Nachdem der Kellner die Teller abgeräumt hatte, zündete Jason sich eine Zigarette an und meinte dann zu Freddie und Gracie, die ihm gegenübersaßen: »Es tut mir aufrichtig leid, aber ihr wißt ja, es mußte sein.«
»Was wirst du tun, sobald eure Trennung offiziell ist?«
Jason drückte seine Zigarette aus, blickte von einem zum anderen und entgegnete dann ruhig: »Mit Maggie zusammenleben.«
»Maggie?« kam es von den beiden anderen wie aus einem Munde. »Du meinst Marians Maggie?« vergewisserte sich Gracie.
»Kennt ihr sonst noch eine Maggie?« Die Stimme ihres Vaters klang jetzt beinahe barsch. »Natürlich Marians Maggie.«
»Aber die ist... ist...«
Jasons Blick richtete sich auf Freddie. »Ja, sie ist so viel jünger als ich, fünfundzwanzig Jahre, um genau zu sein, aber wir lieben uns schon seit mindestens zehn Jahren. Im Gegensatz zu Janice und Robert haben wir beschlossen, es dabei zu belassen, denn es wäre nicht recht gewesen. Doch seit einem Jahr etwa denke ich mir, zum Teufel mit den Konventionen! Das Leben ist so kurz. Ich weiß, ich sehe nicht so aus, aber ich bin fünfundfünfzig, und Maggie hat trotz diverser Anträge nicht geheiratet, einfach deshalb, weil sie mich liebt.«
Bruder und Schwester starrten eine Weile verlegen auf die Tischdecke, und es war Gracie, die dann fragte: »Weiß ... Tante Marian Bescheid?«
Jasons Lippen umspielte ein schwaches Lächeln. »O ja, Tante Marian weiß Bescheid«, sagte er. »Sie wußte es von Anfang an und hat mich immer einen Narren geschimpft. Nun, als meine Halbschwester nahm sie sich das Recht heraus, dies etliche Male zu tun.«
»Du wirst also bei ihnen draußen wohnen?«
»Ja, Gracie. Wir werden Marian auf keinen Fall allein lassen, denn sie braucht uns beide. Und ich liebe diesen Ort; er ist so friedlich. Ich hätte es mit eurer Mutter nicht so lange ausgehalten, wenn ich dieses Refugium nicht gehabt hätte.«
Freddie lächelte seinen Vater an, als er mit der Bemerkung herausplatzte: »Ich wäre beinahe vor dir eingezogen.«
»Was?«
»Ich sagte, ich wäre beinahe vor dir eingezogen. Ich habe Maggie nämlich einen Antrag gemacht.«
»Du hast Maggie einen Antrag gemacht?« wiederholte Jason staunend. »Wann?«
»Hat sie dir das nicht erzählt?« Freddie runzelte die Stirn, als dächte er angestrengt nach. »Nun, ich habe ihr gesagt, daß ich mir unseres Altersunterschiedes sehr wohl bewußt sei, aber wenn sie drei Jahre warten wolle, bis ich sechzehn bin, stünde unserer Zukunft nichts im Wege.«
Jason senkte den Kopf und biß sich auf die Lippen, um nicht laut herauszulachen, als Freddie fortfuhr: »Und ich habe nicht aufgegeben.«
»Nein?«
»Nein, als ich dann endlich sechzehn war, habe ich ihr abermals mein Angebot unterbreitet, jedoch längst nicht mehr so enthusiastisch wie beim ersten Mal. Und ich war ungemein erleichtert, als sie mir zur Antwort gab, wir sollten lieber noch ein wenig warten, da sie mir plötzlich ungeheuer alt vorkam. Wie alt war sie damals eigentlich? Fünfundzwanzig?«
»Oh, Freddie, das ist wirklich lustig... und Maggie hat mir nie etwas davon erzählt. Wie ich sie kenne, hat sie diese Angelegenheit als etwas sehr Privates und Schönes betrachtet.«
Freddies Wangen röteten sich ein wenig. »Vielleicht«, sagte er nachdenklich und setzte dann hinzu: »Sie ist sehr attraktiv ... und du kannst dich wirklich glücklich schätzen. Ich wünschte nur, es würde Mama nicht so unglücklich machen. Gestern morgen muß sie den Brief vom Anwalt bekommen haben, denn sie ist wieder völlig durchgedreht. Wir mußten Großvater bitten, ihr eine Spritze zu geben.« Er seufzte. »Ehrlich gesagt bin ich froh, daß in ein paar Tagen das neue Trimester anfängt. Aber die arme Gracie muß das die ganze Zeit aushalten. Weißt du, Vater, ich finde, das ist nicht fair! Und ich sage dir jetzt ganz offen, du hättest bei ihr bleiben sollen, bis sie freiwillig in ein Sanatorium gegangen wäre.«
»Freddie!« Jasons Stimme nahm jetzt einen bitteren Unterton an. »Ich bin viel zu lange geblieben. Das war mein Fehler. Jahrelang hat sie mir mit Selbstmord gedroht, mich mit der Flasche und weiß Gott was erpreßt.« Seine Stimme war laut geworden, und er blickte sich jetzt kurz im Restaurant um, bevor er sich über den Tisch beugte und flüsterte: »Hättest du mich lieber wegen Mordes vor Gericht sehen mögen? Denn dazu wäre es früher oder später gekommen, und das meine ich ganz im Ernst. Wie schon gesagt, ich habe die Trennung immer wieder hinausgeschoben, bis ihr alle auf eigenen Beinen steht, und noch darüber hinaus. Aber an Weihnachten, als sie euch derart gehässig die Wahrheit über Janice und Robert an den Kopf warf, da ist bei mir endgültig der Faden gerissen. Ich warte jetzt nur auf den Tag, da die ganze Geschichte in den Schlagzeilen erscheint, denn diesen vermeintlichen Triumph wird sie sich nicht nehmen lassen, diese Teufelin.«
»Oh, Vater!«
Als er sah, daß Gracie die Augen niedergeschlagen hatte, meinte er versöhnlich: »Ich kann mir nicht helfen, Gracie, für mich ist das die Wahrheit, wie ich sie sehe. Aber jetzt« – er warf einen Blick auf die Uhr und richtete sich auf – »muß ich mich sputen; mein Zug geht in einer halben Stunde.«
Sie fragten ihn nicht, wohin er fuhr, denn sie wußten es.
