Kapitel 4

Als die Bewohner von Arthur Lynch’s Lodging House mit Betty und Delia die von hohen Schneewällen gesäumte Einfahrt entlangchauffiert wurden und schließlich vor High Gully hielten, das sich wie ein Märchenschloß vor ihnen erhob, blieb ihnen vor Erstaunen beinahe der Mund offenstehen. Und als sie später in die weihnachtlich dekorierte Halle gebeten wurden, in der sie die gemütliche Wärme eines prasselnden Kaminfeuers empfing, fanden sie keine Worte mehr.

Um der überschwänglichen Freude, mit der Janice, die Haushälterin und die drei Dienstmädchen Andrew begrüßten, wenigstens vorübergehend Einhalt zu gebieten, mußte Robert laut und deutlich dazwischenrufen: »Und was ist mit uns? Werden wir nicht willkommen geheißen?«

Nach einer Weile, als das Stimmengewirr ein wenig verebbt war, hörte man wieder Roberts tiefe Stimme: »Wir sind durchgefroren bis auf die Knochen und am Verhungern und Verdursten. Und wenn du, meine liebe Ginny, nicht in einer halben Stunde das Essen auf den Tisch gezaubert hast, bist du entlassen.«

»Sehr wohl, Mr. Robert. Sehr wohl. Dann gehe ich am besten gleich meine Koffer packen«, kam es daraufhin von Ginny, worauf alles schallend lachte. »Bring die heißen Getränke herein, Kathy«, bat Janice, bevor sie sich an ihre Gäste wandte, die ein wenig hilflos beieinanderstanden. »Bitte, fühlen Sie sich wie zu Hause. Und erwarten Sie nicht von mir oder irgend jemand anderem, daß er Sie verhätschelt; hier müssen Sie sich überwiegend um sich selbst kümmern.«

Sie bemerkten, daß die große, elegante Dame den Arm um Andrews Schultern gelegt hatte und Andrew seinen Arm um ihre Hüfte. »Mutter hat recht«, sagte Andrew jetzt. »In dieser Hütte ist jeder für sich selbst verantwortlich; wartet nur, heute abend werden euch die Beine weh tun, vom vielen Herumrennen, das kann ich euch jetzt schon versichern.«

An Gracie und Freddie gewandt, meinte Janice: »Um euch muß ich mich ja nicht kümmern, ihr wißt, wo eure Zimmer sind. Aber du, Freddie, du könntest mir einen Gefallen tun. Ich habe unsere Freunde – sie sagte nicht ›Andrews Freunde‹ – im Westflügel einquartiert. Sehr warm ist es dort zwar auch nicht, aber immerhin wärmer als in eurer Ecke. Jeweils ein Zimmer für zwei Personen. Also, sei bitte so nett und führe sie nach oben und laß sie die Zimmer ... Ach, da kommen ja Kathy und Lynn mit unseren Lebensrettern.«

Als alle einen Becher mit heißem Punsch in der Hand hielten, war es Dill, der sich freiwillig zum Sprecher der Gruppe ernannt hatte und jetzt das Wort ergriff: »Ich ... ich möchte Ihnen auch im Namen meiner Freunde sehr herzlich für Ihre Einladung danken, Ma’am. Wir freuen uns ... nein, das ist nicht der richtige Ausdruck dafür ... es ist uns allen ein großes Vergnügen, hier bei Ihnen zu sein.«

»Und wir freuen uns, daß Sie alle gekommen sind. Sie sind Dill, nicht wahr?«

»Ja, Ma’am, ich bin Dill. Und das hier sind Mickey, Win und Willie und Betty und Delia.«

Janice sah die beiden Mädchen lächelnd an. »Es wird wohl noch eine Weile vergehen, bis ich mir Ihre Namen gemerkt habe«, sagte sie freundlich und wandte sich dann an den jungen Mann, den sie als ihren Sohn betrachtete:

»Andrew, dir lasse ich jetzt gleich ein heißes Bad ein. Zehn Minuten, dann ist alles bereit. Und du, Gracie, du kommst mit mir!«

Andrew stieß einen tiefen Seufzer aus und sah dabei seine Freunde der Reihe nach an. »Wie um alles in der Welt konntest du nur dieses Haus verlassen?« murmelte Win und schüttelte dabei den Kopf.

