Schnee, überall Schnee, der löchrig auf den Feldern liegt. Mehr als eine Stunde hatte der Eisregen auf das Wagendach getrommelt, so stark, dass ich das Radio ausmachte und das Lenkrad umklammerte. Ich starrte auf die Fahrbahn, sah die Ortsschilder mit den slawischen Namen und dachte an die Geschichten aus meinem Brandenburg-Buch: „Schwarze Pumpe“, das Vorgaukeln der Pest, um die Truppen Wallensteins am Dorf vorbeizulocken. Vor langer Zeit, im Dreißigjährigen Krieg, 1626.
Irgendwann lag es vor mir, das Lausitzer Braunkohlerevier, das Vaterland der sauren Gurken, wie Fontane die Gegend hinter Lübbenau bezeichnet hatte. Mehr als siebzigtausend Menschen waren hier zu DDR-Zeiten beschäftigt. Der Staat setzte auf Braunkohle, die einzige Energiequelle, die er nicht importieren musste. Nirgendwo war die Abhängigkeit von ihr höher als hier. Das Kombinat Schwarze Pumpe wurde dadurch zum größten Braunkohleveredlungskomplex der Welt. Was es sonst noch an Energie brauchte, kam aus der Sowjetunion. Die Drushba-Trasse der Freundschaft brachte Öl aus dem Osten. Nach Schwedt an der Oder. Und nach Leuna in Sachsen, wo man den Kraftstoff machte. Und nach Rostock, der Stadt meiner Kindheit.
Nach Vorbild der Drushba-Trasse begann der Staat in den siebziger Jahren mit dem Bau einer weiteren Trasse aus Sibirien: einer für Gas. Die DDR entsandte dafür Tausende Fachkräfte in die UdSSR. Auch ältere Brüder und Väter von Schulfreunden von mir wirkten an dem Projekt mit, das eine Art North Stream oder Nabucco-Pipeline des Ostens war. Monatelang waren sie nicht zu Hause, gruben fern der Heimat die Erde auf. Ein abenteuerliches, fast imperiales Gefühl beschlich uns trotz der Parolen der Lehrer über den siegreichen Sozialismus und die Leistungen der Ingenieure. Uns bewegten die Bilder und flüchtig dahingeschriebenen Briefe auf beflecktem Papier, in denen von Temperaturschwankungen die Rede war. Und von Sehnsucht nach daheim, nach der Familie.
In den Schulpausen – wir tranken Grüne Wiese, ein Cocktail aus Blue Curacao und Orangensaft, und rauchten die ersten Zigaretten bis zur Übelkeit – betrachteten wir Schwarzweißfotos, auf denen Männer im Schlamm arbeiteten oder, gestützt auf Schaufeln, in die Kamera grüßten. Einer von ihnen trug ein Fußball-Trikot, die meisten Unterhemden. Im Hintergrund sah man dichtes Nadelgestrüpp, das bis an den Horizont heranzureichen schien. So ungefähr musste Sibirien aussehen. Was, wenn da draußen etwas passierte? Trassen mochten Öl und Gas transportieren können, jedoch keine Informationen.
Aus heutiger Sicht ist die Leidenschaft, die man Kohle, Öl und Gas einmal als wichtigsten Rohstoffen der Gesellschaft entgegenbrachte, kaum nachvollziehbar. Sie unterschied sich in Ost und West nur wenig. Der Klimawandel war kein Thema, und selbst wenn er es gewesen wäre: Die Fortschrittserwartung war aufs Engste mit der Verfügbarkeit fossiler Rohstoffe verbunden. Erstere erhielt im Westen nach den Ölkrisen zwar einen Dreh in Richtung Kernkraft. Im Osten, wo die Wachstumskritik des Club of Rome nie ankam und die Kernkraft aus technologischen Gründen nicht dieselbe Rolle wie in der Bundesrepublik spielte, blieb aber alles beim Alten.
Berichte über diese Zeit lesen sich darum wie Manifeste aus einer anderen Welt. Die Begeisterung war erheblich, auch bei meinem Großvater, der seit den fünfziger Jahren als Grafiker für eine Reihe großer Industriekombinate von Kleinmachnow bei Berlin arbeitete. Seine Skizzen und Texte dieser Zeit spiegeln die gesellschaftlichen Themen wider: Menschen bei der Arbeit auf dem Feld, andere im Labor oder in der Aula einer Universität, ein Chemiker mit Brenner.
