsache, daß Robert Anderson in Wirklichkeit Robert Anderson Steerman ist. Der alte Herr hat vor vielen Jahren entschieden, daß seine Enkelkinder den Namen Steerman fallenlassen, um zu vermeiden, daß sie ihres Vaters wegen unter einem Stigma zu leiden haben.« Jetzt drehte Steve den Kopf und sah Emily an. Sie war aschfahl im Gesicht. »Janice, Janice«, hauchte sie.
»Ja, Janice und er.«
»Du lieber Gott! Ach, du lieber Gott!« Sie entzog ihm ihre Hand, setzte sich aufrecht hin und versank in tiefes Schweigen, das Steve wie eine Ewigkeit vorkam.
»Warum? Warum mußte das alles jetzt ans Licht kommen?« murmelte sie schließlich mehr zu sich selbst, worauf Steve erklärte: »Der alte Herr hat offenbar nach dem Tod von dieser Mrs. Dimarca die Unterhaltszahlungen an deren Kinder eingestellt, und der Sohn hat zudem seine Anstellung verloren. Gestern kam dann dieser junge Dimarca zu mir in die Klinik, um von mir Geld für sein Schweigen zu erpressen. Beim alten Steerman, den er vorher aufgesucht hatte, schien er auf taube Ohren gestoßen zu sein. Also war ich seine letzte Hoffnung. Aber gestern wußte ich noch nichts von Robert Andersons wahrer Identität. Er hätte es mir sicher gesagt, aber bevor er noch dazu kam, habe ich ihn zum Teufel gejagt. Nun, dem alten Steerman hat er es jedenfalls gesteckt, deshalb hat der mich heute morgen zu sich gebeten.«
Emily war aufgesprungen und stand nun, die Hände ineinander verkrampft, vor ihm. »Was machen wir jetzt? Die Kinder kommen bald zurück.«
»Wir müssen es ihnen sagen, Liebling, und alles weitere können wir nur ihnen überlassen.«
»Aber ... aber Janice liebt doch Robert, und er sie.«
Steve ließ den Kopf in die Hände sinken und flüsterte: »Ich weiß, ich weiß. Diese Offenbarung wäre auch so schon schlimm genug gewesen. Aber es gibt keine andere Lösung. Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen.«
»Und an all dem bin nur ich schuld.«
Mit einem Satz war Steve auf den Beinen, packte Emily an den Schultern und erwiderte mit ungewohnter Schärfe in der Stimme: »Nein! Hör sofort auf damit! Du schleppst diese Last schon all die Jahre mit dir herum. Zeitweilig stand sie wie ein schwarzer Schatten zwischen uns.«
»O nein, Steve. Nein. Es gab nie einen schwarzen Schatten, zumindest nicht auf meiner Seite. Ich habe dich von Anfang an geliebt, und ich hätte nie gedacht, daß diese Liebe noch stärker werden könnte; aber sie wurde es im Laufe der Jahre. Ich liebe dich so sehr, daß es mir manchmal weh tut, weil du so gut bist, so freundlich und verzeihend.«
»Ich bin weder gut noch freundlich, noch verzeihend. Alles, was ich für dich getan habe, geschah aus reiner Selbstsucht. Ich liebte dich, und ich wollte dich. Ich mußte dich haben. Und als die Kinder zur Welt kamen, waren es meine Kinder, und ich liebte sie wie meine eigenen, und ich werde niemals aufhören, sie so zu lieben.« Er legte jetzt seine Arme um ihren zitternden Körper. »Es geht mir zwar gegen den Strich, aber ich werde diesen Mann für sein Schweigen bezahlen. Und wir werden die Reaktionen von Janice und Jason hinnehmen müssen, wie immer diese ausfallen mögen. Die eigentliche Tragödie ist diese andere Geschichte, denn daran ist nichts zu ändern. Komm, versuch, die Ruhe zu bewahren. Und kein Wort zu Alice, und erst recht nicht zu Esther oder Lena; die beiden alten Jungfern würden ein Jammergeschrei anstimmen wie Klageweiber.«
»Alice wird mich fragen.«
»Dann laß sie eben fragen; später wird sie ohnehin alles erfahren.«
»Ich... ich kann nicht nach nebenan gehen.«
»Ja, das verstehe ich, Liebes. Ich werde dir jetzt ein paar Tabletten geben und Alice bitten, dir einen starken Tee zu kochen ... Um wieviel Uhr kommen die Kinder zurück?«
»Ich schätze so zwischen eins und drei. Janice muß abends arbeiten. Ihr dreimonatiger Nachtdienst beginnt heute. Deshalb hatte sie ja zwei Tage frei. Was machen wir, wenn sie zurückkommt und ihn mitbringt?«
»Nun, in diesem Fall, Liebes, schicke ich ihn schnurstracks zu seinem Großvater. Seine Reaktion werden wir noch früh genug erleben. Denn wenn sie so ähnlich ausfällt, wie ich sie von Janice erwarte, möchte ich nicht Zeuge sein.«
Sie kamen ins Haus gestürmt wie zwei Kinder, die großartige Neuigkeiten zu verkünden haben und vor Aufregung darüber schier platzten. Ihre Augen leuchteten, und ihre Gesichter strahlten um die Wette. In hohem Bogen warfen sie ihre Mäntel über einen Stuhl, und nach einem Seitenblick auf Janice rief Jason: »Wo steckt ihr denn, ihr alten Tattergreise?«
Als Steve und Emily in der Wohnzimmertür erschienen, stürmten sie auf die beiden zu und drängten sie zurück ins Zimmer.