Wenig später, sie standen im Foyer des Restaurants, sagte Jason zu den beiden: »Ihr sollt wissen, daß ihr jederzeit willkommen seid. Platz ist dort genug für ein ganzes Regiment.«
Keiner der beiden lächelte oder bedankte sich für die Einladung. Doch draußen auf der Straße dann umarmte Gracie ihren Vater. »Ich wünsche dir, daß du glücklich wirst«, flüsterte sie, und als er antwortete: »Danke, meine Liebe«, kippte seine Stimme ein wenig.
Anschließend schüttelte er Freddie die Hand, der wie immer sachlich blieb und sich an Tatsachen hielt. »Im Augenblick ist hier niemand sehr glücklich, nicht wahr?« meinte er. »Onkel Robert und Tante Janice machen sich schreckliche Sorgen um Andrew.«
»Ja, das weiß ich. Hat man wieder etwas von ihm gehört?»«
»Nein, nicht seitdem er seine Malutensilien, ein bißchen Wäsche und andere Kleinigkeiten eingepackt, ein Taxi bestellt und Patterson erklärt hat, daß er zu einem Künstlerkollegen ziehe. Patterson hat natürlich sofort Onkel Robert informiert, der auch umgehend nach London gefahren ist; aber er hat nicht die leiseste Spur von Andrew entdeckt. Und dann kam dieser seltsame Anruf.«
»Ja, dieser seltsame Anruf«, nickte Jason. »Aber die Hauptsache ist, daß er lebt. Weißt du, was ich glaube: Er hat seine Familie gesucht und sie auch gefunden; und vielleicht sind sie ja ebenfalls Künstler.«
»Aber warum verschweigt er es, wenn dem so wäre?«
»Das kann nur er selbst beantworten, Freddie. Ah, da kommt ein Taxi.«
Er hielt das Taxi an, stieg ein, und bevor er die Tür schloß, sah er Gracie und Freddie noch einmal an und sagte: »Denkt gut von mir, denn ich liebe euch beide sehr.« Damit fuhr er ab.
Jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend, gingen die beiden schweigend nebeneinander her. Freddie dachte an die Freundin seines Vaters, die kaum älter war als Jessie. Gracies Gedanken gingen in eine andere Richtung: Sie dachte an Andrew und seinen Anruf in High Gully. Ihre Tante hatte ihr nicht erzählt, was Andrew gesagt hatte, aber Onkel Robert, denn er hatte den Anruf entgegengenommen. »Ich bin’s, Vater«, hatte sich Andrew gemeldet, dann die obligatorischen Fragen seines Vaters, wie es ihm ginge, ob er bald heimkäme oder ihnen nicht seine Adresse geben möchte, kurz beantwortet und weitere Fragen mit der Bitte abgeschmettert, daß er gerne seine Mutter sprechen möchte. Ihr sagte er dann, daß er sie immer als seine Mutter betrachten werde, die niemand ersetzen könne; daß er sie schätze, liebe und ihr für alles danke, was sie für ihn getan habe. »Macht euch keine Sorgen um mich. Mir geht es gut, sehr gut sogar, und ich werde euch bald besuchen«, hatte er hinzugefügt und dann ohne ein Wort der Verabschiedung aufgelegt.
Sie vermißte Andrew. Manchmal sehnte sie sich schrecklich nach ihm. Seit Weihnachten hegte sie diese intensiven Gefühle für ihn. Die zwei Jahre, die sie älter war als er, würden nicht so sehr ins Gewicht fallen, sobald Andrew erst einmal neunzehn oder zwanzig war. Ihr Vater hingegen, überlegte sie jetzt, und ein Gefühl von Bitterkeit stieg in ihr auf, der war fest entschlossen, mit einer Frau zusammenzuleben, die fünfundzwanzig Jahre jünger war als er. Warum hatte sie sich überhaupt jemals um diese lächerlichen zwei Jahre geschert?
Zuweilen, wenn sie in London so durch die Straßen ging, bildete sie sich ein, ihn zu spüren, glaubte, er müsse irgendwo in der Nähe wohnen. Und eines wußte sie sicher: Er malte.
