Kapitel 2

Schlußendlich nahm Janice weder die Tutoren- noch die Oberinnenstelle an. Sie hatte sich am folgenden Wochenende noch einmal zu einem Gespräch mit ihren Eltern zusammengesetzt, sich deren Ansichten angehört und sie dann mit der Mitteilung überrascht, daß sie aufgrund gewisser Umstände, über die sie jetzt noch nicht sprechen wollte, ihre Meinung geändert habe und ihre jetzige Stelle vorläufig behalten werde.

Die beiden hatten sich erstaunte Blicke zugeworfen, und Emily hatte dann der Vermutung Ausdruck gegeben, daß da irgend etwas anderes dahinterstecken müsse.

»Ja, Mutter, da hast du recht«, hatte Janice geantwortet. »Aber wie gesagt, ich möchte jetzt noch nicht darüber sprechen, da noch nichts entschieden ist.«

Ende November wußten Janice und Robert dann, wie es mit ihnen weitergehen würde. Robert konnte mittlerweile mit Hilfe von Krücken wieder laufen; man hatte ihm zwei Zehen amputieren müssen, aber sein Fuß war gut verheilt, und mit Hilfe spezieller Schuheinlagen würde er bald ohne fremde Hilfe gehen können. Dickinson, dessen Schrapnell entfernt worden war, sollte demnächst ebenfalls entlassen werden.

Janice saß momentan im Salon von Roberts Londoner Stadthaus, wo ihnen Gibbons und eine freundlich lächelnde Haushälterin Tee und Gebäck servierten.

»Kommen Sie allein zurecht, Madam?« erkundigte sich Gibbons höflich.

»Ja, vielen Dank.« Janice lächelte dem weißhaarigen Mann mit den gebeugten Schultern zu, der sich dann mit der Frage »Soll ich Ihnen eine Fußbank bringen, Sir?« an Robert wandte.

»Unsinn, Gibbons. Wenn hier jemand eine Fußbank braucht, dann Sie. Ich sage Ihnen doch ständig, daß Sie die Beine hochlegen sollen. Zum Herumrennen sind genug andere Leute da.«

»Das ist eben die Macht der Gewohnheit, Sir.«

»Gut, dann nutzen Sie die Jahre, die noch vor Ihnen liegen, dazu, diese Gewohnheit abzulegen.

Der alte Mann strahlte, als er sich jetzt zu Robert hinabbeugte und sagte: »Es ist schön, daß Sie wieder zurück sind, Sir.«

»Ja, ich bin auch froh, wieder hier zu sein, das können Sie mir glauben, Gibbons«, erwiderte er und setzte mit einem Blick auf das Hausmädchen hinzu: »Bringen Sie ihn bitte hinaus, Doris, und sehen Sie zu, daß er sich ausruht.«

Lächelnd schüttelte diese den Kopf, als wollte sie sagen, daß ihr so etwas nicht zustünde, verließ dann aber doch gemeinsam mit Gibbons den Raum.

Robert rückte näher an Janice heran. »Wenn ich nachrechne, wann Gibbons in den Dienst meines Großvaters trat, dann muß er jetzt Ende Achtzig, wenn nicht Anfang Neunzig sein. Und die meiste Zeit seines Lebens hat er entweder hier oder oben in High Gully verbracht.« Er räusperte sich und fuhr dann fort: »Ach ja, ich wollte dich fragen, ob du dich am Wochenende freimachen kannst?«

»Ja«, nickte sie. »Mein Dienst endet am achtzehnten, aber mir steht noch eine Woche Urlaub zu. Das heißt, ich könnte am Freitag aufhören.«

»Das ist fein, dann haben wir keine Eile, denn es braucht mehr als ein Wochenende, um dir alles zu zeigen.« Er hielt inne. »Nein, besser gesagt, um zu sehen, was du von dem Haus und der Gegend hältst. Es ist wild dort oben, absolut einsam und im Winter so kalt wie in Sibirien, aber dennoch wunderschön.«

Er nahm ihre Hand und sah ihr tief in die Augen, während er mit gedämpfter Stimme bemerkte: »Wir reden immer um den heißen Brei herum, nicht wahr? Wir nennen das Kind nie beim Namen, sondern benutzen Umschreibungen wie: ›Du mußt dir das Londoner Haus ansehen; du mußt mit nach Schottland kommen und High Gully kennenlernen; du mußt dies, und du mußt das.‹ Aber... die Frage ist die, liebste Janice, warum? Weshalb?«