Steve rang sich eine fröhliche Bemerkung ab. »Die Frage, ob ihr zwei euch amüsiert habt, kann ich mir wohl sparen, wie?«
»Ach, es war wunderschön, Vater, fantastisch. Oxford, der Ball, einfach alles. Al … les.« Janice trennte die Silben, um ihrer Begeisterung noch mehr Nachdruck zu verleihen.
»Wir haben euch etwas zu sagen, euch beiden.«
Bevor Jason weitersprechen konnte, brachte Steve ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ja, sofort. Aber zuerst habe ich euch etwas zu sagen. Ach, wo sind eigentlich die anderen?«
»Rosie ist drüben« – Jason deutete zur Wand –, »und Robert ist zu seinem Großvater gegangen. Die beiden haben auch wichtige Neuigkeiten...«
»Bitte! Warte.«
Diese letzten Worte ernüchterten die beiden jungen Leute so, daß sie sich verdutzt ansahen und aus einem Munde fragten: »Ist etwas passiert?«
»Ja, meine Lieben. Es ist etwas passiert, etwas außerordentlich Wichtiges. Kommt, setzen wir uns hin.« Steve nahm Emilys Arm und führte sie zur Couch zurück. Dort nahmen sie nebeneinander Platz. Dann deutete Steve auf zwei Stühle. »Bring sie her, Jason, und setzt euch uns gegenüber.«
Janice warf ihrem Bruder wieder einen fragenden Blick zu. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Als sie dann alle saßen, kam von Jason die leise Frage: »Sind ... sind es schlechte Nachrichten?«
»Was die eine betrifft, da liegt die Beurteilung bei euch; und der zweite Teil, ja, das ist wirklich eine ganz schlimme Nachricht, besonders für einen von euch beiden.«
Der erschrockene Blick, den sich die beiden nun zuwarfen, war für Steve das Zeichen, sie nicht länger auf die Folter zu spannen. »Ich werde euch jetzt eine Geschichte erzählen«, begann er nach einem raschen Seitenblick auf Emily, die den Kopf gesenkt und die Hände im Schoß gefaltet hatte. »Also, wie eure Mutter zu dem Hutgeschäft kam, das wißt ihr. Was ihr aber wahrscheinlich nicht wißt, ist, daß sie diese Mrs. Arkwright so aufopfernd gepflegt hat, bis sie selber schwer krank wurde und dringend Erholung brauchte. Daher beschloß sie, in dem Hotel in Frankreich Urlaub zu machen, von dem ihr Mrs. Arkwright so viel erzählt und vorgeschwärmt hatte, da sie dort vor vielen Jahren ihren geliebten Mann kennengelernt hatte. Nun gut, eure Mutter fuhr also nach Frankreich. Sie war damals, das muß ich betonen, eine sehr, sehr schöne junge Frau. Und sie ist heute noch wunderschön«, setzte er hinzu. »Zudem war sie außerordentlich temperamentvoll zu jener Zeit und als Besitzerin eines Modegeschäftes sehr geschmackvoll gekleidet. Auf der Reise nach Frankreich trug sie genau den Hut, liebe Janice, den du gerade in der Diele abgelegt hast. Und er stand ihr mindestens ebenso gut wie dir.« Steve feuchtete sich die Lippen an und schluckte mehrmals, bevor er weitersprach. »Obgleich eure Mutter sich ein paar Jahre zuvor von ihrem ersten Ehemann hatte scheiden lassen, war sie immer noch eine junge Frau mit romantischen Träumen. Nun, in diesem Hotel lernte sie dann einen Gentleman kennen, von dem sie selbstverständlich annahm, daß er ungebunden war. Als sie jedoch am Ende des Urlaubs feststellen mußte, daß dem nicht so war, trat sie zutiefst empört und verletzt die Heimreise an. Aber dieser Mann gab nicht auf. Zu jener Zeit war auch ich in eure Mutter verliebt, aber bei jedem Treffen gerieten wir uns – ich mit meiner verstockten Art und sie mit ihrem überschäumenden Temperament – regelmäßig in die Haare und glaubten, uns nicht leiden zu können. Und als dieser Mann sich dann wieder in ihr Leben drängte, angeblich nur als guter Freund, da akzeptierte sie ihn. Doch dann geschah das Unvermeidliche: Sie wurde schwanger. Und da sie sich immer Kinder gewünscht hatte, entschied sie sich trotz der Schande, die ein uneheliches Kind für sie bedeutet hätte, dieses zu bekommen. Im fünften Monat ihrer Schwangerschaft tauchte dann plötzlich eine wildfremde Frau bei ihr auf.«