Freddie unterbrach ihre Gedanken mit der Bemerkung: »Bei uns geht es im Moment drunter und drüber; in beiden Häusern, meine ich. Komisch, als ich jünger war, hatte ich immer das Gefühl, als gehörten High Gully und unser Haus einer Familie ... unserer Familie. Aber Großmutter Montane habe ich seltsamerweise nie dazugerechnet. Ja, eigenartig, wie sie sich von allem, was hier vorgeht, fernhält. Nichts scheint sie in irgendeiner Weise zu berühren: wie eine Königinwitwe thront sie über allem.«
Weitere Kommentare über ihre Großmutter und deren königliches Gebaren verstummten in dem Augenblick, als Gracie die Haustür öffnete und besagte Großmutter in der Halle stand und ihnen entgegenbrüllte: »Wo seid ihr gewesen? Der Doktor ist oben.«
»Was ist denn passiert?«
Es war Alice, die – ihre Herrin am Arm stützend – an ihrer Stelle Freddies Frage beantwortete. »Ach, sie hat nur versucht, sich umzubringen«, erklärte sie und machte sich nicht die Mühe, den Vorwurf in ihrer Stimme zu verbergen. »Man dürfte sie nicht allein lassen; jemand sollte immer bei ihr sein.«
Die Ungerechtigkeit dieses versteckten Vorwurfs brachte Gracie in Rage. »Wenn Sie Ihre geneigte Aufmerksamkeit auch in diesem Hause walten ließen, Alice, wäre das schon eine große Hilfe.«
»Miß Gracie, wie sprechen Sie denn mit mir!«
»Ach, seien Sie doch still!« Gracie warf Mantel und Hut auf einen Stuhl und rannte, gefolgt von Freddie, die Treppe hinauf. Im Flur oben kam ihnen der Doktor entgegen. »Rufen Sie sofort einen Krankenwagen an«, sagte er zu Freddie. Auf einleitende Worte hatte er verzichtet. Freddie machte auf dem Absatz kehrt und stürzte die Treppe hinunter. Gracie folgte dem Doktor ins Schlafzimmer ihrer Mutter, wo sie angesichts des Chaos, das sich ihr hier bot, erschrocken nach Luft schnappte. In dem Zimmer sah es aus wie nach einer Schlacht: Stühle lagen auf dem Boden und Schubladen waren herausgerissen worden, deren Inhalt überall auf dem Fußboden verstreut lag.
»Wo ist Ihr Vater?« fragte der Doktor, während er sich über ihre Mutter beugte.
»Er ist zu ... Freunden aufs Land gefahren.«
»Ich habe ihn mehrmals gewarnt, daß genau das passieren würde, falls er nicht etwas unternähme. Er hätte sie dazu überreden müssen, in ein Sanatorium zu gehen. Nun, wenn der Sherry sie nicht umbringen konnte, dieses Zeug schafft sie bestimmt.« Er deutete mit dem Kopf auf die vier kleinen, leeren Schnapsflaschen.
Als Freddie ins Zimmer kam und die Bescherung sah, entfuhr ihm ein entsetztes »O mein Gott!«, worauf der Doktor nur trocken meinte: »In diesem Fall kann Er uns auch nicht viel helfen. Kommt die Ambulanz?«
»Ja, der Krankenwagen muß jeden Augenblick hier sein.«
Der Doktor nahm noch einmal Roses Hand, um den Puls zu kontrollieren. »Gut, gut«, murmelte er vor sich hin, sah dann zu Gracie hoch und fragte: »Wissen Sie, was diese Kurzschlußhandlung ausgelöst haben könnte?«
Sie hätte erwidern können, daß ihre Mutter heute morgen einen Brief vom Anwalt erhalten habe, in dem ihr mitgeteilt wurde, daß ihr Mann die Scheidung eingereicht hatte. Doch als sie nur schweigend den Kopf schüttelte, brummte der Doktor leise: »Na ja, irgendwann mußte es so kommen; das hier geht schon zu lange. Ihre Mutter ist’ eine sehr sture Person.« Dann richtete er sich auf und wandte sich mit einem scharfen Blick an Freddie: »Ihr Vater, schaut der nicht ab und zu nach ihr?«
»Sie läßt doch niemanden zu sich«, erklärte Freddie und hätte gerne hinzugefügt: »Das wissen Sie doch mittlerweile selbst, Doktor.«
Als unten in der Halle Stimmen zu hören waren, wurde der Doktor sofort geschäftsmäßig, meinte im Kommandoton: »Räumen Sie den Krempel zur Seite« und stieß mit dem Fuß gegen eine Schublade. »Und machen Sie die Tür auf, damit die Sanitäter wissen, wo sie hinmüssen.«
Gracie hatte den Doktor noch nie sonderlich leiden können, aber in diesem Augenblick hätte sie ihm am liebsten entgegengeschleudert: »Sie tragen an diesen Umständen genauso viel Schuld wie alle anderen. Sie haben Ihre Autorität nie genug eingesetzt, weil Sie selbst eine Schwäche für Alkohol haben...«
Als die Sanitäter dann zehn Minuten später mit Rose das Haus verließen, brüllte Emily, die immer noch unten in der Halle stand, Freddie an: »Du holst sofort deinen Vater her. Hast du mich verstanden? Du weißt, wo er ist, also ruf ihn an. Skandalös ist das!«
Freddie verließ wortlos das Haus und knallte die Tür hinter sich zu. Und Alice nahm Emily am Arm. »Kommen Sie, meine Liebe. Kommen Sie.« Die vertraute, stets so vernünftige Stimme von Alice, auf die sich Emily immer noch stützte, sagte ihr, daß Rose im Grunde das gleiche getan hatte wie sie vor vielen Jahren, und aus demselben Grund: Diese Handlung war das hilflose Auflehnen gegen eine verloschene Liebe.