»Das weiß ich auch nicht, Win. Ich weiß nur, daß ich froh bin, es getan zu haben, denn sonst hätte ich euren verrückten Haufen niemals kennengelernt. Eure Bekanntschaft zu machen, das war wirklich das Beste, was mir im Leben passieren konnte. Daß es eine solche Kameradschaft und Liebe gibt, das hätte ich mir nie träumen lassen.« Er beugte sich vor und nahm Bettys Hand. »Ich weiß jetzt, daß ich den Rest meines Lebens hier verbringen werde und dafür dankbar sein sollte. Ich bin auch dankbar, obwohl ich eines schon jetzt weiß: Ich werde euch alle schrecklich vermissen. Aber ich sage euch, und das werden euch auch Vater und Mutter sagen, daß ihr alle hier jederzeit herzlich willkommen seid. Dieses Haus ist auch euer Haus, und ihr könnt bleiben, solange ihr wollt, obgleich ich auch mit diesem Angebot die Freundlichkeit niemals wettmachen kann, mit der ihr mich aufgenommen habt.«

Jetzt meldete sich Freddie. »Wenn ihr alle aufgewärmt seid, dann laßt uns mal nach oben gehen. Aber seid gewarnt, es dauert bestimmt zwei Tage, bis ihr euch in diesen alten Gemäuern so einigermaßen auskennt. Also, los geht’s.«

Die breite Holztreppe mündete in eine Galerie, von der aus man die ganze Halle überblicken konnte. »Das ist sozusagen die Hauptetage«, erklärte Freddie im Tonfall eines Fremdenführers. »Mein Zimmer liegt an diesem Ende hier, Gracies gleich daneben. Andrew wohnt auf der gegenüberliegenden Seite, neben Onkel Roberts und Tante Janices Schlafzimmer. Soweit ist es noch kinderleicht. So, und jetzt weiter.« Er ging rechts die Galerie entlang und bog dann in einen Korridor ein. »Aufgepaßt, alle Mann! Hier sind drei Steinstufen, fallt nicht drüber! « rief er noch, aber zu spät. Willie war schon über die erste Stufe gestolpert, und auf sein unterdrücktes ›Verflucht!‹ hin meinte Freddie lachend: »Immer bei der Arbeit, Willie, was? Dieses Gebäude ist aber noch nicht zum Abbruch freigegeben.«

Ihr Weg führte sie an etlichen Türen vorbei, bevor der Korridor dann in eine kleinere Diele mündete: »Wie viele Zimmer gibt es hier eigentlich?« erkundigte Win sich verblüfft.

»Genau kann ich dir das auch nicht sagen. Diese alte Burg steht schon seit ewigen Zeiten, und jeder Bewohner hat seither ein Stück angebaut.«

Janice hatte drei Schlafzimmer für die Gäste herrichten lassen, die diese jetzt unter begeisterten ›Ohs‹, ›Ahs‹ und ›Mein Gott, hast du jemals so was gesehn?‹ besichtigten.

In den Zimmern brannte bereits ein Kaminfeuer, und am Fußende der beiden Einzelbetten stand jeweils ein Lehnstuhl, dessen Samtbezug farblich zu den Vorhängen und den Bettüberwürfen paßte. Die Kleiderschränke und Toilettentische aus dunklem Mahagoniholz waren so wuchtig, daß Willie ganz richtig bemerkte: »Allein der Schrank würde schon unsere halbe Wohnstube ausfüllen.«

Nachdem sie jeweils zu zweit ihre Zimmer bezogen hatten, schloß Delia mit einem tiefen Seufzer die Tür und meinte zu Betty: »Ist das nicht wie im Märchen? Und wie freundlich sie alle sind, so ganz normal... obwohl sie so reich sind. Und diese vielen Dienstboten, die überhaupt nicht wie solche behandelt werden. Nein, das ist wirklich nicht von dieser Welt, findest du nicht auch?«

Betty hatte sich in einen Polsterstuhl vor den Kamin gesetzt und hielt, obgleich ihr gar nicht kalt war, die Hände ans Feuer. Ja, es ist wie im Märchen, dachte sie bei sich. Und es ist richtig, daß alle hier so unglaublich freundlich sind. Aber das macht die Kluft zwischen Freddie und mir nur noch größer. Sie sind so freundlich, daß man im Grunde nicht genau weiß, was sie über einen denken. Aber das wird man ja sehen ...

Die Männer saßen zu sechst im Raucherzimmer. »Sind wir wirklich erst vierundzwanzig Stunden hier?« sinnierte Win laut vor sich hin. »Mir kommt es vor, als wären es schon Wochen und als kenne ich diese Leute hier seit ewigen Zeiten.« Und dann setzte er mit einem Lachen hinzu: »Die Köchin wird gar nicht damit fertig, in welchem Affenzahn ich die Teller wegspüle, und daß ich zudem auch noch kochen kann. Vorhin hat sie mich gefragt, ob ich hier arbeiten möchte. Und als ich sagte, daß mir das Spaß machen würde, meinte sie, wenn es nach ihr ginge, wäre ich schon engagiert. Und ich wette, ich bekomme den Job. Den Rest meines Lebens in diesem Haus zu arbeiten, ja, das wär’s! Andrew, dich frage ich jetzt noch einmal: Wie in drei Teufels Namen konntest du nur dieses Paradies verlassen?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Komisch, die Männer draußen, die kommen mir gar nicht wie richtige Arbeiter vor.«

»Vielleicht, weil du kein Wort von dem verstehst, was sie reden«, neckte ihn Willie.