Steve legte den Arm um Emilys Schultern, zog sie näher an sich heran und berichtete seinen Kindern, die ihm mit großen und blassen Gesichtern zuhörten, den weiteren Verlauf der Ereignisse: daß diese Frau ihre Mutter angegriffen hatte; daß daraufhin die Gattin des Mannes mit der Bitte an sie herangetreten war, die Frau nicht anzuzeigen, die sie aus Rücksicht auf ihre Familie als offizielle Mätresse ihres Mannes anerkannt habe, zumal diese zwei Kinder von ihm hatte. Emilys Fehlgeburt, deren anschließende Genesungsphase, während der sie sich näher kennengelernt hatten, handelte er noch mit kurzen Worten ab, dann machte er eine lange Pause. Ehe er weitersprach, räusperte er sich geräuschvoll. »Es ging ihr schon wieder so viel besser«, sagte er, »und sie hatte ihre Fröhlichkeit beinahe ganz wiedererlangt, als dieser Mann sich eines Abends heimlich Zutritt zu ihrem Haus verschaffte. Er stand unter Alkoholeinfluß, und – es gibt nur ein Wort dafür – er vergewaltigte eure Mutter. Daraufhin versuchte sie sich das Leben zu nehmen.« Die beiden Gesichter ihm gegenüber wendeten sich dem gesenkten Haupt ihrer Mutter zu, während Steve in seiner Erzählung fortfuhr. »Es war nur Alices Geistesgegenwart zu verdanken, die mich nachts aus dem Bett holte, daß ich eure Mutter noch retten konnte. Und danach hatte ich größte Mühe, sie zu überreden, mich zu heiraten.«
Jetzt ließ auch Steve den Kopf sinken. »Dieser Gewaltakt blieb nicht ohne Folgen... und ihr wurdet geboren, ein wenig zu früh, allerdings«, sagte er leise, sah aber bei der anschließend ganz ruhig vorgebrachten Feststellung seinen beiden Kindern wieder direkt in die Augen. »Ihr seht also, ich bin nicht euer leiblicher Vater. Doch vom Augenblick eurer Geburt an habe ich euch als meine eigenen Kinder betrachtet, ich habe euch geliebt wie meine eigenen und werde euch immer lieben. Für mich seid ihr mein Sohn und meine Tochter. Eure Mutter hat diese Last all die Jahre auf ihren Schultern getragen, und wir hätten dieses Wissen mit ins Grab genommen, wenn nicht der Sohn der Geliebten dieses Mannes in erpresserischer Absicht an Roberts Großvater und mich herangetreten ...«
»Robert!« Das war ein Schrei. Der Stuhl kippte hintenüber, als Janice hochfuhr und nochmals »Robert! « schrie.
Jetzt waren alle aufgesprungen. Steve hielt Janice an den Schultern, als er ihr ruhig bestätigte: »Ja, meine Kleine, Robert ist dein Halbbruder; euer beider Halbbruder.«
»Nein! Nein!!« Janice schüttelte Steves Hände ab. »Nein!« Ihre Stimme geriet zu einem verzweifelten Kreischen. »Nein! Das darf nicht sein! Wir sind doch ... verlobt. Wir wollen...«
Plötzlich preßte sie eine Hand auf ihr Herz. Sie, die in Ohnmacht fallende Frauen immer verabscheut hatte, schnappte nun nach Luft, und ihre Hände griffen ins Leere, als sich eine schwarze Wolke über sie legte.
Sie wäre zu Boden gestürzt, wenn nicht Jason und Steve sie aufgefangen und auf die Couch gelegt hätten, wo Emily jetzt neben ihr kniete und leise murmelte: »Meine Liebe. Ganz ruhig, mein Kleines.«
Jetzt war auch Jason bereit zu sprechen. »Dieser Mann, dieser mitleiderregende alte Mann, Roberts Vater, ist er ...?« Die Worte erstarben auf seinen Lippen, als er sich dieses menschliche Wrack wieder ins Gedächtnis rief. »Warum hast du uns denn nicht gewarnt, Vater?« entfuhr es ihm dann.
»Ich ... ich hatte doch auch keine Ahnung; er hat sich doch nur als Robert Anderson vorgestellt, nicht als Robert Anderson Steerman. Sein Großvater ließ damals den letzten Namen streichen, um seine Enkel vor der Schande zu bewahren, falls wir geklagt hätten und herausgekommen wäre, daß ihr Vater außer seiner Familie noch zwei Kinder mit seiner Geliebten und weitere zwei mit einer Frau hat, die er zudem vergewaltigt hatte.«
Jason versank für einen Moment in nachdenkliches Schweigen. »O Gott, das ist ja eine schreckliche Nachricht! Nun, ich für mein Teil kann es verkraften – Robert ist ein netter Kerl, und wir mochten uns von Anfang an – aber was ist mit Janice? Sie und Robert sind ineinander verliebt, sehr verliebt. Das wäre das Ende für sie.«
Er drehte sich zu Janice herum, die jetzt an einem Glas Wasser nippte, das Emily ihr hinhielt, und sagte dann zu Steve: »Eines sollst du wissen: Du bist immer mein Vater gewesen und wirst es auch bleiben. Diese Eröffnung kann daran nichts ändern – für mich jedenfalls nicht. Ich habe dich immer geliebt, bewundert und verehrt, und das werde ich nach dieser Geschichte noch um so mehr.«
Die Tränen standen Steve in den Augen, als Jason ihn umarmte, eine Geste, die ihre Beziehung zueinander noch mehr festigte.