Langsam schlich Gracie den Krankenhausflur entlang; das Gefühl der Schuld lastete schwer auf ihren Schultern. Ihre Mutter hatte überlebt und würde nun weiter ihren rachsüchtigen Kampf ausfechten. Warum war sie nicht gestorben? Sie hätte gar nichts gemerkt. Sie hatte die letzten Jahre nur gelitten und war unglücklich gewesen und hatte dadurch ihre ganze Familie ebenfalls unglücklich gemacht.
Gracie konnte sich nicht erinnern, daß jemals Freude und Frohsinn in ihrem Zuhause geherrscht hatten; wohl aber konnte sie sich daran erinnern, immer mit dem Kopf unter dem Kopfkissen vergraben eingeschlafen zu sein, um die zankenden Stimmen aus dem Elternschlafzimmer nicht zu hören.
Der lange Flur mündete in eine große Halle, von der die Tür zum Wartezimmer abging. Sie fühlte sich schwach und mußte sich unbedingt hinsetzen, bis Freddie zurückkam, der in der Aufnahme war, um die Personalien ihrer Mutter anzugeben. Außer ihr befanden sich nur zwei andere Personen in dem Wartezimmer, und der Anblick einer der beiden ließ sie abrupt stehenbleiben. »Andrew! Andrew!«
Mit einem Satz fuhr Andrew herum. »Oh, wie schön, dich zu sehen!« rief Gracie aus, streifte das Mädchen neben ihm mit einem kurzen Blick und fuhr aufgeregt fort: »Hattest du wieder Nasenbluten? Ach, ich freue mich ja so, daß ich dich hier treffe. Wir haben uns alle solche Sorgen gemacht. Wenn ich Tante Janice und Onkel Robert erzähle ...«
»Einen Moment mal, Gracie!« unterbrach er sie barsch, worauf sie einen Schritt zurückwich, dann aber unverdrossen weiterplapperte: »Verzeihung. Ich weiß, ich rede wie ein Wasserfall, aber so bin ich nun mal.« Sie warf noch einen Blick auf das Mädchen neben ihm und fragte sich im Stillen, wer das wohl sein könnte. Sie war ziemlich durcheinander. »Freddie ist auch hier«, sagte sie, jetzt etwas ruhiger. »Er ist oben wegen der Personalien.«
»Personalien? Wer ist denn krank?«
Gracie schien plötzlich in sich zusammenzusacken. »Mutter«, kam es mit matter Stimme. »Sie ... hat Tabletten geschluckt.«
»Um Himmels willen! Wann ist das passiert?«
»Heute abend.«
»Komm, setz dich.« Andrew deutete auf einen freien Stuhl neben sich. »Oh, ich vergaß, euch bekannt zu machen. Das ist Betty«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln und legte seine Hand auf die des Mädchens. Gracie hatte das Gefühl, in ein tiefes, dunkles Loch zu fallen. Doch als sie ihn dann sagen hörte: »Du wirst überrascht sein, Gracie, sie ist meine Schwester, meine leibliche Schwester«, erhellte sich ihre Miene augenblicklich. Sie musterte die eigenartige junge Frau kurz, begrüßte sie dann aber mit einem höflichen Lächeln: »Wie geht es dir?«
»Ganz gut; wenn es endlich aufhört zu regnen, noch besser.«
Andrew drückte ihre Hand, die immer noch in der seinen lag. »Komm, Betty, hör auf mit diesen Albernheiten! «
Gracie sah den Jungen an, den sie liebte, den sie schon so lange liebte, und stellte fest, daß er kein Junge mehr war, sondern ein junger Mann.
Andrew lächelte sie an und forderte sie nochmals auf, sich hinzusetzen. »Was ich dir zu erzählen habe, ist eine lange Geschichte. Übrigens, ist dein Vater auch hier?«
Gracie schüttelte den Kopf. »Nein, er muß inzwischen bei Tante Marian sein. Wir haben zusammen zu Abend gegessen, und als wir heimkamen, war schon der Doktor da. Sie hat Schlaftabletten geschluckt.«
»Nein, wie furchtbar. Wie geht es ihr?«
»Den Umständen entsprechend gut, sagen die Ärzte«, erwiderte sie und setzte dann hastig hinzu: »Weißt du, ich habe die ganze Zeit gespürt, daß du hier irgendwo in der Nähe bist.«
Andrew drehte sich zu ihr um und sah sie an. Sie hatte sich verändert, fand er. Sie sah besorgt aus, aber irgendwie war sie hübscher geworden. Nein, hübsch war nicht das richtige Wort: Sie hatte ein wunderschönes Gesicht und eine ungemein freundliche Ausstrahlung. Daß ausgerechnet sie in diesem Wartezimmer auftauchen mußte! Ihm wurde wieder schwindelig. Und Freddie war auch hier. Er mußte mit ihnen beiden reden, dachte er, und im selben Augenblick hörte er auch schon Freddies aufgeregte Stimme. »Andrew! Andrew! Was machst du denn hier? Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Schön, dich endlich wiederzusehen. Ach, werden sich alle freuen, wenn ich ihnen erzähle ...«
»Mir wäre es sehr lieb, wenn ihr beiden niemandem etwas erzählen würdet. Sollen wir nicht irgendwo einen Kaffee trinken gehen? Ich muß mit euch reden.«