»O doch«, beharrte Win. »Man gewöhnt sich ziemlich schnell an den Dialekt. Phil, der große Typ, Kilcullen heißt er, nicht wahr?« Er warf Andrew einen fragenden Blick zu, und dieser nickte bestätigend. »Ja, dieser Kilcullen, der beklagte sich, daß er mich nicht versteht. Ich rede wie alle englischen Ausländer, meinte er doch glatt.«

Während Andrew dem Geplauder seiner Freunde lauschte, verfolgte er das Schwingen des Pendels in der Kaminuhr, und als diese sieben schlug, meinte er unvermittelt: »Jetzt müßte gerade der Zug ankommen. Na, wenn es so weiterschneit wie bisher, wird die Herfahrt für die anderen die reinste Rutschpartie werden.«

»»Wart ihr schon einmal eingeschneit?« erkundigte sich Dill, und Andrew erwiderte: »Aber sicher. Wochenlang sogar.«

»Wirklich?« Wins Augen blitzten erwartungsfroh, worauf Freddie ihm grinsend beschied, daß er sich bloß keine falschen Hoffnungen machen solle.

»Schade, genau darauf hatte ich insgeheim gehofft. Etwas Besseres könnte uns doch nicht passieren«, meinte Win und fügte dann leise hinzu: »Aber Wunder geschehen immer wieder, wie mein Großvater zu sagen pflegte. Ich kann mich noch gut an ihn erinnern. Er hatte einen so dichten, langen weißen Bart, daß ich meine ganze Faust darin verstecken konnte. Und noch etwas hat er mir eingetrichtert: ›Gib nie die Hoffnung auf, mein Junge‹, hat er gesagt. ›Ob du im Sterben liegst oder im Gefängnis sitzt, die Hoffnung darfst du niemals aufgeben.‹« Und als er jetzt blinzelte, als erwache er aus einem Traum, und den Kopf sinken ließ, wurde den anderen plötzlich bewußt, daß dieser Mann, den sie schon so viele Jahre kannten, gerade zum ersten Mal von seiner Familie gesprochen hatte.

Um das angespannte Schweigen, das Wins Bemerkung folgte, aufzulockern, erkundigte sich Dill, was die Mädchen machten.

»Oh, Delia und Gracie traf ich eben auf dem Weg ins Kinderzimmer, wahrscheinlich wollen sie mit Nanny ein Schwätzchen halten«, sagte Andrew. »Und Betty sah ich mit Mutter in deren privaten Ruheraum verschwinden. Dort anzuklopfen könnt ihr euch sparen; man wird euch nicht einlassen, außer ihr seid ausdrücklich dorthin beordert worden. Und das geschieht nur dann, wenn man eine Gardinenpredigt zu erwarten hat. So war es wenigstens früher.« Er lachte kurz auf, um im nächsten Moment zu fluchen: »Verdammt und zugenäht!« Und als Freddie ihm ein Taschentuch reichte, meinte er: »Hol bloß nicht meine Mutter. Es sind nur ein paar Tropfen; nicht der Rede wert. Aber trotzdem ist es besser, wenn ich jetzt auf mein Zimmer gehe, nur für den Fall, Mutter platzt hier doch unversehens herein.«

»Ich komme mit«, erbot sich Freddie und stand mit Andrew auf.

»Ich begreife nicht, wie er das aushält«, wunderte sich Willie, nachdem die beiden gegangen waren. »Mich würde dieses ewige Nasenbluten zum Wahnsinn treiben. Und es laugt ihn auch ganz schön aus, kann ich mir vorstellen.«

»Ja, das haben wir doch alle miterlebt«, fiel Dill ein. »Und Willie, nichts gegen deine Wohnung, aber rückblickend wundere ich mich wirklich, wie er es in diesem Schlafkabäuschen ausgehalten hat.«

»Ja, genau das habe ich mich auch oft gefragt«, pflichtete ihm Willie heftig nickend bei.