Und auch in Janices Augen glitzerten Tränen, als sie sich mit der Frage an ihre Mutter wandte: »Wie konntest du das nur geschehen lassen?«
»Ich ... ich habe es doch nicht gewußt, meine Liebe«, entgegnete Emily, die sich im selben Moment, da sie diese Worte aussprach, an das merkwürdige Gefühl erinnerte, das sie an Weihnachten, als sie diesen charmanten jungen Mann zum ersten Mal sah, umfangen hatte. Und sie erinnerte sich jetzt auch wieder genau an den kalten Schauer, der ihr dabei über den Rücken gefahren war.
Die unendliche Traurigkeit im Gesicht ihres Vaters ließ Janice hochfahren. Sie setzte sich auf und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Du bist mein Vater und wirst immer mein Vater bleiben«, flüsterte sie. Dann drehte sie sich zu Emily um und musterte sie mit einem Blick, als sähe sie sie gerade zum ersten Mal. Ihr Verstand arbeitete wieder, und sie erinnerte sich an jedes Wort, das hier im Raum gefallen war: diese Frau, ihre Mutter, die Sanftmut und Güte in Person, die stets eine Aura von Unantastbarkeit umgab, war nicht nur bereits einmal verheiratet und geschieden, sie war außerdem auch noch die Geliebte eines verheirateten Mannes gewesen, war von diesem vergewaltigt worden und hatte versucht, Selbstmord zu begehen. Dann heiratete sie diesen wunderbaren Mann, der ihre Vergangenheit akzeptierte und ihren Kindern ein liebender Vater war. Janice konnte nicht glauben, daß diese Frau mit den fein geschnittenen Gesichtszügen identisch sein sollte mit der Frau, deren Geschichte ihr eben enthüllt worden war.
Janice sah jetzt ihren Vater an und fragte: »Wie viele Leute wissen davon?«
»Ganz wenige«, antwortete er. »Nur Alice weiß über die Einzelheiten Bescheid, und sie gehört praktisch zur Familie. Selbst Roberts Großvater war bis vor kurzem nur oberflächlich mit den Umständen vertraut, bis dieser Kerl bei ihm auftauchte und ihm von deiner Verbindung zu seinem Enkel erzählte.«
»Kann ... es denn nicht möglich sein, daß du doch unser Vater bist, nachdem du Mutter« – sie schluckte – »so kurz danach geheiratet hast?«
»Leider nein, meine Liebe. Ich habe eure Mutter geheiratet, aber ... es war ihr dringlicher Wunsch, daß wir uns erst dann ganz nahekommen, wenn sie Gewißheit über die Folgen dieser schlimmen Geschichte habe. Und ich muß dazusagen, daß sie in dieser Zeit Höllenqualen gelitten hat. Nach eurer Geburt, als sie sah, daß ich euch liebte und als meine Kinder angenommen hatte, da erst ließen ihre Angst und ihr tiefer Schmerz nach. Und doch lag all die Jahre ein Schatten über ihrem Leben. Nun, dieser Schatten ist jetzt gelüftet worden, auf besonders für dich, meine Liebe, sehr schmerzhafte Weise. Und glaube mir, es tut mir in der Seele weh, denn auch ich habe Robert sehr liebgewonnen.«
Janice stand jetzt auf, strich sich das Kleid glatt und fuhr mit der Hand über ihr Haar. »Wenn Robert kommt, dann möchte ich gerne mit ihm allein sprechen«, sagte sie und verließ das Wohnzimmer; Jason folgte ihr.
Emilys Blick wanderte zur Tür, die sich eben geschlossen hatte. Ihre Tochter hatte kein einziges freundliches Wort für sie gehabt; keines ihrer beiden Kinder. Und plötzlich spürte sie eine tiefe Traurigkeit in sich wachsen, die all die Verzweiflung und Schmerzen der Vergangenheit übertraf. Sie liebten sie nicht. Sie gaben ihr die Schuld.
Als Steve den Arm um sie legte und sie den Kopf an seine Schulter sinken ließ und mit matter Stimme wisperte: »Was man sät, muß man auch ernten«, da wurde ihm das Herz noch schwerer, denn auf Emilys Worte gab es keine Antwort.
Um sechs Uhr abends, Robert war noch immer nicht gekommen, zog Janice ihre Schwestertracht an. In der Halle begegnete sie ihrem Vater, der im Mantel war. Auf seine Bemerkung »Du gehst aber früh, Liebes«, entgegnete sie: »Mein Nachtdienst fängt heute an ... und ich habe noch einiges vorzubereiten.«
»Ich bin auf dem Weg in die Praxis; wir könnten zusammen gehen«, schlug er vor und fügte dann leiser hinzu: »Geh und sag deiner Mutter auf Wiedersehen – sie ist im Frühstückszimmer. Es geht ihr gar nicht gut.«
Beinahe widerwillig, so kam es ihm vor, folgte Janice seiner Aufforderung, ging ins Frühstückszimmer, wo sie Emily nahe am Kamin sitzend vorfand, obwohl es im Raum sehr warm war.