Reichlich verdutzt starrten Freddie und Gracie im nächsten Augenblick Andrews seltsame Begleiterin an, als diese mit nicht gerade leiser Stimme dazwischenfuhr: »Du wirst nirgendwo hingehen, außer nach Hause und in dein Bett. Wenn es nach denen da drinnen ginge, hättest du überhaupt nicht aufstehen dürfen.« Daraufhin beugte sie sich vor, richtete den Blick auf Gracie und Freddie und setzte mit blitzenden Augen hinzu: »Habt ihr gehört, was ich gesagt habe? Er geht nirgendwo hin und wird auch keine Volksreden halten. Kapiert?«
»Betty, sei still! Du weißt nicht, worum es geht.«
»Ich weiß mehr, als du glaubst. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen und kann dir mit Sicherheit sagen: Deine beiden Freunde hier wundern sich gerade gründlich, was zum Teufel du mit so einer wie mir hier zu suchen hast. Und ich glaube auch nicht, daß deine Freundin dir abkauft, daß ich deine Schwester bin.«
»Bitte, halt jetzt endlich die Luft an.« Andrews Stimme klang erschöpft, und als er die erstaunten Gesichter der beiden bemerkte, sagte er: »Ihr werdet euch schon an sie gewöhnen. Sie meint es im Grunde ja gut. Ach, Freddie, dir habe ich es ja noch nicht gesagt: Sie ist meine Schwester, meine richtige Schwester; keine adoptierte diesmal. Sie ist vielleicht ein wenig sonderbar, wie ihr seht, aber ansonsten schwer in Ordnung«, fügte er lächelnd hinzu, während er Betty einen Klaps auf die Schulter gab.
Gracie und Freddie starrten Andrew nur wortlos an. Dies hier war nicht der Andrew, den sie kannten. Seine Stimme war die gleiche, doch die Art und Weise, wie er sprach, und welche Ausdrücke er verwendete, war ihnen völlig fremd. Und noch etwas kam beiden unabhängig voneinander in den Sinn, ein kurzer, klar formulierter Gedanke: Andrew schien sich hier zu Hause zu fühlen, so als habe er sein ganzes Leben mit Leuten vom Schlag dieses Mädchens verbracht. Und es war ganz offensichtlich, daß er sich zu dieser seiner Schwester hingezogen fühlte. Nun, wenn es eine Schwester gab, dachte Gracie weiter, dann gab es sicherlich auch eine Mutter und einen Vater. Sie mußten der Sache auf den Grund gehen.
»Schau«, sagte sie daher, »in unserem Haus ist genügend Platz, warum kommst du ...?«
Unvermittelt beugte Andrew sich vor und hielt sie am Handgelenk fest. »Ich habe einen Platz zum Wohnen und auch Leute, die sich um mich kümmern.«
»Gut, dann gehen wir eben zu dir.«
»Nein, das werdet ihr nicht. Nein, das geht nicht.«
»Warum nicht?« fuhr daraufhin das Mädchen dazwischen. »Warum denn nicht? Früher oder später werden sie dich ohnehin aufspüren.« Sie warf Freddie einen abschätzenden Blick zu. »Habe ich recht?«
»Nun ja, jetzt wollen wir ihn natürlich nicht mehr aus den Augen verlieren«, gab Freddie mit einem halben Lächeln zu. »Seine Familie, wir alle haben uns solche Sorgen um ihn gemacht, uns ständig gefragt, wo er wohl sein und wie es ihm wohl gehen mag.«
»Sie wußten, daß ich male. Das habe ich ihnen am Telefon gesagt«, warf Andrew ein. »Gut, meinetwegen könnt ihr auch mitkommen. Aber tut mir bitte den einen Gefallen. Erzählt Vater und Mutter nicht, wo ich wohne und was ich mache. Behaltet überhaupt bis auf weiteres für euch, daß ihr mich getroffen habt, ja?«
Freddie und Gracie sahen sich schweigend an, dann meinte Gracie leise: »Hast du vor, jemals nach Hause zurückzugehen?«
Andrew senkte den Blick. Die Antwort auf diese Frage fiel ihm nicht leicht. »Ich weiß nicht. Manchmal sehne ich mich nach dem Frieden dort, und dann wieder frage ich mich, wie ich diesen Frieden all die Jahre habe aushalten und den Drang unterdrücken können, diesen Hügeln und Bergen, dieser Ödnis und gleichzeitigen Schönheit zu entfliehen. Das Komische ist, daß mich die Schönheit dieser Landschaft nie berührt, nie zum Malen inspiriert hat.«
»Jetzt hör endlich mit dem Gequassel auf. Du mußt dich hinlegen; das hat auch der Doktor gesagt«, fiel ihm Betty ins Wort, und als sie ihm ihren Arm unter die Achsel schob, um ihm aufzuhelfen, wehrte er sich nicht dagegen.
Während sie gemeinsam den Warteraum verließen, drehte Andrew sich unvermittelt zu Gracie um und fragte erstaunt: »Willst du denn nicht bei deiner Mutter bleiben?«
»Das würde nichts bringen; der Doktor sagte, daß sie vor morgen früh bestimmt nicht aufwacht. Und dann sind wir wieder hier, und Vater auch ... hoffe ich.« Die beiden letzten Worte kamen sehr leise über ihre Lippen.