»Sagt mal«, meinte Win und gab dem Gespräch eine ganz andere Richtung. »Ist euch auch aufgefallen, daß Betty irgendwie ganz anders ist als sonst? Ich weiß gar nicht, ob sie sich hier wohl fühlt oder nicht. Sie ist für ihre Verhältnisse so merkwürdig still.«

»Betty ist viel tiefgründiger, als wir alle glauben«, kam es leise von Dill. »Sie weiß, daß Großzügigkeit diesen Leuten hier nicht weh tut, aber sie läßt sich eben nicht gerne etwas schenken, nicht Betty.«

Etwa zur gleichen Zeit öffnete Janice die Tür zu ihrem Zimmer und bat Betty herein. »Ah, tut das gut, einmal ein paar Minuten zu verschnaufen. Das hier ist sozusagen mein stilles Kämmerlein, und nur im Falle einer mittleren Katastrophe darf jemand es wagen, mich hier zu stören.« Sie schenkte Betty ein liebenswürdiges Lächeln und meinte noch: »Und die passieren hier leider ziemlich oft. Aber bitte setzen Sie sich, meine Liebe.«

Janice selbst nahm in einem Polstersessel Platz, lehnte sich entspannt zurück und atmete tief durch, bevor sie im leichten Plauderton begann: »Seltsam, dieser Raum. Nicht das leiseste Geräusch dringt hier von außen herein, obwohl die Mauern nicht dicker sind als die übrigen im Haus. Soviel ich weiß, war dieses Zimmer früher einmal die Privatdomäne von Roberts Großmutter. Hier hat sie sich von der Londoner Ballsaison erholt, als es eine solche noch gab.«

Als Betty darauf nichts erwiderte, fuhr Janice fort: »Ich habe viel von Ihnen gehört, Betty, aber anscheinend war das alles übertrieben oder einfach nicht wahr.«

Janice lachte hellauf, doch als sie sah, wie Bettys Blick sich verdüsterte, erklärte sie rasch: »Andrew hat uns immer wieder vorgeschwärmt, wie ungeheuer lustig und unterhaltsam Sie seien, eine richtige Ulknudel ist diese Betty, hat er gesagt, und dabei so außerordentlich liebenswürdig und zuvorkommend. Was die beiden letzten Attribute betrifft«, erklärte sie lächelnd, »so kann ich ihm da nur beipflichten. Aber darf ich Sie fragen, warum wir bis jetzt noch nichts von Ihrer Ausgelassenheit haben spüren dürfen?«

»Weil ich mich hier fehl am Platze fühle.«

Janice brauchte einige Sekunden, um diese aufrichtige, unverblümte Antwort zu verdauen. »Die anderen aber nicht«, entgegnete sie dann.

»Ich bin nicht die anderen, Ma’am, und langsam gehen mir die Augen auf. Sie wissen ja, daß Freddie mich heiraten möchte. Und ich war beinahe soweit zuzustimmen, weil er einfach nicht lockergelassen hat. Aber jetzt, da ich hier bin und das alles so sehe, Ihre Art zu leben...«

»Aber meine liebe Betty, wir sind doch ganz normale Leute.«

»Ja, Sie geben sich so, und das ist sehr nett von Ihnen. Ja, nett ist der richtige Ausdruck. Sie sind wirklich unheimlich nett zu uns, aber insgeheim fragen Sie sich doch alle, warum er sich ausgerechnet so eine wie mich ausgesucht hat, stimmt’s?«

Janice rutschte an die Sesselkante vor und beugte sich näher zu Betty hin. »Wissen Sie, was ich jetzt am liebsten tun würde?« Sie ließ ihren Blick eine Weile auf Betty ruhen, ehe sie fortfuhr: »Sie schütteln. Diesen verfluchten Snobismus aus Ihnen herausschütteln.«

»Was? Ich und snobistisch?«

»Ja, ganz recht, meine Liebe, das sind Sie. Und lassen Sie mich Ihnen versichern, daß in Ihrer Gesellschaftsschicht genauso viel Snobismus existiert wie in der Schicht, in der Sie sich gerade zu befinden glauben. Wissen Sie, ich habe nicht immer hier gelebt. Ich habe früher im East End in einem Hospital gearbeitet und mich jahrelang von meinen Stationsschwestern herumkommandieren lassen müssen. Und glauben Sie mir, es gibt nichts Schlimmeres als eine diensteifrige Oberschwester. Aber abgesehen davon habe ich viele East Ender persönlich kennengelernt. Mein Vater war Arzt und hatte viele Jahre lang eine Klinik im East End. Damals habe ich entdeckt, daß diese Leute in Clans zu leben pflegten und mitunter stolzer auf ihre Familie oder ihren Clan waren, als es die Schotten hier oben jemals sein können. Hier oben wurde nämlich das wahre Clanleben praktiziert. Man braucht nur in den Geschichtsbüchern nachzuschlagen, dann weiß man, wie viele Morde hier von den verschiedenen Clans begangen wurden. Meiner Meinung nach ist auch der Clan eine Form von Snobismus. Ja, das kann man so sagen, denke ich.« Sie nicke mehrmals mit dem Kopf und meinte dann: »Gut, ich befinde mich nicht in Ihrer Lage, doch ich kann Sie verstehen, wenn Sie das Gefühl haben, sich auf der anderen Seite des Ufers zu befinden. Aber Sie haben jemanden gefunden, der Sie von ganzem Herzen liebt und entschlossen ist, Sie zu heiraten. Jetzt liegt es an Ihnen. Wenn Sie ihn aus falschem Stolz abweisen...«