»Ich muß gehen, Mutter«, sagte sie. »Du weißt ja, mein Nachtdienst beginnt heute.«
Emily stand auf, blieb aber stehen, wo sie war, und sagte kein Wort. Es war die Verzweiflung, die Janice in ihrem Gesicht las und die sie dazu drängte, ihre Mutter in die Arme zu nehmen. »Es ist gut. Es ist gut«, murmelte sie an ihr Ohr. »Es war nur der Schock. Ich... ich werde schon darüber hinwegkommen. Das andere wäre nicht so schlimm gewesen, es ist nur wegen... Robert.«
»Ich weiß, mein Kind. Ich weiß. Ich mache mir auch wegen Robert Gedanken. Aber bitte, bitte, höre nicht auf, mich zu lieben.«
»Das könnte ich doch nie. Dafür liebe ich euch beide viel zu sehr. In meinen Gedanken seid ihr eins. Wie könnte ich da einen lieben und den anderen nicht? Nicht doch. Bitte! Bitte, wein doch nicht. Es wird alles gut... es muß alles wieder gut werden. Man muß den Dingen ins Gesicht sehen. Ich bin froh, daß ich Krankenschwester bin; da sieht man so viele Tragödien. Das hilft einem, die eigenen zu verkraften. Ich bin morgen gegen Nachmittag wieder zurück. Mach dir jetzt keine Gedanken mehr. Wir sprechen morgen noch einmal darüber.«
Leise verließ sie das Zimmer. In der Halle traf sie auf ihren Vater. »Es ist alles in Ordnung«, beruhigte sie ihn.
»Gut. Ich danke dir, Liebes.«
Gemeinsam gingen sie den Weg bis zum Hospital, wo Steve sich an der Pforte von seiner Tochter verabschiedete und den Weg zu seiner Praxis einschlug.
Wie üblich war das Wartezimmer voll, und Crabbe begrüßte ihn mit der Bemerkung: »Sie sind spät dran, heute. Ein paar dachten, Sie kämen nich’ mehr und sin’ gegangen. Aber keine Angst, der Rest hält Sie bestimmt noch Stunden auf Trab ... Sind Sie krank, Doc?«
»Nein. Wie kommst du darauf?«
»Nun, Sie sehn ein bißchen blaß aus um die Nase. Aber ich hab’ eine gute Nachricht für Sie. Der Kerl, Sie wissen schon, der, der neulich hier war und sein Maul aufgerissen hat, den hab’n sie heute morgen tot aus’m Fluß gefischt.«
Steve, der sich gerade an seinen Schreibtisch setzen wollte, schoß herum wie der Blitz, daß Crabbe erschrocken einen Satz nach hinten machte. »Ich ... ich hab’ damit nichts zu tun, Doc«, beteuerte er. »Ehrenwort.«
»Das mag ja sein, Crabbe, aber wer außer dir wußte denn, was hier vorgefallen ist?«
»Mehr Leute, als Sie denken, Doc. Der Kerl hat doch im Wilden Eber sein Maul aufgerissen wie ‘n Scheunentor. Daß er Geld hat oder bald welches macht, hat er getönt, und angegeben, daß er aus bestem Stall kommt.«
»Woher willst du denn so genau wissen, daß er es war?«
»Der junge Sparky war dabei, als sie ihn aus’m Wasser gezogen hab’n. Die Bobbies war’n auch da, und er hat noch alle seine Klamotten angehabt, außer dem Hut natürlich. Wenn es einer von uns gewesen wär’, dann hätt’ er ohne Stiefel im Wasser gelegen, nich’ wahr?«
Steve sah seinem Assistenten prüfend in die Augen, und der hielt seinem Blick stand, ohne dabei zu zwinkern. Doch Steve wußte nur zu gut, daß ein gerader Blick bei Leuten seines Schlages noch lange kein Kriterium für Aufrichtigkeit war, denn diese Kerle waren es von klein auf gewohnt, das Blaue vom Himmel herunterzulügen.
»Auf alle Fälle können Sie dem lieben Gott danken, daß dieser Kerl Sie nich’ mehr belästigen wird.«
»Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, wie du so sicher sein kannst, daß er der Tote ist.«
»Die Bobbies hab’n in seiner Tasche ‘nen Brief gefunden, da stand sein Name und seine Adresse drauf, ‘n paar Shilling hat er auch noch bei sich gehabt. Nur seine Uhr nich’. Er hat immer mit seiner Uhr rumgewedelt, sagt Sparky. Muß so ‘n richtiger Angeber gewesen sein.«
»Komisch, du scheinst eine ganze Menge über ihn zu wissen, Crabbe, obwohl du doch gar nicht dabei warst.«
Crabbes Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Sie kennen mich doch, Doc. Ich hab’ ‘ne Menge gute Freunde ... So, das wär’ dann wohl geregelt, oder? Auf Sie wartet ‘ne Menge Arbeit draußen; da sind zwei Beine dabei, die stinken schon wie die Pest. Old McIntyre sollte ins Hospital gehen, das hab’n Sie ihm ja auch schon gesagt. Aber der Alte hat Bammel, weil er genau weiß, daß sie ihm dort sein Bein absägen, ohne lange zu fackeln.«
Steve ließ sich mit einem tiefen Seufzer hinter seinem Schreibtisch nieder. Er glaubte Crabbe kein Wort. Dieser Mann war in der Nachbarschaft der absolute Boß: Jeder hatte Angst vor seiner schnellen Faust. Und warum er immer noch bei ihm arbeitete, obwohl er durch Taschendiebereien ein Zehnfaches von seinem Lohn hätte verdienen können, das wußte er bis heute nicht genau. Aber Dimarca war tot... Hätte er nicht zwei Tage früher sterben können? dachte Steve und ballte seine Hand zur Faust. Dann hätte alles, was in den letzten zwei Tagen geschehen war, nie passieren müssen. Seine geliebte Janice hätte ihren Robert heiraten können, und niemand hätte etwas geahnt. In diesem Land gab es so viele verheiratete Paare, in deren Adern das gleiche Blut floß: Die Anderson Steermans dieser Welt verteilten ihren Samen nur zu freimütig. Und nicht nur sie. Es waren nicht immer nur Gerüchte, daß die Nachkommen solcher Verbindungen in Asylen oder in dunklen Dachstuben dahinvegetierten; manche wurden auch ganz offen in der Familie großgezogen. Inzest war in manchen Vierteln hier nichts Ungewöhnliches, wie er aus eigener Erfahrung wußte.