Das staubige Treppenhaus mit den ausgetretenen Stufen, die verschiedenen Gerüche, die ihnen auf ihrem Weg nach oben entgegenwehten, und schließlich der Anblick dieses merkwürdigen, schal riechenden Raumes mit seinen nicht weniger merkwürdigen Bewohnern verschlugen Gracie und Freddie beinahe den Atem. Zwei der Männer saßen am Tisch und aßen, ein anderer stand am Tischende und schnitt sich Brot ab, und ein vierter, bulliger, völlig eingestaubter Mann war gerade dabei, den Raum durch eine Tür an der gegenüberliegenden Seite zu verlassen. Doch alle hielten gleichzeitig in ihren Tätigkeiten inne, als die Gruppe den Raum betrat, und in ihren Augen stand dieselbe unausgesprochene Frage, die Betty in ihrer üblichen, schnoddrigen Art auch gleich beantwortete. »Glotzt nicht so blöde, die fressen kein rohes Fleisch«, schnappte sie.
Als Andrew auf den freien Stuhl am Tisch zuging, erhoben sich der Maler und der Geiger unverzüglich, und es war Mickey, der Gracie etwas verlegen seinen Stuhl hinschob, die sich daraufhin zögernd und mit einem kaum hörbaren »Vielen Dank« setzte.
Die Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn auf die Handflächen gestützt, nuschelte Andrew: »Also, Betty, schieß mit der Vorstellung los.«
»Ich weiß doch nichts von denen«, gab sie zurück.
Andrew warf Willie einen Blick zu, der sich jetzt zu ihnen gesellt hatte, und fragte ihn: »Hast du jemals erlebt, daß Betty sich keine Geschichte ausdenken kann? Also, das sind meine Adoptivcousine und mein Adoptivcousin. Ihr Vater und meine Adoptivmutter sind Halbgeschwister.«
»Ach, und wie hätte ich das riechen sollen?«
»Ja, da hast du recht, das ist nicht leicht zu erraten.«
Es war Willie, der sich jetzt einschaltete: »Wie auch immer, jeder Freund von Andrew ist uns hier willkommen. Ich bin Willie Grabelly. Dies ist mein Haus, meine Wohnung oder Apartment, wie auch immer man diese Bude bezeichnen will. Ich bin hier geboren.« Dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Nein, gehören tut es mir nicht, ich habe es nur gemietet. Aber da ich gern Gesellschaft habe und gern Leute herumkommandiere ...« Hier machte er eine Pause und lachte. »Das ist nämlich mein Job, ich bin Vorarbeiter auf dem Bau. Aber ich baue keine Häuser, ich reiße sie ein. Also, jedenfalls habe ich einen Teil der Wohnung an Freunde vermietet.« Er nickte Gracie und Freddie zu. »Deshalb kommt euch das Ganze hier wahrscheinlich auch so komisch vor, diese Schlafräume und so. Aber wir sind alle gute Freunde. Dieser Gentleman« – und er deutete mit der Hand auf Dill – »ist Mr. Morgan. Er ist, wie euer Cousin hier, ebenfalls Maler.« Er beugte sich jetzt zu Dill und sagte lachend: »Aber eine andere Sorte Maler. Er wütet nicht so mit Farben herum wie unser Andrew.« Dann wandte er sich an Mickey: »Ob ihr es glaubt oder nicht, dieser Herr hier ist Violinist, und ein ausgesprochen guter dazu, und wenn es nach mir ginge, würde er schon lange in Henry Halls Band die erste Geige spielen«, erklärte er, worauf Mickey verlegen zu Boden blickte.
Als nächstes deutete er auf den schmächtigen Mann. »Und das hier ist Mr. Winterbottom, Koch, Flaschenspüler, Hans Dampf in allen Gassen, und er wollte euch gerade fragen, ob er euch eine Tasse Tee anbieten darf? Nicht wahr, Win?«
James Winterbottom setzte ein breites Lächeln auf und wandte sich dann an Freddie: »Ja, darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, Sir?«
»Vielen Dank.« Freddie sah zu Gracie hinüber, die das Lächeln des schmächtigen Mannes erwiderte, und sagte: »Ja, bitte. Ich hätte gerne eine Tasse Tee.«
»Gut, das war das. Wäre jetzt einer der Herrschaften vielleicht so freundlich, unserem ehrenwerten Gast einen Stuhl aus der Küche zu holen?«
»Nein, das ist nicht nötig«, entgegnete Freddie lachend. »Ich bin es gewohnt zu stehen.«
Jetzt meldete sich Betty wieder zu Wort. »So, nachdem die offizielle Vorstellung beendet ist, siehst du besser zu, daß du in die Koje kommst«, sagte sie an Andrew gewandt, der sich mit einem »Sehr wohl, Schwester« und »Würdet ihr mich bitte entschuldigen?« erhob.
Während sein Blick auf Freddie und Gracie verweilte, mit denen er praktisch groß geworden war, überlegte er, wie es kam, daß sie ihm plötzlich wie Fremde erschienen. Und gleichzeitig versuchten die beiden, in ihrem Gegenüber den Andrew auszumachen, den sie bisher gekannt hatten, doch außer den Mulltupfern in seiner Nase erinnerte nichts, aber auch gar nichts an den Andrew von früher.
