Alice begrüßte ihn an der Haustür; die Verbindungstür zwischen den beiden Häusern war auf Emilys Anordnung hin schon vor vielen Jahren geschlossen worden, gleich nach Steves Tod.
»Sie haben es also überstanden?«
»Ja, Alice, ich habe es überstanden.«
»Schrecklich, schrecklich. Eigentlich hätte immer jemand bei ihr sein müssen.«
»Eine Schwester oder Pflegerin, meinst du?«
»Nein, Master Jason«, zischte sie jetzt. »Ein Ehemann, wenn Sie mir die Freiheit erlauben, das zu sagen.«
»Nun, du hast dir im Laufe der Jahre schon zu viele Freiheiten herausgenommen, und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du von nun an deine Meinungen für dich behalten würdest.«
Alice wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Ich werde zur gegebenen Zeit daran denken, Master Jason, jawohl ... Ihre Mutter erwartet Sie.«
»Oben oder unten?« erkundigte er sich steif.
»Unten.«
»Danke.«
Ein Gefühl von Traurigkeit begleitete ihn, als er das Wohnzimmer betrat, denn dies war das erste Mal gewesen, daß er mit Alice die Klingen gekreuzt hatte. Sie hatte immer zur Familie gehört, war seit Anbeginn Mutters Zofe und Freundin gewesen und hatte immer wieder einmal diese Vertrauensstellung ausgenutzt, um offen ihre Meinung zu sagen. Aber jetzt war eben der falsche Zeitpunkt dafür gewesen.
Seine Mutter, die in ihrem gewohnten Stuhl vor dem brennenden Kamin saß, drehte sich zu ihm um und überspielte den Grund seines Besuches auf ihre charakteristische Weise, indem sie wie nebenbei bemerkte: »Es muß schrecklich kalt sein draußen. Ich finde immer, Graupelschauer ist schlimmer als Schnee. Möchtest du etwas trinken?«
»Ja, gerne, Mutter. Aber keinen Tee.«
»Oh. Etwas anderes habe ich nicht da.« Sie schüttelte vielsagend ihren Kopf. »Harte Getränke mußt du dir aus dem Eßzimmer holen.«
»Das eilt nicht«, erwiderte er, zog sich einen Stuhl ans Feuer und rieb sich die Hände. Emily beobachtete ihn eine Weile, ehe sie das eigentliche Gespräch begann: »Wir sind alle sehr erschüttert.«
»Wir sind nicht alle sehr erschüttert.« Er drehte sich ruckartig zu ihr um. »Nein, das sind wir nicht, Mutter. Du weißt ebensogut wie ich, daß sie sich mit ihrer Trinkerei ganz bewußt zugrunde gerichtet hat.«
»Du hättest bei ihr bleiben müssen.«
»Ich bin jahrelang bei ihr geblieben, Mutter, und habe ihre Wutanfälle, ihre Zänkereien und ihre schmutzigen Reden ertragen. Ja, was Schimpfwörter und Flüche anbelangt, konnte Rose es mit jedem dahergelaufenen Straßenbengel aufnehmen.«
»Das ... das kann ich nicht glauben.«
»Weil du es nicht glauben willst.«
»Jedenfalls, sie war deine Frau, und du hattest ihr gegenüber eine Verpflichtung, und ich finde, es war falsch -«
Jetzt fuhr Jason aus seinem Sessel hoch und funkelte seine Mutter mit blitzenden Augen an. »Ich sage dir jetzt etwas, was ich vielleicht bedauern werde, aber ich muß es sagen. Du bist die letzte Person, die sich anmaßen sollte, über richtig oder falsch zu entscheiden, denn alles, was hier geschehen ist, begann ursprünglich mit deiner Liebesaffäre, aus der Janice und ich hervorgegangen sind, und später deinem rücksichtslosen Bestreben, mich in diese Ehe mit Rose zu treiben, die ich jahrelang hinauszuzögern versucht habe, wie du sehr wohl weißt. Und auch dein angeblicher Schock, als Janice Robert heiratete, hat mit zu der Entwicklung der Dinge beigetragen. Aber es war weniger dieser Schock, der dir verbot, sie zu besuchen, als die Tatsache, daß Vater Janice liebte und sie ohne dein Wissen besuchte, sooft es ihm möglich war. Irgendwann bist du dahintergekommen, oder die liebe Alice hat es für dich ausspioniert. Und du konntest den Gedanken nicht ertragen, daß irgend jemand dir deinen Platz in Steves Herzen streitig machte. Im Grunde deines Herzens bist du genau wie Rose und ihre Mutter. Menschenfresser seid ihr. Dir tut Rose leid, nicht wahr? Das hast du gesagt. Gut, dann werde ich dir jetzt etwas erzählen. Wenn ihr Vater nicht einen der Briefe geöffnet hätte, die Rose an verschiedene Zeitungen hatte schicken wollen, könntest du deinen Namen jetzt fettgedruckt in