»Nein, Ma’am, was Sie ansprechen, ist kein falscher Stolz, sondern die schlichte Gewißheit, daß ich seinem Lebensstandard nicht gewachsen bin. Und seit ich hier bin, hat sich diese Gewißheit nur noch verstärkt. Würde ich ihn heiraten, müßte ich mich ändern, und ich habe Leute immer verabscheut, die etwas vorgetäuscht haben, was sie nicht waren. Ich weiß, daß ich meine innere Einstellung nicht ändern kann und immer Theater spielen müßte.«

Janice setzte eine ernste Miene auf, als sie Betty jetzt erklärte: »Was glauben Sie, Betty, habe ich die letzten zwanzig Jahre getan? Genau das: Theater gespielt, den Schein gewahrt, so getan als ob. Wie gesagt, mein Vater war Arzt, und ich bin in der sogenannten Mittelschicht großgeworden, genauer gesagt, im unteren Drittel der Mittelschicht. Und obwohl ich die Chance gehabt hatte, in meinem Beruf als Krankenschwester die Position einer Oberin einzunehmen, habe ich mich genau wie Sie davor gefürchtet, in eine andere Schicht aufzusteigen.« Janice beugte sich jetzt vor und griff nach Bettys Hand. »Begehen Sie nicht denselben Fehler, den mein Mann und ich gemacht haben, indem wir uns trennten. Siebzehn lange Jahre haben wir uns nicht gesehen. Wir hatten einen Grund dazu, einen familiären Grund. Wir waren zu eng miteinander verwandt.« Sie ließ die letzten Worte ein paar Sekunden im Raum stehen. »Wir sind nämlich Halbgeschwister«, fuhr sie dann fort. »Ja, sehen Sie mich ruhig mit großen Augen an, meine Liebe. Mein Gott, wie ich diese siebzehn leeren, freudlosen Jahre bedauert habe, bis uns endlich klar wurde, wie lächerlich unsere Entscheidung damals gewesen war. Wir haben nur dieses eine Leben, und das muß einem wirklich ganz bewußt sein. Gut, wir beide wissen nichts voneinander, aber ich gebe Ihnen den guten Rat, bleiben Sie, wer Sie sind. Obwohl es manchmal Situationen gibt, wo man ein bißchen Theater spielen muß. Mein Gatte ist ein sehr hohes Tier, besonders im Ausland, und manchmal muß ich eben die Grande Dame spielen, und das tue ich. Aber diese Grande Dame, die bin ich nicht, das ist nur eine Fassade. Im Grunde meines Herzens bin ich die kleine Schwesternschülerin geblieben, die sich vor der Oberin beinahe in die Hosen gemacht hat.«