Ihre Hand zitterte in der seinen, als sie leise, aber mit fester Stimme antwortete: »Weil wir jetzt beide wissen, weshalb. Vor sechzehn Jahren stellte sich dieses ›Weshalb‹ zwischen uns, weil wir beide noch jung und ängstlich waren; zumindest ich war es. Aber jetzt nicht mehr.«

»Ach, meine Geliebte!« Er wollte sie in die Arme ziehen, doch bei dieser ungestümen Bewegung geriet der Teewagen gefährlich ins Wanken, worauf sie ihn beide gleichzeitig festhielten und dabei verlegen lächelten. »Der Tee wird kalt«, sagte sie, als Robert den Teewagen beiseite schob.

»Der Tee wird kalt«, wiederholte er. »In diesem wunderschönen Augenblick denkst du an den Tee. Komm zu mir, mein Liebling.« Sie fielen sich in die Arme, und seit diesem nebligen Morgen im Jahre 1902 trafen sich ihre Lippen zum ersten Mal wieder. Sie küßten sich lange und voller Hingabe, und als sie sich schließlich voneinander lösten, sank Janice in die Couchecke zurück. »Ich ... ich hätte nie geglaubt«, seufzte sie und rang nach Luft, »daß das noch einmal geschehen würde. Niemals. Mein Gott, wie oft habe ich meine Entscheidung von damals bereut.«

»Du hast richtig entschieden, denn damals besaßen wir beide nicht die Stärke, dem Sturm standzuhalten, der unweigerlich gegen uns losgebrochen wäre. Du hättest nie mehr zu deinen Eltern zurückgehen können; und was meinen Großvater betrifft, so hätte er mich kurzerhand enterbt und den ganzen Kram der Kirche oder irgendeiner wohltätigen Stiftung vermacht. Allein deshalb muß ich dir schon dankbar sein, denn ich glaube, ich habe mit seinem Geld einiges Gute getan; zumindest bis der Krieg ausbrach. Und weißt du, Liebling, im Grunde haben wir es diesem verfluchten Krieg zu verdanken, daß wir uns wieder begegnet sind – und eine gemeinsame Zukunft möglich ist. Der Krieg hat viele alte Zöpfe abgeschnitten und mit etlichen Vorurteilen aufgeräumt. Aber längst nicht mit allen.« Seine Stimme wurde um einige Nuancen leiser. »Ja, ich fürchte, längst nicht mit allen. Und deine Familie hält mit Sicherheit noch an einigen dieser Vorurteile fest. Mit Ausnahme vielleicht deines Vaters.«

»Ach, da irrst du dich aber, glaube ich. Was Moral anbelangt, ist mein Vater viel unerbittlicher in seinen Ansichten als Mutter. Und das ist es auch, was mir Sorgen bereitet: Ich muß es ihnen demnächst sagen.«

»Möchtest du, daß ich mitkomme, wenn du es ihnen erzählst?«

»Nein, besser nicht«, entgegnete sie und steichelte dabei seine Wange. »Laß mich das lieber alleine machen.« Dann zog sie den Servierwagen wieder heran und schenkte den Tee ein, den sie schweigend tranken und dabei nachdenklich in das knisternde Feuer starrten, das im Kamin brannte.

Nach einer Weile nahm Robert das Gespräch wieder auf. »Wer weiß in deiner Familie über unsere Situation Bescheid, außer deinen Eltern und Jason?«

»Nur Alice, soviel ich weiß, da Vater Jason gebeten hat, Rosie gegenüber Schweigen zu bewahren. Unsere Trennung hat er übrigens deinem Großvater in die Schuhe geschoben, der angeblich höhere Ziele mit dir verfolgte, als eine gewöhnliche Krankenschwester zu heiraten.«

»Nein, das ist nicht wahr!«

»O doch, und ich glaube, das war gar keine so schlechte Idee. Und wer weiß von deinen Leuten Bescheid?«

»Nur Gibbons. Selbst Marian hat man nichts gesagt, aber ich bin sicher, sie hätte sich auf unsere Seite gestellt, wenn sie es erfahren hätte.«

Er nahm Janices Kinn zwischen zwei Finger und drehte es zu sich herum, damit sie ihn ansah.

»Ich muß dir noch etwas gestehen, Janice«, begann er zögernd. »Es mag dir vielleicht etwas voreilig erscheinen, aber ... ich habe mir letzte Woche eine Heiratserlaubnis geholt.«

»Oh!« stieß sie hervor, und noch mal: »Oh!« Und dann rief sie aufgeregt: »Du meinst, wir sollten heiraten? Ich dachte... ich war eigentlich der Meinung, wir würden nur so -«

»Nur so zusammenleben?« beendete er ihren Satz.