Als Kind hatte ich mich heimlich in sein Arbeitszimmer geschlichen, einen Ort der Farben und Gerüche. Im Herbst und Winter, als die Holzfenster geschlossen blieben, roch es hier nach Terpentin, das sich mit kaltem Zigarrenrauch mischte. Auf dem Arbeitstisch lagen neben dem Glasaschenbecher einige Pinsel, Zirkelspitzen und Fettstifte, deren Papiermanschetten abgerieben waren. Ich betrachtete die getuschten oder mit Rötel gemalten Porträts von Menschen, die ich nicht kannte. Es waren Männer und Frauen, die im Halbprofil gemalt waren. Sie entstammten der Zeit, als meine Großeltern infolge des Luftkriegs in einem kleinen Dorf im Eichsfeld lebten. Wenn mein Großvater nicht mit dem Beschriften von Milchkannen das Auskommen bestritt, porträtierte er Bauern, Handwerker, um ein paar Kartoffeln oder Margarine dafür zu erhalten, aber auch Schauspieler, Künstler und Ärzte aus Heiligenstadt und anderswo. Nachts dann, wenn im Flur das Licht anging oder der Mond ins Zimmer schien, kamen mir die Bilder unheimlich vor. Wie eine Galerie von Toten, die ich nie gekannt hatte, bedeckten sie die Wände.
Neben Werbebroschüren entwarf mein Großvater auch Ärzte-Kalender für das Gesundheitsministerium oder einen für das Petrolchemische Kombinat Schwedt, das den Bedarf Berlins mit Heizöl und Diesel deckte. „Das Erdöl-Verarbeitungswerk Schwedt zerlegt das Wunderelement Kohlenstoff“, hieß es in einem Entwurf für die Vereinigung Volkseigener Betriebe Lacke und Farben. Darunter waren die Endprodukte der Schwedter Raffinerie zu sehen: Benzin, Petroleum, Gasol, Schmieröl, Bitumen. Es war die Zeit der zweiten industriellen Revolution, und die Sprache ist hier wie an vielen anderen Stellen seiner säurestichigen Manuskripte ganz vom Geist der fünfziger Jahre durchdrungen.
Die Absolutheit, mit der auch er den Aufbruch bejaht hatte, verschwand spätestens zu dem Zeitpunkt, als die Umweltfolgen der hemmungslosen Industrialisierung in der DDR offenbar wurden. Die Kohle ebenso wie die Chemie standen im Zentrum des Konflikts, der sich neben der Lausitz vor allem auf die Region Bitterfeld – Halle – Merseburg erstreckte. Dies änderte auch Tschernobyl nicht, das sich trotz aller Bemühungen nicht verschweigen ließ. Die Kohle, vielleicht die Chemie, nicht das Uran, wurden zum ökologischen Totengräber der DDR. Wenn es etwas gibt, das zum Symbol für die Fassaden ostdeutscher Städte wurde, ist es dieses Braungrau, das allgegenwärtig war. Auch auf unserem Hinterhof im Barnstorfer Weg, wo rostige Mülltonnen für Asche standen.
Unter „demokratischer Umgestaltung“ verstand man in den Wendemonaten folgerichtig auch die der ökologischen Verhältnisse. Die sich neu gründende Partei Demokratischer Aufbruch forderte in ihrem Aufruf vom 2. Oktober 1989 denn auch, „endlich die Wahrheit [zu] erfahren über das Ausmaß der Schädigung des Wassers, des Bodens und der Luft. Wir alle müssen lernen, unsere Wirtschaft und unsere Bedürfnisse dem Schutz der Umwelt unterzuordnen.“54 Von Kernkraft war da, nur drei Jahre nach Tschernobyl, kein Wort.
Die Umweltbewegung im Osten konnte anders als in der Bundesrepublik nie das tun, was man retrospektiv als die größte Leistung der Partei der Grünen ansehen muss: Fragezeichen hinter Formen des Lebens und Wirtschaftens setzen, die die Politik als alternativlos bezeichnete. Umweltschutzpositionen waren geächtet und hatten in der offiziellen Rhetorik keinen Platz: Sie hätten die mangelnde Innovationskraft der Wirtschaft aufs Tapet gebracht, die auf Kosten der Natur ging. Und doch meldeten sich nicht nur im Umfeld der Kirchen oder in unserem Schülerkreis „Junge Ornithologen“ Stimmen zu Wort, die mit der Umweltzerstörung in der DDR hart ins Gericht gingen. Sie wurden ermutigt durch das, was sie im Fernsehen an Signalen aus dem Westen empfingen. Auch im Osten war die Zeit reif für eine grüne Bewegung. Jeder, der die Region Bitterfeld einmal besucht hat, wusste das.