Win brachte einen Hocker aus der Küche, stellte ihn neben Freddie hin, und Willie meinte: »Kommt, setzt euch an den Tisch, da redet es sich besser. Die zwei sind ohnehin fertig mit dem Essen, und was mich betrifft, ich gehe mir den Staub abwaschen. Wartet nur, wenn ich zurückkomme, wird mich keiner mehr erkennen. Ich habe nämlich eine Schwester, die ist Schönheitskönigin.« Und als Betty mit todernster Miene erklärte, daß ihre Tante Bauchtänzerin sei, brachen alle in schallendes Gelächter aus.
Andrew, der sich mit beiden Händen auf dem Tisch aufstützte, drehte sich lachend zu Freddie um, und als er sah, daß sich dieser die Hand vor den sperrangelweit offenstehenden Mund hielt, kicherte er: »Siehst du jetzt, was ich meine? Das ist eine völlig andere Welt hier.« Und als dann das Lachen langsam verstummte, ging Andrew ohne Bettys Hilfe, die er sanft beiseite gedrängt hatte, in seine Schlafkammer.
Daraufhin trat eine Gesprächspause ein, die Gracie mit ihrer natürlichen Gabe, derartige Situationen zu überspielen, und der Frage an Mickey überbrückte: »Und wo spielen Sie Geige, Mr. Fenwick?«
»Ach, überall, wo Menschen meine Kunst zu schätzen wissen. Vor Theatern auf der Straße ...«
»Oh«, entfuhr es Gracie, dann lenkte sie rasch ein. »Ja, ich habe ein paar gute Musiker auf der Straße spielen hören. Raymond Cranbury zum Beispiel, den kennen Sie gewiß. Der hat auch auf der Straße angefangen ... und jetzt macht er gerade eine Tournee durch Amerika.«
»Ja, natürlich. Aber wissen Sie, Miß, heutzutage gibt es nicht mehr viele exzentrische alte Herren, die Straßenmusikanten auflesen und auf die Akademie schicken. Auf so einen warte ich schon mein ganzes Leben.«
»Du bist noch jung, du hast noch Chancen«, tröstete ihn Dill.
Mickey warf dem wortkargen Dill einen dankbaren Blick zu, wollte etwas erwidern, wurde jedoch von Freddie unterbrochen, der versuchte, mit Dill ins Gespräch zu kommen. »Und Sie malen?« fragte er ihn.
»Ja«, kam die knappe Antwort, verbunden mit der Gegenfrage: »Und was machen Sie?«
Mit einem Kopfschütteln, das entschuldigend wirkte, erwiderte Freddie: »Eigentlich nichts... ich meine, ich studiere in Oxford.«
Nach einer kurzen Pause erkundigte sich Dill: »Und welches Fach?«
»Mathematik.«
»Wollen Sie Lehrer werden?«
»Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht genau, was ich später einmal beruflich machen werde.«
Und gleich darauf richteten sich alle Blicke auf Betty, die am Tischende saß und sich mit den Worten in die Unterhaltung einmischte: »Ich kann es auch gut mit den Zahlen. Im Zusammenrechnen bin ich absolut Spitze. Hatte früher sogar vor, ins Büro zu gehen.« Und als sie mit den Schultern zuckte und kurz schwieg, sagte Dill: »Du meinst, du bist gut in Arithmetik; aber Mathematik besteht nicht nur aus Addieren, Betty«, worauf sie zurückgab: »Na ja, aber um Zahlen geht es doch, oder?«
»Nein.« Dill schüttelte den Kopf.
»Also, vielleicht erklärt mir einer der hier anwesenden Schlaumeier freundlicherweise, worum es sonst geht.«
Freddie wollte schon zu einer langatmigen Ausführung über die Grundlagen der Mathematik ansetzen, beschied sich dann aber mit der Bemerkung: »Wissen Sie, Betty, Mathematik hat sehr viel damit zu tun, gewisse Abläufe zu analysieren, ihnen auf den Grund zu gehen, Formeln zu finden.«
»Wenn Sie gerne analysieren«, gab sie schlagfertig zurück, »dann sind Sie hier genau richtig. Sehen Sie sich zum Beispiel diesen blendend aussehenden Filmstar an.« Sie nickte Richtung Tür, in der gerade Willie auftauchte und sich mit den Fingern durchs nasse Haar fuhr. »Übrigens, zieh nicht dauernd Andrews Hemden an, die kriegst du über der Brust sowieso nicht zu«, rief sie ihm entgegen.
»Kümmer dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten.«
»Mach ich ja. Ich bin schließlich für Andrews Wäsche zuständig.«
Und als ob Andrew das hitzige Wortgefecht mitverfolgt hätte, rief er jetzt aus seiner Kammer: »Gracie! Freddie! Kommt mal bitte.«
Sie erhoben sich hastig vom Tisch, und als sie sich hintereinander in den schmalen Gang zwischen der Holzpritsche und der improvisierten Trennwand gedrängt hatten, trauten sie ihren Augen kaum: Da lag Andrew, unter dem Kopf ein schmuddeliges Kissen und mit einer alten Wolldecke zugedeckt.