Wäre das, was jetzt ans Licht gekommen war, nur ihm allein bekannt gewesen, hätte er die Verbindung von Janice mit ihrem Halbbruder dann schweigend akzeptiert? fragte er sich. Aus medizinischer Sicht hätte er sie unterbinden müssen; aber als Wandler zwischen zwei Welten, zu dem er im Laufe der Jahre geworden war, hätte er seine Augen wahrscheinlich verschlossen.
In dem Augenblick, als Janice die Station verließ, um ins Schwesternheim hinüberzugehen, fiel der Schutzpanzer von ihr ab, und der Schmerz flammte wieder auf.
Robert war ihre erste große Liebe; bisher hatte sie kein anderer Mann interessiert, nicht einmal als Backfisch hatte sie die Schwärmereien ihrer Freundinnen geteilt. Und sie wußte auch, daß Robert der Mann ihres Lebens war – sie hatte es vom ersten Augenblick an gespürt. Diese Gewißheit hatte ihre Tage erhellt, in Gedanken war er immer bei ihr, und besonders in ihren Träumen. Aber was sich jetzt in ihr regte, waren nicht die verzweifelten Gedanken einer jungen, liebeskranken Frau, die sich einredete, daß sie sich nie wieder verlieben, sondern den Rest ihres Lebens dieser verlorenen Liebe nachtrauern würde. Nein, es war diese sichere Gewißheit in ihr, die ihr sagte, daß sie niemals einen anderen Mann lieben würde, daß sie niemals einen anderen würde lieben können.
Unendlich glücklich und erfüllt vom Wunder der Liebe, so war sie gestern nach Hause gekommen, um miterleben zu müssen, wie man ihr mit einem Satz diese Liebe gewaltsam entriß. Den ganzen Tag hatte sie auf ihn gewartet, weil sie wußte, daß sie miteinander sprechen mußten. Doch als er bis zum Abend nicht erschienen war, mischte sich in ihren Kummer auch noch das Gefühl von Verzweiflung und Zurückweisung.
Draußen vor dem Hospital blieb sie kurz stehen und holte ein paarmal tief Luft, bevor sie den Platz überquerte, auf dessen anderer Seite das düstere Gebäude des Schwesternheims stand. Und dann sah sie ihn – er kam vom Haupteingang langsam auf sie zugeschlendert und legte die letzten Meter im Laufschritt zurück.
Eine ganze Weile standen sie sich schweigend gegenüber, die Blicke ineinander versenkt. »Hast du Zeit für einen Spaziergang?« fragte er dann leise mit einer Stimme, die ihr merkwürdig fremd vorkam.
Unfähig zu antworten, machte sie kehrt und ging gemeinsam mit ihm durch den Haupteingang hinaus auf die Straße.
Die letzten Nebelschwaden der Nacht, die sich langsam in der Morgensonne aufzulösen begannen, hingen über der Stadt. »Sollen wir in den Park gehen?«
Janice brachte immer noch kein Wort heraus. Zweimal hatten sie sich vorher heimlich in diesem Park getroffen.
Sie waren spazierengegangen, hatten sich unterhalten, aber dabei nicht einmal an den Händen berührt.
Fünf Minuten später erreichten sie den Park, wo es – abgesehen von dem einen oder anderen Stadtstreicher, der sein Nachtlager auf einer der Bänke aufgeschlagen hatte –, noch menschenleer war.
In einer abgelegenen Ecke entdeckten sie eine Holzbank, deren taubenetzte Sitzfläche in der schräg durch die Büsche einfallenden Morgensonne silbern schimmerte. Mit einem Taschentuch versuchte Robert die Bank trockenzuwischen, was ihm aber nur notdürftig gelang. Daraufhin zog er seinen weißen Seidenschal unter dem Mantelkragen hervor, faltete ihn doppelt und breitete ihn auf dem Sitz aus, bevor er dann Janice bedeutete, sich zu setzen.