Einer der Kritiker war der Vater eines Schulfreundes. Er arbeitete bei Minol, der Öl- und Kraftstoffagentur der DDR, die nach der Wende an Elf Aquitaine verkauft wurde, und war ein beflissener Techniker. Aber er zweifelte an der Richtigkeit eines Wirtschaftspfades, der Kohle, Öl und Gas in immer größeren Mengen brauchte und hemmungslos die Umwelt verpestete. Er erzählte uns von den Leuna-Werken, der wichtigsten Raffinerie des Landes, von der Pipeline und den Tanklagern im Wald. Eines davon lag auch in unserer Gegend. Inmitten einer Landschaft, in der es sonst nur Kolchose gab, wie er sagte.
Und doch kamen solche Mahnungen nur sporadisch durch. Obwohl die DDR bereits seit Beginn der siebziger Jahre ein Umweltministerium besaß, führte es eine Phantomexistenz. Die Gleichgültigkeit oder Machtlosigkeit gegenüber den Umweltsünden scheint im Nachhinein noch größer gewesen zu sein als damals angenommen.55 Die Rekultivierungen der gigantischen Braunkohletagebaue der Lausitz, mit denen man in der DDR begann, waren da Lichtblick und Ausnahme.
Wenn wir an Natur denken, denken wir an Landschaften ohne menschliche Spuren. Auch gänzlich unfrommen Menschen ist der Gedanke nicht fremd, dass nur der ursprüngliche Zustand von Ebenen, Wäldern, Bergen und Gewässern wirklich der Natur entspricht. Der Anblick von Tagebauen hinterlässt darum ein Gefühl der Ratlosigkeit, wie viele dieser Löcher es bereits geben mag und wie viele hinzukommen werden, um den Rohstoffbedarf zu stillen. Es ist ein Gefühl der Schuld: dass hier ein ohne den Menschen entstandenes Gefüge durch menschliche Bedürfnisse zerstört wird. Denn Tagebaue sind unnatürliche Krater, die von Eingriffen zeugen. Wie Einschüsse oder kreisrunde Einstiche in die Skin of the Earth. So haben Wissenschaftler den Boden getauft, eine, vielleicht die wichtigste Ressource der kommenden Jahre.
Begeben wir uns für einen Moment von der Lausitz an den Polarkreis. Es gibt ein Foto der kanadischen Ekati-Mine, das die Gruben wie Meteoriteneinschläge aussehen lässt, die mit Straßen für tonnenschwere Lastkraftwagen verbunden sind. Alles ist weiß und wirkt dadurch friedlich. So wie auch Bilder von Kriegsschauplätzen des Zweiten Weltkriegs mit den Gesichtern erfrorener Leichen oder Pferden, die mit Schnee bedeckt sind, wirken, als sei jeder Schmerz aus ihnen gewichen. Oder die großflächigen Fotografien des kanadischen Künstlers Edward Burtynsky, der die Rohstoffkreisläufe zwischen Natur und Mensch durch stillgelegte Ölfelder, gigantische Müllhalden von Autoreifen und Friedhöfe alter Flugzeuge der US Air Force auf bizarre Weise ästhetisiert und zugleich den Albtraum der ungebremsten fossilen Rohstoffnutzung dokumentiert.
So kann auch das Bild der Ekati-Mine eine gewisse Anmut nicht unterdrücken. Sie entsteht im Auge des Betrachters und ist von fast architektonischer Schönheit. Denn das, was man sieht, erinnert an ein antikes Amphitheater: Wie auf der Innenseite eines auf dem Kopf stehenden Kegels winden sich die immer kleiner werdenden Bahnen zum Grund der Mine. So, als seien sie nicht gemacht, damit Kipper die Bahnen hinunterfahren, sondern damit Menschen auf den Rängen sitzen können, um das Geschehen beobachten zu können.