Die beiden Frauen sahen sich offen und unverwandt in die Augen und lächelten dann. »Machen Sie von nun an aus allem ein Spiel, meine Liebe, und bewahren Sie Ihr wahres Ich für Freddie, denn dieses Ich war es, in das er sich verliebt hat. Er hat sehr offen mit mir über Sie gesprochen, und abgesehen davon, daß er Sie liebt, bewundert er Ihre Aufrichtigkeit und Ihre anderen Qualitäten sehr. Und was mich betrifft, so stehe ich tief in Ihrer Schuld, Betty, denn Andrew hat mir zu verstehen gegeben, daß er ohne Sie nicht weit gekommen wäre. Er weiß, wenn Sie ihn damals nach der Schlägerei mit Ihrem Vater nicht rechtzeitig aus Ihrem Haus gebracht hätten, so hätte ihn dieser wahrscheinlich krankenhausreif geschlagen, und er wäre einen oder zwei Tage später wieder hier oben gelandet. Ich war schrecklich bestürzt, als Andrew uns verließ, aber heute weiß ich, daß das das Beste für ihn war. Sie haben ihm das Gefühl der Zugehörigkeit gegeben, das er in diesem Haus leider nie so hat erfahren können. Jetzt geht es ihm viel besser. Er hat das Leben von einer ganz anderen Seite erfahren und wunderbare Menschen kennengelernt. So, meine Liebe, genug der langen Reden. Seien Sie von jetzt an Sie selbst.« Sie nickte Betty lächelnd zu. »Ich möchte Sie gerne so erleben, wie Andrew Sie mir beschrieben hat. Und ich gebe Ihnen den guten Rat: Heiraten Sie Freddie. Aber gleichzeitig möchte ich Sie vor zwei Menschen warnen, vor denen Sie sich in acht nehmen sollten: Freddies Mutter, die, wie Sie sicher wissen, eine Trinkerin ist; und seine Schwester Jessie. Apropos Snobismus...« Janice rümpfte die Nase und machte eine abfällige Kopfbewegung. »Sie ist auch Krankenschwester geworden wie ich damals. Aber ganz unter uns, meine Liebe« – sie senkte jetzt ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüstern –, »Jessie ist genau das, was man gemeinhin als Kriecherin bezeichnet. Und ich kann nur sagen, Gott stehe den armen Schwestern bei, wenn Jessie jemals Oberschwester oder Oberin wird. Ach, es ist schon komisch, daß man manche Menschen vom ersten Augenblick an nicht leiden kann. Aber sie ist meine Nichte und wirklich die einzige aus Jasons Familie, mit der ich nicht zurechtkomme. Vielleicht deshalb ... weil sie zu sehr ihrer Mutter und ihrer Großmutter ähnelt.«

Janice wollte eigentlich noch etwas hinzusetzen, als das dumpfe Dröhnen des Gongs durchs Haus schallte. »Aha, es ist soweit! Der Gong bedeutet aber nicht, daß es in einer halben Stunde etwas zu essen gibt. Er sagt nur, daß die Köchin den Braten aus dem Rohr geholt hat«, erklärte sie lachend, während sie sich erhob. »Und falls das Ergebnis der Inspektion zu ihrer Zufriedenheit ausfällt, können wir tatsächlich bald essen. Wenn nicht, müssen wir noch etwas länger warten. Kommen Sie, meine Liebe.« Janice legte Betty die Hand auf die Schulter, und diese blickte zu der großen, grauhaarigen Frau hoch, in der sie jetzt nicht mehr die Grande Dame sah, sondern eine weise und mütterliche Frau, und sagte: »Als Sie mich hier in dieses Zimmer führten, wußte ich nicht, wer ich war oder was ich tun sollte. Aber jetzt beim Hinausgehen weiß ich plötzlich, daß ich immer die Betty bleiben werde, komme, was immer wolle.« Sie räusperte sich kurz und flüsterte dann: »Danke, Ma’am.«

Janice überging Bettys Dank und meinte nur: »Kommen Sie mit, ich muß einen Blick ins Kinderzimmer werfen und in die Küche. Anschließend ziehe ich mich um, und dann ist die halbe Stunde ohnehin vorbei.«

»Kann ich Ihnen irgend etwas helfen?«

»Ja, das können Sie.« Sie standen jetzt im Korridor. Janice gab Betty einen kleinen Klaps auf die Schulter und meinte: »Gehen Sie zu Ihren Freunden, und sagen Sie ihnen, daß Sie wieder die alte Betty sind.«

»Oh, oh!« machte Betty. »Wenn ich ihnen das sage, packen sie mich auf der Stelle ein und schleppen mich nach Hause, damit ich ihnen eine Vorstellung liefere.«

Es war spät am Weihnachtsabend, und die Party war in vollem Gange, die gleichzeitig auch eine Abschiedsparty für Kathy Ferguson, das Küchenmädchen, war, das am nächsten Morgen mit ihrem zukünftigen Ehemann, Billy McKenna, nach Glasgow fahren wollte, um dort zu heiraten und sich anschließend nach Amerika einzuschiffen.

Man hatte die Möbel aus der Halle und dem Salon zur Seite geschoben, um den Tänzern mehr Platz zu schaffen, und die Musikanten mit ihren Flöten und Fiedeln spielten schon den ganzen Abend ohne Unterlaß. Mickey hatte erst nach eindringlichem Bitten und wiederholter Aufforderung seine Geige zur Hand genommen, und seine musikalische Darbietung hatte Robert und Jason derart beeindruckt, daß sie beide spontan beschlossen, etwas für diesen begabten jungen Mann zu tun.

