DDR – Netzer ebnet den WM-Weg

Am 22. Juni 1974 erwiesen sich die DFB-Strategen wieder einmal als lenkungsfähige Mitmenschen und erteilten der Delegation der DDR eine Lektion in Sachen taktischer Planung. Ja, man kann sogar von einem Meilenstein der zweckdienlichen Konzeption sprechen.

Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in der damaligen Bundesrepublik Deutschland ging es im letzten Gruppenspiel der Finalrunde sportlich lediglich um den Sieg in Gruppe 1. Man konnte also dieses Spiel getrost verlieren, dadurch ersparte man sich den Gang in die schwere Gruppe mit Brasilien, Argentinien und Holland (siehe auch: Nacht von Malente). Diesen Spaß der besonderen Art wollte man der DDR gönnen.

Insofern war die Vorbereitung auf das Spiel eher gemütlich ausgeprägt und im Spiel selbst ging man auch nicht volles Risiko, sondern schonte eher Muskulatur und Knochen für die kommenden Aufgaben. Allerdings war das Spiel in der Öffentlichkeit mit hoher Brisanz versehen, schließlich trennte die beiden Deutschlands nicht nur eine Mauer, sondern auch die gesamtpolitische Grundausrichtung.

Wie auch immer, das Spiel stand lange Zeit 0:0 und der hoch favorisierten bundesdeutschen Auswahl gelang es, ihre spielerische Überlegenheit nicht in der Statistik zählbare Erfolge umzusetzen. Dennoch würde die BRD bei einem Remis weiter auf dem verhassten Platz 1 verharren. Bundestrainer Helmut Schön musste also reagieren und er tat das einzig richtige: Er wechselte den Garanten für die wichtige Niederlage und damit den entscheidenden Spieler zum Gewinn der Weltmeisterschaft ein: Günter Netzer!

„Ich hoffe, dass die deutsche Mannschaft auch in der 2. Halbzeit eine runde Leistung zeigt, das würde die Leistung abrunden.“

(Günter Netzer)

Netzer wird zurecht als Spielmacher der EM-Elf von 1972 gefeiert, als sein spielerischer Genius-Status auf dem Höhepunkt war. Aus der Tiefe des Raumes und den Tiefebenen des Niederrheins kommend, hatte der langbemähnte Netzer die deutsche Elf zum überaus wichtigen und glorreichen Sieg im Viertelfinale von Wembley gegen England geführt. Der kurz darauf erfolgte EM-Titel wird zurecht dem blonden Fußballstar und Kurzzeit-Discothekenbesitzer Netzer zugeschrieben.

Bei der Heim-WM zwei Jahre später war Real Madrid-Star Netzer jedoch in der konditionellen Verfassung eines übergewichtigen Dorfkeglers, so zumindest Stimmen aus dem Mannschaftskreis. Somit war der zuvor formschwache, aber immerhin fitte Kölner Wolfgang Overath im Mittelfeld gesetzt.

„So etwas gibt es im Fußball nicht.“

(Günter Netzer bei der WM 98 auf die Frage, was passiert wenn Südkorea gegen Holland gewinnt)

In den beiden ersten Spielen gegen Chile und Australien kämpfte sich Overath langsam aber sicher aus dem Formloch, erzielte gegen Australien gar einen Treffer. Doch betörend waren die Auftritte des Mannes mit den langen Haaren und noch längeren Pässen auch nicht gerade. So forderte die Öffentlichkeit mehr und mehr den „Ramba-Zamba“ Experten, der für den Offensivfußball der 72er stand.

Dies geschah dann auch folgerichtig im Spiel gegen die DDR, als die Zuschauer im Hamburger Volksparkstadion mehr und mehr Nääää-tzeeeer … Nääää-tzeeeer riefen, ging der gewiefte Plan der DFB-Planungschefs endgültig auf. Jetzt konnte man in Minute 69 Netzer bringen, der gesamten Öffentlichkeit beweisen, dass er dem Team aktuell nicht weiterhelfen kann und man bekommt sogar noch eine gewünscht-knappe Niederlage garantiert.

„Beckenbauer war mit 21 auch nicht der Beckenbauer späterer Jahre.“

(Günter Netzer)

So geschah es … Netzer kam, sah und verlor!

Es dauerte noch gute 10 Minuten, ehe sich die Mannschaft der DDR vom Schock der Netzer-Einwechslung erholt hatte. Der Spielmacher selbst indes machte das, was er zu diesem Zeitpunkt am besten konnte. Also fast nichts! Einige behaupten heute gerne, dass Netzer Auslaufen unter Turnierwettkampfbedingungen praktizierte. Jedenfalls hatte Netzer keine einzige Aktion, die man im Nachgang als erwähnenswert betrachten würde. Ein paar Einwürfe, ein paar kurze Jogging-Einheiten, sonst nichts.

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Das Genie, Günter Theodor Netzer (ja, so heißt er wirklich), 1972.

In der 80. Minute gelang der DDR durch Jürgen Sparwasser endlich das für die BRD erlösende Tor zur 1:0 Sieg-Niederlage der DDR…

Nach außen zeigte man sich entsetzt ob der Blamage gegen den „Klassenfeind“. Doch wie bereits 1954 war der obersten Fußballleitung ein genialer Schachzug gelungen. Eine Niederlage wurde wissentlich in Kauf genommen, weil sie einfach besser ins Gesamtkonzept passte.

„Da haben Spieler auf dem Spielfeld gestanden, gestandene Spieler!“

(Günter Netzer)

Wolfgang Overath war ab dem nächsten Spiel gesetzt, kein Pressemensch und auch kein Fan verlangte mehr nach Netzer. Der Kölner steigerte sich in eine vernünftige Turnierform, ebenso das gesamte Team, die nun gegen Gegner wie Schweden, Jugoslawien und gegen Polen in verbesserter Form bestehen konnten. Im Finale wurde Holland letzten Endes 2:1 besiegt, da war die DDR-Mannschaft aufgrund demütigender Niederlagen gegen die Großen des Fußballsport längst wieder hinter Stacheldraht und Mauer verschwunden und schaute sich die WM mit großen, staunenden Augen im West-Fernsehen an.

…und die bundesdeutsche Mannschaft hielt den WM-Pokal in die Höhe. Wieder einmal hatte Netzer dafür gesorgt, wenn auch ein wenig anders als zwei Jahre zuvor!

Er tat es für Deutschland!