Hier kommt zum Tragen, dass die Natur ihre ästhetische Faszination auch dann behalten kann, wenn sie bereits tiefgreifenden Veränderungen unterliegt. Es gibt keine Zwangsläufigkeit, dass uns allein das anspricht, was wir mit einer unveränderten Natur assoziieren. Die Veränderung der Natur kann wie am täglich erfahrenen Beispiel von Stadtparks und Grünanlagen ohne Auswirkung auf unseren Sinn bleiben. Bei ihnen handelt es sich nicht mehr um „Natur“, doch solange uns das Schöne anspricht, ist es egal, ob es natürlichen Ursprungs ist. Wir können geradezu blind dafür werden, den Grad der Veränderung zu erkennen: bis zur Zerstörung. Nur eine zerstörbare Natur kann – so paradox es erscheinen mag – zugleich etwas auslösen in uns. Denn ihre sichtbare Veränderung erst ermöglicht es uns, dass wir uns anders als zum theoretischen und objektivierbaren Naturbegriff der Naturwissenschaften in ein sehr persönliches Verhältnis zu ihr setzen: dass wir sie direkt auf uns und unsere Lebensweise beziehen.56
Auch wer sich dem Tagebau Welzow Süd nähert, hat zunächst den Eindruck einer Mondlandschaft. Abraumbagger werfen die Erde auf wie der kleine Maulwurf mit seinem Handspaten aus den Lieblingstrickfilmen meines Sohnes. Ich blickte lange auf diese unwirkliche Gegend, in der jede Form von Ursprung verloren gegangen war. Aber was war das, Ursprung? Etwas Neues war entstanden und an dessen Stelle getreten, das mir gefiel.
Die Abraumschicht, die sich farblich unterschied, trug eine Schneedecke. Sie sah damit aus wie der Zuckerguss eines Kuchenstücks, das sich vor mir auftürmte. Ich konnte es erst durch die Technik und den Eingriff in die Landschaft so sehen: eine Landschaft, die den Hintergrund für den Videodreh einer kalifornischen Deathmetal-Band abgeben könnte. Glencore, Xstrata oder Anglo American: Schon die Namen großer Minen- und Rohstoffkonzerne, die auch als Label auf turmhohen Bass-Verstärkern prangen könnten, klingen nach einer brachialen Kraft, mit der die Erde bewegt wird.
Von den Fördermengen solcher Konzerne ist man in der Lausitz weit entfernt. Zwanzig Millionen Tonnen Kohle werden in Welzow Süd im Jahr gefördert und ins nahe gelegene Kraftwerk Schwarze Pumpe transportiert. Ebenso viel geht in das benachbarte Kraftwerk Boxberg, einstmals eines der größten Kraftwerke der DDR, das mehr Energie als die Muskelkraft der gesamten Bevölkerung des Landes lieferte. Heute wird hier Strom für mehrere Millionen Haushalte produziert.
Schwarze Pumpe gehört zum schwedischen Energieriesen Vattenfall. Nach der Wende, nachdem Unternehmen wie Rheinbraun da waren, hatten die Schweden im Zuge der Marktliberalisierung den Großteil der ostdeutschen Energieversorgung übernommen, der eigentlich nur einen Energieträger kannte: Kohle. Die Leute in der Gegend erzählten sich den Witz, dass es den Schweden trotz der List der Dorfbewohner von 1626, die Pumpe mit schwarzer Farbe anzumalen, um die plündernde und brandschatzende Soldateska abzuschrecken, am Ende doch noch gelungen sei, den wehrhaften Ort einzunehmen.
Weit vor den Ereignissen im Frühjahr 2011 gab es in der Öffentlichkeit Auseinandersetzungen über diesen und andere Standorte. Seit die Auswirkungen von Kohlendioxid auf die Atmosphäre thematisiert werden, steht die Kohleförderung unter einem schlechten Stern. Fukushima verdrängte diese Kritik insofern, als eine andere Bedrohung die Oberhand gewann und die Gefahr des Klimawandels überdeckte. In den Gazetten machte der Satz die Runde, die Kohle sei der heimliche Gewinner von Fukushima. Doch nicht nur das Aus für die Kernkraft in Deutschland hatte zur positiven Entwicklung der Kohle beigetragen, sondern auch der Energiehunger und die Erschließung neuer Förderstätten weltweit.