Und auch Maggie hatte sich als angenehme Überraschung erwiesen. Ihr Beitrag zur Unterhaltung der Gäste bestand darin, einige gekonnte Imitationen von berühmten Filmschauspielerinnen zum Besten zu geben, die mit großem Applaus quittiert wurden; doch als sie dann mit viel Witz den schottischen Dialekt auf die Schippe nahm, bebte das ganze Haus vor schallendem Gelächter. Und es entging auch niemandem, daß Steven, wie schon seit einiger Zeit, auch an diesem Abend wieder Miß Fanny Laidlaw, dem Kindermädchen, seine besondere Aufmerksamkeit schenkte.

Und als Delia mit samtweicher Altstimme, die selbst ihren stürmischen Geliebten und Beschützer überraschte, einige Lieder vorgetragen hatte, konnte man wohl in ganz Schottland keine fröhlichere und ausgelassenere Festrunde finden. Und dann klingelte das Telefon. Es hatte mehrere Male geläutet, bevor ein vorbeieilendes Dienstmädchen den Hörer abnahm und in die Sprechmuschel brüllte: »Wer spricht da? Was sagten Sie... Dr. Nelson? Oh, Mr. Jasons Schwiegervater. Ja. Ja, ich hole ihn sofort. Verzeihung, aber ich kann Sie bei diesem Krach hier kaum verstehen.«

Sie legte den Hörer neben den Apparat und rannte kopfschüttelnd in den Salon. Es dauerte eine Weile, bis sie Jason unter den vielen Tänzern ausgemacht hatte, der Betty um die Hüften gefaßt hatte und sie im Kreis herumwirbelte. »Mr. Jason... Mr. Jason, Sie werden am Telefon verlangt«, rief Lorna ihm zu. »Von Ihrem Schwiegervater.«

»Was sagten Sie, Lorna?« rief Jason zurück und hielt sich die Hand ans Ohr.

»Telefon, Sir. Ihr Schwiegervater möchte Sie sprechen.«

»Oh«, machte Jason, streckte die Hände aus und hielt Betty an den Schultern fest. »Setzen Sie sich hin, ich werde meine Wette schon gewinnen und Sie in Grund und Boden tanzen.«

In der Halle meinte Lorna, er solle besser den Apparat im Studierzimmer des Herrn benutzen, da es dort ein wenig ruhiger sei.

»Ja, danke, Lorna«, entgegnete er und eilte den Korridor entlang in Roberts Zimmer. Und als er die schwere Holztür hinter sich geschlossen hatte, die die Musik und das Gelächter nur noch als leises Murmeln in den Raum dringen ließ, lehnte er sich einen Augenblick mit dem Rücken dagegen und lächelte in sich hinein. Diese letzten Tage waren die fröhlichsten und unbeschwertesten gewesen, die er seit langem erlebt hatte. Es war ein wunderschönes Weihnachten gewesen, und es war ihm gelungen, alle Probleme in den Hintergrund zu drängen und den Aufenthalt hier in vollen Zügen zu genießen.

Leise aufseufzend setzte er sich in den Ledersessel vor dem Schreibtisch und nahm den Hörer auf. »Ja, bitte?«

»Bist du das, Jason?«

»Ja, Schwiegervater. Tut mir leid, daß es etwas gedauert hat, aber hier geht es hoch her. Wir sind am Feiern ... Was sagtest du?«.

»Ich sagte, hör mir bitte zu.«

Unwillkürlich verschwand das Lächeln aus Jasons Gesicht. »Ich höre.«

Es folgte ein Räuspern und dann: »Sie ist tot!« Jason sagte lange nichts. »Was?« fragte er dann leise. »Ich sagte, Rose ist tot.«

Er rief nicht ›Nein! O nein!‹ und verdrängte das ›Gott sei Dank!‹, das sich ihm innerlich aus tiefster Seele entrang, sondern erkundigte sich nur ganz schlicht: »Was ist passiert?«

»Das übliche. Sie hat es ja oft genug angedroht.«

»Und wann ist es passiert?«

»Ich weiß es nicht genau. Sie war schon etliche Stunden tot, als ich sie fand, und das auch nur, weil Mrs. Morton zu mir kam und sagte, sie komme nicht zur Hintertür hinein. Sie hatte über die Feiertage frei und war nur täglich eine Stunde zum Aufräumen gekommen. Rose hatte ihr morgens immer die Hintertür aufgesperrt. Die beiden Nächte zuvor hatte Mrs. Morton im Haus geschlafen, doch letzte Nacht, sagte sie, sei sie nach Hause gegangen, weil mit Rose alles in Ordnung zu sein schien. Das Komische daran ist, Jason, daß Rose in letzter Zeit fast nichts getrunken hat. Gut, es gab einige Ausrutscher, doch die waren nicht tragisch. Und da ist noch etwas, was ich dir sagen muß. Ich fand auf der Kommode in der Halle drei Briefe. Sie waren an verschiedene Zeitungen adressiert. Und ich weiß nicht, ob sie schon vorher an andere Zeitungen geschrieben hat.«