Als er ihre fassungslosen Gesichter sah, bedeutete Andrew ihnen mit einer Handbewegung, sich zu ihm herabzubeugen, und flüsterte dann: »Bitte, macht euch um mich keine Sorgen.« Dann wurde seine Stimme noch eine Spur leiser. »Ich kann euch nur sagen, ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so frei und glücklich gefühlt wie hier. Ich weiß, das ist ein seltsamer Ort, aber alles anständige Leute hier, die dazu sehr freundlich sind und alle irgendwie ums Überleben kämpfen. Ihr beide ... und auch ich, wir haben keine Ahnung von dieser Art Leben; aber ich bin dabei zu lernen. Es ist hart, primitiv und abscheulich bisweilen, aber hier herrscht eine Ehrlichkeit und Freundschaft, die mich fasziniert. Also, macht euch keine Gedanken über mich und... und haltet bitte euer Versprechen, der Familie gegenüber, was mich betrifft, Stillschweigen zu bewahren.«
»Willst du wirklich nie mehr zurückkommen?« wisperte Gracie jetzt mit kaum hörbarer Stimme, und Andrew flüsterte zurück: »Nein, leben werde ich nicht mehr mit ihnen, aber besuchen werde ich sie gewiß eines Tages.«
»Andrew, deine Eltern sind schon halb verrückt vor Sorge. Laß uns ihnen wenigstens erzählen, daß wir dich gesehen haben und daß es dir gutgeht«, gab Freddie zu bedenken.
»Nein. Nein. Die würden so lange bohren, bis sie wissen, wo ich bin. Zumindest Mutter. O ja, Mutter bestimmt.«
»Hast du wenigstens Geld?« kam es von Gracie, und er nickte ihr zu. »Ja, im Moment schon noch. Aber ich arbeite hart, und Dill hat mir angeboten, mich mit seinem Agenten bekannt zu machen, der zwar ein Halsabschneider sein muß, ihn aber zumindest am Leben erhält. Und, was noch viel wichtiger ist, von Dill habe ich in den letzten Monaten, was das Malen anbelangt, mehr gelernt als in den zwei Jahren in Edinburgh.« Er nahm ihre Hände und drückte sie: »Also, bleibt es dabei?«
Freddie und Gracie nickten. »Ja, es bleibt dabei«, sagte Freddie, »obwohl es mir gegen den Strich geht. Und noch etwas, können wir ab und zu einmal vorbeikommen und dich besuchen?«
»Aber natürlich, sooft ihr wollt. Ich gehe selten abends aus.« Andrews Blick schien ein wenig länger auf Gracie zu ruhen, als er hinzufügte: »Ja, das würde mich sehr freuen. Denn manchmal vermisse ich die alten Zeiten, das muß ich zugeben, besonders unter diesen Umständen.« Er deutete auf seine Nase. »Und Mutter hat immer so ein Getue darum gemacht. Aber sie ist ein guter Ersatz« – und er nickte in Richtung des halb geöffneten Vorhangs –, »Betty, meine ich. Ist sie nicht ein tolles Mädchen? Eine wunderbare Seele?« Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. »Sie organisiert mein Leben perfekt.«
»Und das aller anderen auch, wie mir scheint«, kicherte Freddie leise.
»Ja, da magst du recht haben.« Er lächelte versonnen und sagte dann: »Sie wird euch zum Taxistand bringen.«
»Ach, wir wollen ihr keine Umstände machen.«
»Vielleicht wollen euch aber andere Leute Umstände machen. Das hier ist eine wilde Gegend.«
Beide schüttelten sie wieder den Kopf, dann beugte sich Gracie zu Andrew hinunter, gab ihm einen Kuß auf die Wange und sagte: »Gute Nacht, mein Lieber. Ich schaue ab und zu mal vorbei.«
»Ja, mach das.«
Als ob sie alles mitgehört hätte, stand Betty bereits im Mantel in der Küche, hatte sich einen Schal um ihren Haarschopf gewickelt und empfing die beiden mit der Frage: »Na, seid ihr fertig?«
»Ja. Ja.«
Nachdem Gracie und Freddie sich reihum verabschiedet und versprochen hatten, bald wiederzukommen, verließen sie zu dritt das Haus. Draußen auf der dunklen Straße flüsterte Betty ihnen dann zu: »Wenn uns eine Gruppe von Leuten entgegenkommt, bleibt dicht zusammen. Und wenn sie stehenbleiben, überlaßt das Reden mir.«
»Aber gewiß doch, Boß«, entgegnete Freddie lachend, worauf Betty zurückschoß: »Spar dir deinen verdammten Spott, solange du nicht weißt, worüber du spottest!«
Freddie verkniff sich eine Antwort, und als sie nach wenigen Minuten unbehelligt die Hauptstraße erreichten, war es Freddie und Gracie, als beträten sie wieder zivilisierten Boden.
Es war Betty, die ein Taxi heranwinkte, und bevor die beiden noch zu einer Verabschiedung ansetzen konnten, erklärte sie: »Ihr werdet doch, was Andrew anbelangt, dichthalten, oder? Der Typ ist nämlich schwer in Ordnung, fängt gerade ein neues Leben an. Und außerdem ist er mein Bruder, mein richtiger Bruder, nicht mein adoptierter.«
»Du kannst dich auf uns verlassen«, sagte Freddie. »Und ... vielen Dank, daß du dich so nett um ihn kümmerst.«
»Ja, ich weiß, ich sollte eigentlich im Tierasyl arbeiten«, war ihre Antwort darauf.
Als das Taxi abgefahren war, blieb Betty noch eine Weile am Gehsteig stehen, dachte über die beiden nach und kam zu dem Schluß, daß sie ihn mehr mochte als sie. Sie war ein bißchen hochnäsig, fand sie, und hatte ganz offensichtlich ein Auge auf Andrew geworfen. Ja, sie brauchte nur an die Begegnung im Wartezimmer zu denken ... wie überkandidelt die sich da aufgeführt hatte, wie eine Filmdiva.