Die Braunkohle ist heute in Deutschland der wichtigste heimische Energieträger mit Grundlastqualitäten, wofür zwei Zahlen genügen mögen: Ihr Anteil am gesamten Energieverbrauch macht gegenwärtig rund 12 Prozent aus, beim Strom sind es 25 Prozent, also jede vierte in Deutschland verbrauchte Kilowattstunde. 176 Millionen Tonnen Braunkohle wurden 2011 insgesamt gefördert.57
Ungeachtet der intensiveren Nutzung erneuerbarer Energiequellen werden die Bagger wie hier in Welzow weiter tonnenweise Abraum heben, werden neue Kohlekraftwerke nicht nur in China, das heute bereits über die meisten Windkraftanlagen weltweit verfügt, sondern auch in Deutschland bis Mitte des Jahrhunderts ans Netz gehen müssen. Auch wenn Gas als eine wichtige grundlastfähige Energiequelle betrachtet wird, die die Schwankungen der erneuerbaren Energien ausgleichen soll, wird an der Kohle kein Weg vorbeiführen. Der Grund dafür liegt im Vorhandensein von Kohle nicht weniger als im bestehenden Strommarkt und seinen Anreizsystemen: Kein Energieversorger investiert wie beim Gas in neue milliardenschwere Anlagen, die dann nur zum Ausgleich der per Gesetz vorrangig eingespeisten Wind- und Sonnenkraft gebraucht werden. Dabei stünde Gas durch die Exploration großer Vorkommen außerhalb Deutschlands, etwa in den USA, für viele Jahre zur Verfügung.
Der Begriff der Energiewende, der einen unfreiwilligen Anklang an das Jahr 1989 hat, ist deshalb fragwürdig, weil er einen radikalen Wandel in den zentralen Prämissen der Energieversorgung insinuiert und eben mehr als die Kernenergie meint. So weist es das Energiekonzept aus, das die Bundesregierung bereits vor Fukushima vorgelegt hat. Danach sollen die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 gegenüber dem Basisjahr 1990 um 40 Prozent reduziert werden, bis zur Mitte des Jahrhunderts sogar um bis zu 95 Prozent.
Wenn man den Blick weg vom Strom richtet, der neben dem Mobilitäts- und Gebäudesektor lediglich ein Drittel unseres Energiebedarfs ausmacht, sieht man, warum dies so ambitioniert ist: Der überwiegende Teil, nämlich vier Fünftel, wird heute durch kohlenstoffhaltige Energiequellen gedeckt und noch lange gedeckt werden. Lediglich der Rest verteilt sich zu gleichen Teilen auf Kernkraft und erneuerbare Energiequellen.58
Das bekannte Ziel der Bundesregierung ist es, bis zum Ausstieg aus der Kernenergie im Jahr 2022 ein Drittel unseres Stroms aus erneuerbaren Energiequellen zu generieren. Heute sind es 25 Prozent, die aus Windenergie, Biomasse und Photovoltaik kommen, wobei dieser Wert die installierte Kapazität, nicht die tatsächliche Leistung des ins Netz eingespeisten Stroms beziffert. Eine solche Zahl fiele geringer aus.
Die Gretchenfrage ist zudem, wie wir die restlichen drei Viertel gewinnen werden. Sie ist nicht allein eine technische Frage und eine der Energieeffizienz, sondern auch eine naturphilosophische. Denn erstmals in der Geschichte der modernen Energieversorgung wird nicht die Nachfrage die Menge der zur Verfügung stehenden Energie bestimmen, sondern die Natur und was sie uns zu geben bereit ist. Das Synchronisieren von Energienachfrage und fluktuierenden Energiequellen: Es ist das trotz aller Überlegungen zu „intelligenten“ Netzen und Speichermöglichkeiten bis heute ungelöste Problem auch der Energiewende.
Ich habe mich nie intensiver als notwendig mit den technischen Abläufen der Stromerzeugung befasst. Und doch empfinde ich wie viele Menschen seit jeher eine Faszination für dieses Thema, weil sich Natur und Technik hier ganz unmittelbar berühren. Im Wort „Energieversorgung“ steckt das Wort „Sorgen“, Kümmern, die Erwartung, die wir implizit an andere artikulieren – und deshalb gereizt reagieren, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen droht. Blackouts und Preisanstiege berühren unser Risikoempfinden nicht minder als der Gedanke an Havarien, weil sie uns verdeutlichen, dass wir Dritten ausgeliefert sind. Dies ist eine entscheidende Note unseres Blicks auf das Thema Energieversorgung.