»Ja; ja, das dachte ich eigentlich.«

»Ach, meine geliebte Janice!« Er schüttelte den Kopf und nahm ihr Gesicht zärtlich in beide Hände. »Nein, wir werden heiraten. Aber heimlich, ohne jemandem vorher etwas zu sagen, denn dann kann es nicht mehr rückgängig gemacht werden.«

»Aber Robert... hast du auch daran gedacht, daß ich, obwohl ich bald vierzig bin, noch ein Kind bekommen könnte?«

»Und du möchtest kein Kind, nicht wahr?«

»Nein, nicht unter diesen Umständen.«

»Weißt du«, sagte Robert, »ich denke da ganz genau wie du, und ich werde dafür Sorge tragen, daß es dazu nicht kommen wird.«

Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken und murmelte: »Mein einziger Wunsch im Leben bist du.«

»Und für mich bist es du. Ich möchte niemals mehr ohne dich sein. Was ich für dich empfinde, ist keine gewöhnliche Liebe. Gut, man könnte sagen, sie ist schon allein deshalb keine gewöhnliche Liebe, weil in unseren Adern dasselbe Blut fließt. Aber das wäre zu wenig; meine Gefühle für dich sind viel tiefer, sie haben nichts mit Verliebtheit zu tun und gründen sich nicht allein auf äußerliche Reize oder sexuelles Verlangen. Das ist mir schon vor vielen Jahren bewußt geworden, ich habe es nur nicht verstanden, aber heute weiß ich, daß eine gewöhnliche Liebe längst gestorben wäre. Meine Liebe zu dir ist jedoch in all den Jahren bestehen geblieben. Selbst wenn ich eine andere Frau geheiratet hätte, wäre diese Liebe in mir immer präsent gewesen.«

Er hob ihr Kinn an und blickte ihr tief in die Augen. »Ich hoffe, dir gefällt High Gully. Wir werden wahrscheinlich das ganze Haus von Grund auf renovieren müssen, aber das wird sich lohnen, denn ich kann mir gut vorstellen, daß wir beide ständig dort oben leben und gemeinsam alt werden. Sicher, wir werden Ausflüge nach London oder Edinburgh unternehmen... Ach, Liebling, wie oft habe ich während des Krieges an dieses Weihnachtsessen gedacht, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind und abends dann alle zusammen The Toreador im Gaiety Theatre gesehen haben. Die Lieder und die Musik klingen mir heute noch in den Ohren. Ach, war das ein schöner Abend. Und erinnerst du dich noch an das andere Mal, als wir mit deiner Familie im Royal Strand A Chinese Honeymoon angeschaut haben? Ich konnte nur mitkommen, weil Großvaters Hausarzt ihn für einige Tage zur Untersuchung ins Hospital eingewiesen hatte.«

»O ja, ich erinnere mich noch genau daran. Weißt du auch noch, wie Jason sich anschließend zu Hause als das kleine Cockneymädchen Fi Fi verkleidet und ihre Lieder geschmettert hat und wir alle um das Klavier herumstanden und aus vollem Halse mitgesungen haben? Übrigens, die Show ist damals über tausendmal gelaufen, und Fi Fis Songs wurden richtige Ohrwürmer. Jeder Kutscher hat sie vor sich hin gepfiffen.«

Eine Zeitlang hingen beide stumm ihren Erinnerungen nach, dann sagte Janice mit trauriger Stimme: »Ach ja, das war das schönste Weihnachten meines Lebens. Doch seitdem habe ich Weihnachten gehaßt. Ich mag es immer noch nicht. Aber da Jason jetzt Kinder hat, muß man schon allein ihretwegen ein fröhliches Gesicht machen.«

Das lange Schweigen, das daraufhin zwischen ihnen entstand, brach Robert schließlich mit der Bemerkung: »Wir könnten welche adoptieren, habe ich mir gerade überlegt.«

Sie nickte ihm lächelnd zu.

»Ja, ja«, sagte sie nach einer Weile. »Aber nicht gleich. Ich möchte dich doch gerne eine Zeitlang ganz für mich alleine haben.«

»Ach, Janice. Glaubst du, mir geht es anders? Wir müssen so schnell wie möglich heiraten.«

»Ja, Liebster«, entgegnete sie schlicht. »Ganz schnell.«