Erst jetzt bemerkte sie, daß er noch denselben Mantel trug wie gestern auf ihrem gemeinsamen Rückweg von Oxford. Und ihre Besorgnis wuchs, als sie in sein Gesicht sah, das vor Erschöpfung ganz grau war. Anscheinend hatte man ihn gleich nach seiner Ankunft zu Hause vor vollendete Tatsache gestellt, und die mußten ihn so schockiert haben, daß er keinen Gedanken darauf verschwendet hatte, seine Kleider zu wechseln. Aber wo war er seither gewesen? überlegte sie. Er sah so anders aus, viel älter und schrecklich mitgenommen.
»Ach, Robert«, waren die ersten Worte, die ihr über die Lippen kamen.
Er griff nach ihren Händen, und jetzt sprudelte es nur so aus ihm heraus: »Ich... ich kann es nicht glauben. Ich will es einfach nicht glauben! Ich ... ich war rasend vor Wut. Am liebsten hätte ich ihn umgebracht. Ich war schon fast am Bahnhof, aber dann ist mir klargeworden, daß ich dich nie wiedersehen würde, wenn ich ihn umbrächte ... nicht mit dir über die Sache sprechen... eine Lösung finden könnte. O Janice! Janice!«
»Ich weiß, mein Liebster. Ich weiß. Mir geht es genauso ... ich kann und will es nicht glauben. Auch ich suche nach einer Lösung, aber es gibt keine, nicht wahr?«
Ihre tiefen Seufzer kamen gleichzeitig, ihre Hände klammerten sich aneinander, und ihr warmer Atem streichelte die Wangen des anderen. »Ich ... ich liebe dich, Janice. Ich bete dich an. Und ich weiß, daß dieses Gefühl mich nie verlassen wird. Nie zuvor habe ich etwas Ähnliches empfunden, nie irgendeine Frau oder ein Mädchen begehrt. Doch seit ich dich zum ersten Mal sah, hält mich dieses Gefühl der Liebe gefangen. Gestern morgen bin ich völlig durchgedreht, habe einen Tisch umgeworfen und eine unbezahlbare Vase zerbrochen, als mein Großvater mir die Wahrheit eröffnet und dann gemeint hatte, daß meine Gefühle zu dir nur unserer Blutsverwandtschaft entsprängen. Der bloße Gedanke daran machte mich beinahe wahnsinnig. Ich weiß noch, daß Gibbons und Mason mich aus dem Zimmer gezerrt haben. Und seither bin ich nur gelaufen.«
»Ach, Liebster. Mein Geliebter.« Sie machte eine Hand frei und legte sie ihm sanft auf die Wange. »Ich weiß. Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Hätte ich letzte Nacht nicht arbeiten müssen, wäre ich sicher auch in der Stadt herumgelaufen. Ich liebe dich so sehr, Robert. Ich werde dich immer lieben. Immer.«
Als seine Arme sich um sie schlangen und ihre Lippen sich berührten, stieß sie ihn unvermittelt von sich weg und murmelte mit abgewendetem Kopf: »Nein, nein! Bitte nicht! Ich könnte es nicht ertragen. Wir dürfen das nicht tun.«
Seufzend stützte Robert die Ellbogen auf die Knie, den Blick starr auf den Kiesweg vor ihm gerichtet. »Was machen wir jetzt?« fragte er nach einer Weile.
Janice antwortete nicht sofort. »Wir können gar nichts machen«, sagte sie dann. »Und das weißt du auch.«
Robert schwang herum. »Doch, wir können Freunde sein. Nur Freunde. Ich könnte den Gedanken, dich nie wiederzusehen, nie wieder mit dir zu reden, nicht ertragen.«
»Das würden wir nicht durchhalten, Robert. Du weißt, daß das nicht geht, mein Liebster.«
»Ach, was zum Teufel macht das schon? Was macht das nach alledem schon aus? Es muß etliche Paare wie uns geben, und einige davon wissen sicherlich über sich Bescheid. Nicht alle vielleicht, doch manche bestimmt.«
»Ja«, nickte sie, »manche wissen es wohl. Aber wie leben sie? Ständig in der Angst, daß die Wahrheit ans Licht kommt. Und wenn sie eines Tages ans Licht kommt, sind sie gesellschaftlich ruiniert. Und ... und du mit deiner Zukunft, Robert, du kannst dir das nicht leisten. Dein Großvater ist ein alter Mann. Über kurz oder lang wirst du seine Firmen übernehmen, große Betriebe, wie ich gehört habe.«
»Ich pfeif auf die Betriebe. Die haben mich noch nie interessiert. Ich will mein eigenes Leben leben, und zwar mit dir.«
Als habe sie nicht gehört, was er gesagt hatte, fuhr sie fort: »Und da ist noch meine Seite. Da ist der Mann, den ich als meinen Vater liebe, den ich verehre und respektiere, und jetzt um so mehr, da ich weiß, daß er die Verantwortung für zwei Kinder übernommen hat, die nicht die seinen waren und deren leiblichen Vater er kannte und aus tiefster Seele haßte; und der meiner Mutter verziehen hat, die damals nicht in der Lage gewesen war, gut und böse voneinander zu unterscheiden. Ich betrachte deinen Vater – und meinen – nämlich nicht als charmanten Weichling ... das war nur der Vorwand für seine Zügellosigkeit. Denn du mußt wissen – vielleicht weißt du es bereits –, daß nicht nur wir miteinander verwandt sind, sondern daß wir noch zwei andere Halbgeschwister haben, die Kinder seiner Geliebten nämlich. Und möglicherweise noch weitere, von denen wir nichts wissen. Die Bibel sagt, daß alles Böse, das ein Mensch tut, an die kommenden Generationen weitervererbt wird. Bis gestern nacht habe ich nie über diese Worte nachgedacht. Aber sie sind so wahr.«
Robert lehnte sich zurück und blickte hinauf in den Himmel. Dort oben drängten sich dicke Wolkenmassen zusammen, dunkel und bedrohlich, doch in der Mitte war noch ein kreisrunder Fleck tiefblauen Himmels zu sehen. Und darin meinte er eine Bedeutung zu lesen. »Eines Tages wirst du jemand anderen heiraten. Du bist geschaffen für die Ehe«, raunte er.