Energiepolitik kann als Wirtschaftspolitik oder als Umweltpolitik betrieben werden, wobei Anhänger der zweiten immer behaupten würden, auch die erste mit im Auge zu haben. Tatsächlich kommt noch eine dritte, vielleicht entscheidende Komponente hinzu, die mit Akzeptanz quer zu den beiden anderen Politikfeldern zu tun hat: die gegenwärtige Debatte um die Ersetzung einer „zentralen“ durch eine stärker „dezentrale“ Energieversorgung. Sie ist dazu angetan, einige Charakteristika aufzuzeigen, die für unsere Wahrnehmung der Technik im Ganzen gelten.
Unsere Risikowahrnehmung hängt stark davon ab, inwieweit wir selbst die Risiken steuern oder ihnen ausgeliefert sind. Nichts, dies weiß man auch aus der Glücksforschung und der Arbeitsmedizin, betrifft uns im negativen Sinne mehr als das Gefühl der Fremdbestimmtheit, und sei diese objektiv betrachtet auch zu unserem Besseren.59 Auf die Technik gemünzt heißt das, dass uns jene technischen Risiken wie das Fahrradfahren inmitten der Großstadt, von denen statistisch hohe Gefahren ausgehen, wesentlich beherrschbarer erscheinen als Situationen, in denen wir das Gefühl haben, ausgeliefert zu sein. Viele Menschen dürften sich vor einem Flugzeugabsturz deutlich stärker ängstigen als vor einem Autounfall auf dem Weg zur Arbeit. Die Wissenschaft spricht hierbei von einem „Nahhorizont“, den wir gegenüber fremdbestimmten Risiken immer favorisieren, weil wir ihn selbst wählen.
Aus der individuell so angenommenen Beherrschbarkeit von Risiken folgt eine ungleich höhere Akzeptanz „kleiner“ Technikeinheiten gegenüber diffusen, weil unübersichtlichen Gefahrenpotenzialen. Die Akzeptabilität einer Technologie ist darum weniger an ihre konkreten Auswirkungen geknüpft als an unser Bild dieser Technik. Gerade weil unser heutiges Naturbild uneingeschränkt die Vorstellung einer guten Natur transportiert, hat auch der Grad der gefühlten Entfremdung von der Natur Auswirkungen auf unser Technikbild: Das Technische birgt per se Risiken, da es im Widerspruch zu einer als stabil und harmonisch interpretierten Natur steht. Und wenn diese Risiken nicht in Form von Unfällen zutage treten, dann wirken sie sich unterbewusst auf eine intakte Seele und gesunde Körperlichkeit des Menschen aus – eine Art Unheilsteleologie, wie sie dem Widerstand gegen Blackberrys und andere Informationsträger als Dauerstressverursacher etwa in der Literatur der Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel zugrunde liegt.
In Deutschland dominiert seit langem eine Technikwahrnehmung, die sich durch eine besondere Verbindung von Technik und Machtempfinden auszeichnet. Hinter diesem abstrakten Wort steckt der in den zwanziger Jahren erstmals breit nachweisbare Gedanke, dass die Technik von einem Hilfsmedium zu einem Selbstzweck aufgerückt sei, der die Menschen unfrei mache. Aus gutem Grund ist die Großtechnik in Deutschland seit 1945 anders als in westlichen Industriestaaten, namentlich den USA, Israel, Frankreich oder Schweden, nie „Staatstechnik“ gewesen, wie man am Energiesektor zeigen kann, sondern immer in der Hand von privaten Unternehmen. Und doch ist der Reflex derselbe: Technik wird in Deutschland abgelehnt, wenn sie gepaart mit Konzerninteressen als „Großkomplex“ daherkommt, der die Macht- und Fremdbestimmungskomponente gewissermaßen ideologisch überhöht. Unter anderem aus diesem Grund funktioniert die Solarenergie von Privatiers und kleinen Stadtwerken in Deutschland bislang so gut, während selbst Windkraftanlagen großer Energieversorger mit demselben Stigma zu kämpfen haben wie die gentechnischen Versuchsflächen von Agrar-Konzernen wie Monsanto: weil das Dezentrale per se vertrauenswürdig erscheint. Small is beautiful.