den Schlagzeilen aller großen Zeitungen des Landes lesen. Und der Artikel hätte in allen Einzelheiten deine Affäre als Geliebte eines wohlbekannten Geschäftsmannes breitgetreten, die von der ersten Geliebten dieses Mannes verprügelt, von diesem dann vergewaltigt wurde und anschließend Zwillinge zur Welt brachte, et cetera, et cetera ... Sie hat nichts ausgelassen, die gute Rose. Im Grunde tut es mir leid, daß mein Schwiegervater diese Briefe gefunden hat, doch andererseits bin ich froh, denn sie hatte damit nur bezweckt, Janice und Robert vor aller Welt bloßzustellen. Also, erzähl mir nicht, ich hätte etwas Schlechtes getan. Während du hier in all deiner stillen Pracht sitzt, die Welt um dich herum aussperrst und nur noch in der Vergangenheit lebst, könntest du einmal über meine Worte nachdenken. Du hast das alles in Gang gesetzt. Janice sagte mir, daß du früher gerne einen Hut für dein Schicksal verantwortlich gemacht hast, weil dieser angeblich erst die Aufmerksamkeit gewisser Leute auf dich lenkte.«
Als Jason sah, wie seine Mutter sich mit einem verzweifelten Seufzer an den Hals griff, drehte er sich rasch von ihr weg. O Gott! Er hatte das alles gar nicht sagen wollen.
Als er hörte, wie sie an dem Klingelstrang zog, wandte er sich ihr wieder zu. Ihre Miene war absolut teilnahmslos. Und als Alice kurz darauf in der Tür erschien, bat sie diese mit ruhiger Stimme: »Bring uns bitte die Whisky-Karaffe, Alice, und zwei Gläser.«
Es verstrichen einige Minuten, ehe Emily das Gespräch wiederaufnahm. »Das hast du mir schon seit langem sagen wollen, Jason, nicht wahr? Und glaube mir, seit damals ist nicht ein Tag vergangen, an dem ich nicht selbst darüber nachgedacht habe. Aber dennoch bleibe ich dabei, daß du Rose nicht hättest verlassen dürfen, ganz gleich, welche Fehler sie gehabt haben mochte, denn sie hat dich geliebt.«
»Rose hat mich nie geliebt, Mutter. Sie wollte mich nur besitzen, wollte jemanden, der ihr gehörte, der sich ausschließlich mit ihr befaßte und ansonsten mit niemand anderem, schon gar nicht mit einer anderen Frau. Denk doch nur an all die Hausmädchen, die sie entlassen hat, sobald sie merkte, daß wir ein paar Worte miteinander wechselten. Die flogen augenblicklich raus. Und das ging so lange, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe.«
Als sie darauf nur kühl erwiderte: »Dein Vater hätte das ausgehalten«, schrie er beinahe: »Er war nicht mein Vater!«
»Dessen bin ich mir sehr wohl bewußt, Jason. O ja, denn ich sehe in dir Züge deines leiblichen Vaters.«
»Das kannst du mir nicht erzählen, Mutter. Er war ein fauler, nichtsnutziger Hurenbock – vergiß nicht, ich habe ihn kennengelernt –, und bis jetzt kann ich keine Gemeinsamkeiten mit ihm feststellen, da ich weder seinen umwerfenden Charme besitze noch das Bedürfnis, eine Frau mit Gewalt zu nehmen. Und jetzt gebe ich dir noch eine Gelegenheit, mich zu verurteilen, Mutter. Ich werde so bald wie möglich wieder heiraten. Diesmal eine Frau, die fünfundzwanzig Jahre jünger ist als ich. Ja, da staunst du, was? Und ich sage dir noch etwas. Ich habe die Beziehung zu Rose jahrelang aufrechterhalten, um sie nicht zu verletzen, obwohl mein Herz und meine Gefühle an einer anderen Frau hingen. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, da ist das Maß voll.«
»Ja, Jason, da gebe ich dir voll und ganz recht. Bei mir ist diese Grenze erreicht, und ich glaube, ich habe für heute genug.«
Er sah sie an und entschuldigte sich nicht, denn die Frau, die da vor ihm saß, war keine alte Dame von vierundachtzig Jahren, sondern immer noch die dominante, alle Fäden in der Hand haltende Mutter, wie er sie seit jeher kannte. Auf diese Erkenntnis hin wandte er sich abrupt von ihr ab, eilte ohne ein weiteres Wort zur Tür, wo er beinahe mit Alice zusammenstieß, die gerade mit der Karaffe und zwei Gläsern hereinkam.
Als die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloß fiel, sagte Emily: »Schenk zwei Gläser ein, Alice, und laß uns auf die Vergangenheit trinken, denn das ist alles, was uns jetzt noch bleibt.«