»O mein Gott!«

»Ja, genau das gleiche habe ich auch gedacht, als ich einen der Briefe aufgemacht habe. Es war ein sehr langer und sehr aufschlußreicher Brief. Jedenfalls, du brauchst dich nicht zu beeilen; es gibt nichts, was du hier tun könntest. Ihr Hausarzt war bereits da, hat den Totenschein ausgestellt und die Überführung in die Leichenhalle veranlaßt.«

»Es tut mir leid. Wirklich.«

»Laß nur, Jason. Ich verstehe schon. Es muß dir nicht allzusehr leid tun. Ich habe auch solche Jahre durchgemacht, wie du weißt. Du bist ja nicht blind gewesen. Die beiden waren schon ein Paar, Mutter und Tochter; eifersüchtig und besitzergreifend bis zum Gehtnichtmehr. Trinken ist eine Krankheit. Aber ich glaube, der Drang, einen anderen Menschen mit Haut und Haar besitzen zu müssen, ist noch viel schlimmer, da er oft die Sucht nach einem Ersatzobjekt auslöst. Aber wie gesagt, überstürze nichts; es reicht, wenn du zur Beisetzung hier bist. Und was diese Briefe anbelangt, die werde ich einstweilen an mich nehmen. Der Inhalt der beiden anderen entspricht sicherlich dem des ersten, und ich muß sagen, was ich da über Janice und Robert las, hat mich einigermaßen schockiert. Doch ich hatte ohnehin schon immer so meine Zweifel. Aber darüber unterhalten wir uns später einmal.«

»Wann wird die Beerdigung sein?«

»In vier Tagen, habe ich mir gedacht.«

»Gut, ich fahre morgen zurück, falls ich durchkomme. Es schneit hier Tag und Nacht.«

»Wie gesagt, überstürze nichts. Aber du wirst es den Kindern sagen müssen. Das Beste wird sein, sie fahren gleich mit dir zurück.«

»Selbstverständlich.«

Die nächsten Worte kamen ganz langsam: »Ja, so ist das Leben. Aber es gibt nichts so Endgültiges wie den Tod, und der relativiert so manche Dinge.«

Dann war die Leitung tot. Jason legte den Hörer auf, ließ den Kopf in die Hände sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihm Roses Tod nahezu gleichgültig war. Ja, allem Anschein nach hatte sie es darauf angelegt, ein Desaster zu hinterlassen. Aufgrund seiner internationalen Geschäftsverbindungen war Roberts Name im Augenblick in aller Munde. Und sie wußte genau, daß dies der günstigste Zeitpunkt war, um mit diesen Briefen an die Zeitungen seine Projekte wie Seifenblasen platzen zu lassen.

Seinem Schwiegervater hatte man damals erklärt, daß die Verlobung von Janice und Robert wegen gewisser Einwände seitens Roberts Großvater gelöst worden war. Jetzt hatte er eine ganz andere Version gelesen und war mit Recht verwirrt. Aber er war Arzt und ein sehr verständnisvoller Mensch.

Doch was war mit den Zeitungen?

Jason stand auf, ging zur Tür, und als er diese öffnete, schlug ihm der Lärm der Feiernden wie ein Orkan entgegen. Robert und Janice muß ich es wohl jetzt gleich sagen, dachte er, den anderen erst morgen. Diesen wunderbaren Abend darf man den jungen Leute nicht verderben. Da war Freddie, in Liebe erglüht für sein kleines Cockney-Mädchen; da waren Andrew und Gracie, die jeder für sich darauf warteten, daß der andere es aussprach; und da war Steven, sein aufrechter, nüchterner Ältester, der dem Kindermädchen Fanny Laidlaw gerade so rührend den Hof machte. Nein, Roses Abgang durfte ihnen nicht diesen Abend verderben. Sie durfte seinen Kindern überhaupt nicht mehr das Leben verderben und das seine auch nicht.

Er war jetzt frei, konnte Maggie endlich heiraten, und das würde er auch so schnell wie möglich tun. O ja, er war kein Heuchler. Aber da waren immer noch Janice und Robert, deren Leben durch die Rache einer frustrierten Frau in ernste Gefahr geraten konnte. Rose war niemals glücklich gewesen. Selbst in den ersten Monaten ihrer Ehe nicht. Ja, sie habe zu lange auf ihn warten müssen, hatte sie ihm einmal vorgehalten, zu lange, weil es für alles einen richtigen Zeitpunkt gebe.