In kaum einem anderen Land ist die semantische Kluft zwischen „künstlich“ und „natürlich“ darum so emotional aufgeladen wie in Deutschland. Je näher eine Technik dem Pol „Natur“ zugeordnet wird, beispielsweise die Photovoltaik, umso emphatischer wird sie ungeachtet aller ökonomischen Nachteile und technischen Ungereimtheiten begrüßt. Je weiter eine Technologie sich von diesem Pol entfernt, je stärker sie die Natur auf den Kopf stellt, wie es die Kernspaltung tut, oder sich unseren Blicken komplett entzieht, desto mehr ist sie Ressentiments ausgesetzt. Bei der Photovoltaik handelt es sich in den Augen vieler Menschen um eine „natürliche“ Technik, auch weil sie keines der klassischen technischen Attribute Lärm, Schmutz und Geruch aufweist. Als dezentrale Technik produziert sie lokal, dort, wo ihr Produkt gebraucht wird. Glauben wir zumindest.
Tatsächlich verrät ein genauerer Blick auf die Erneuerbaren, dass wir es hier mit einer handfesten Romantisierung zu tun haben. Was einmal ein Nischenprodukt war, das staatliche Unterstützung in Gestalt einer fest vergüteten Umlage durch das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) brauchte, hat sich zu einer Technologie ausgewachsen, die mittlerweile fast ein Viertel des deutschen Strombedarfs deckt.
Jede der großen neuen Anlagen in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg ist selbstredend keine dezentrale Anlage mehr – genau wie die Tausenden neuer Solarmodule, die auf Stallungen süddeutscher Bauern montiert wurden und werden. Denn der Strom, den sie produzieren, wird längst nicht mehr am Ort der Erzeugung genutzt, sondern nicht anders als der eines großen Kohle-Erzeugers in das Netz eingespeist und Hunderte von Kilometern weit zu den Verbrauchern geschickt. Gemessen daran ist ein Gaskraftwerk in Nordrhein-Westfalen, das die Schwankungen der Erneuerbaren vor Ort ausgleicht, die „dezentralere“ Anlage.
Diese Tendenz wird manifest werden, wenn die Offshore-Windparks in der Nordsee eines Tages wirklich die Industriezentren des Südens versorgen. Als Faustregel gilt, dass der Süden auch in Zukunft kleinteiliger organisiert sein wird als der Norden: Im Norden gibt es viermal so viel installierte Windkraftkapazität wie im Süden, im Süden dafür viermal mehr Solarkraft als im Norden. Zudem kann der bildliche „See“ des deutschen Stromnetzes schon heute jederzeit überschwappen: Wenn die Natur es will, ist bereits heute deutlich mehr Ökostrom da, als es das Stromnetz aushält. Er wird dann gegen die Zahlung eines Aufschlags ins Ausland verkauft, damit er überhaupt abgenommen wird, oder man schaltet Windkraftanlagen ab, zahlt aber trotzdem dafür.
Die Frage der Zentralität oder Dezentralität, die in Deutschland sehr emotional und wie eine Staatsangelegenheit diskutiert wird, hat also längst nichts mehr mit der Stromart zu tun: Dezentral ist nicht gleichbedeutend mit erneuerbar. Und erneuerbar meint nicht effizient und schonend angesichts der Lebenszyklusbetrachtung von Produkten, die in der Herstellung überaus energieintensiv sind.
Die Kritik am EEG ist insbesondere im Zusammenhang mit der Solarenergie lauter geworden in der vergangenen Zeit, und doch ist dieses Gesetz in der Welt. Und mit ihm die Begehrlichkeiten seiner vielen Nutznießer, sei es ein Großinvestor oder ein privater Haus- oder Scheunendachbesitzer. Die Ironie des EEG will es dabei, dass die Ausgaben für alle Verbraucher in dem Moment steigen, in dem die Sonne scheint und mehr Solarstrom als sonst ins Netz eingespeist wird, auch wenn genügend da ist. Denn der Preis pro Kilowattstunde orientiert sich nicht an Angebot und Nachfrage, sondern ist festgesetzt – auf zwanzig Jahre. Der Börsenpreis für Strom fällt indes, je mehr Strom zur Verfügung steht. Gleichzeitig wächst der Betrag der zu zahlenden Einspeisevergütungen, die garantiert sind. Dies lässt die Differenzkosten – die sogenannte EEG-Umlage – nach oben schnellen. Im vergangenen Jahr um fünfzig Prozent im Vergleich zum Vorjahr.60 Ungeachtet dessen wird weiter fleißig zugebaut, ob der Strom gebraucht wird oder nicht.