»Niemals! Glaub mir, Robert. Ich werde niemals heiraten.«
Langsam senkte er den Kopf und sah sie an. »Ich auch nicht.«
Das alte Sprichwort ›Zeit heilt alle Wunden‹ kam ihr in den Sinn, aber sie sprach es nicht aus. Und obwohl sie hundertprozentig wußte, daß sie nie einen anderen Mann heiraten würde, rechnete sie damit, daß seine Bedürfnisse ihn eines Tages dazu bringen würden, sich eine andere Frau zu nehmen, ohne diese unbedingt zu lieben. Doch als er wiederholte: »Ich schwöre dir, Janice, ich werde niemals heiraten. Niemals!«, verkniff sie sich die Antwort, daß gewisse Umstände seine Meinung sehr wohl ändern könnten.
Sie erhob sich von der Bank. »Ich ... ich gehe jetzt, Robert«, flüsterte sie. »Um neun Uhr muß ich in meinem Zimmer sein.«
Robert stand ihr gegenüber. »Ich fühle mich so elend, so einsam und verlassen, Janice. Können wir uns nicht doch Wiedersehen?«
»Das wäre verhängnisvoll, und wir wissen es beide. Warum bestehst du nicht darauf, noch ein weiteres Jahr in Oxford zu studieren? Jason mag dich so gern. Auch er war schrecklich traurig über diese Sache, aber zwischen euch besteht ja keine Barriere. Du kannst ein guter Freund sein... aber bitte vergeude nicht dein Leben, denn wie ich es sehe, werden in naher Zukunft viele Menschen von dir abhängig sein. Und du könntest so vieles verändern zum Wohle eurer Arbeiter.«
Seine Stimme klang ganz ruhig, als er sie fragte: »Und was wirst du mit deinem Leben anfangen?«
»Weiterhin im Krankenhaus arbeiten. Vielleicht werde ich sogar Oberschwester, wer weiß? Aber ... jetzt muß ich wirklich gehen«, sagte sie entschlossen und sah zu ihm hoch.
»Laß mich dich noch einmal küssen, Janice. Ein letztes Mal.«
Zögernd schmiegte sie sich an ihn, ihre Lippen suchten sich, zunächst zärtlich, dann immer gieriger, und einen Augenblick lang preßten sich ihre Körper verzweifelt aneinander; im nächsten Moment entwand sie sich seiner Umarmung, raffte ihre gestärkten weißen Röcke und rannte davon. Robert stand einfach nur da und sah ihr nach, bis sie seinem Blick entschwunden war.
Janice rannte bis zum Hospital, blieb dann stehen, um Luft zu holen und sich die Tränen abzuwischen, die ihr über die Wangen kullerten, und betrat dann gemessenen Schrittes das Schwesternheim, wissend, daß sie sich für ihre Abwesenheit bei der Hausmutter würde verantworten müssen. In ihrem Zimmer legte sie Mantel und Haube ab und ließ sich dann mit einem verzweifelten Seufzer auf das schmale Eisenbett fallen. Und als die Tränen wieder zu fließen begannen, stöhnte sie: »Ich kann es nicht ertragen. Ich kann es nicht ertragen.«
Erst eine gute halbe Stunde später lag sie richtig im Bett. Unfähig, ein Auge zuzumachen, nahm sie den Gedichtband ihres Vaters vom Nachttisch und wußte unwillkürlich, welches Gedicht sie lesen würde. Es war das erste Gedicht in diesem Band, und es schien, als habe er es eigens für sie geschrieben. Es trug den Titel ›Wahre Bedürfnisse‹. Die Tränen rannten ihr in Strömen über die Wangen, als sie die letzte Zeile las. »Das Einzige, was man braucht im Leben, ist ein Freund«, lautete diese. »Und ich kann nicht einmal das für ihn sein«, entrang es sich ihr aus tiefster Seele, »denn keiner von uns beiden wäre stark genug, dem Verlangen des anderen zu widerstehen. Ach, könnte ich doch jetzt in diese letzte Unendlichkeit entschwinden, von der Vater immer spricht und vor der einen auch alles Wissen nicht bewahren kann. Aber Robert und ich müssen mit dem Wissen leben, daß wir bereits füreinander gestorben sind.«