Das Beispiel der Erneuerbaren und der Widerstände gegen ein aus dem Ruder gelaufenes EEG eignet sich mustergültig zur Entkräftung jenes Mythos, dass es vor allem um Natur und eine kohlenstoffarme Stromproduktion ginge. Es geht tatsächlich nicht anders als bei der Verteidigung abgeschriebener Kernkraftwerke durch die großen Energieversorger vor und nach 2011 oder bei Genmaisfeldern transnationaler Saatgutkonzerne im Kleinen um monetäre Dinge, um Renditen, die am Kapitalmarkt heute nicht mehr zu erzielen sind, für die man die Natur und die Zukunftsverantwortlichkeit in Dienst nimmt.
Deutschland beheimatet trotz ungünstiger „natürlicher“ Voraussetzungen von unter eintausend Sonnenstunden pro Jahr heute mit mehr als einer Million Anlagen die Hälfte aller weltweit installierten Photovoltaikanlagen, die – das wissen auch die Apodikten des grünen Stroms – mittlerweile außerhalb Deutschlands gefertigt werden und abgesehen von Installationsbetrieben nicht der heimischen Industrie im nennenswerten Maßstab zugute kommen. Hinzu kommt, dass die Zusammensetzung des Strompreises, der zur Hälfte aus politisch motivierten Abgaben wie der EEG-Umlage pro Kilowattstunde, der Öko-Steuer und jener für Kraft-Wärme-Kopplung besteht, den wenigsten Deutschen bekannt ist – oder aus dem Eindruck heraus, diesen ohnehin nicht beeinflussen zu können, kaum Interesse erweckt.61
Trotz aller Emotionalität, die Themenbereiche wie Energie und Landwirtschaft auch vor diesem Hintergrund begleitet, wird die Gesellschaft angesichts des nicht mehr homöopathischen, sondern industriemäßigen Umbaus des Agrar- und Energiesystems eine Antwort darauf finden müssen, wie sie ihre Sympathien verteilt. Wird sie weiter von dezentralen Lösungen träumen, wenngleich die Effektivität großer Anlagen sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Energiewirtschaft aufgrund höherer physikalischer Wirkungsgrade quasi naturgesetzmäßig die größere ist?62
Die großen Offshore-Projekte in Nord- und Ostsee, die maßgeblich für die auch von staatlicher Seite prognostizierten Zuwachsraten im Stromsektor verantwortlich sein werden, sind in der Hand der großen Energieversorger oder entsprechender Konsortien. Niemand anders kann trotz des ambitionierten Engagements einiger Stadtwerke entsprechende Investitionen tätigen. Und selbst die Eigenmittel der großen EVU reichen angesichts der notwendigen Kapazitäten im Milliardenbereich nicht aus: Um das entsprechende Fremdkapital bei Anlegern zu akquirieren, sind Renditen unerlässlich. Auch aus diesem Grund wird die Energiezukunft wie jede Zukunft vor ihr auch von ökonomischen Interessen geleitet sein, was sich nicht zuletzt an der allgemeinen Begeisterung für die Photovoltaik ablesen lässt. Ob „Baltic I“, „Baltic II“, „Alpha Ventus“, „Amrumbank“ oder „Nordsee Ost“: Die Gesichter der alten werden im Verbund mit anderen, etwa Stadtwerken, auch die der neuen Energiewelt sein.
Indes gewinnen Konzepte von Autarkie und Selbstversorgung Oberwasser, nicht zuletzt auch deshalb, weil es noch immer einen Zusammenhang zwischen lokaler Stromproduktion und Industrieansiedlung gibt. Das haben auch jene Bundesländer erkannt, die bis 2022 nukleare Kraftwerkskapazitäten verlieren. Die „16 Energiewenden“, wie sie der Vorsitzende der Deutschen Energie-Agentur, Stephan Kohler, ausmacht und kritisiert – die vielen parallelen Lösungen auf Länderebene, die nicht ineinandergreifen –, sind zugleich Ausdruck eines tief verwurzelten Glaubens: daran, dass kleinteilige Lösungen besser sind, auch weil sie Gewinne für Länder und Kommunen versprechen. Von Wüstenstromprojekten wie Desertec ist kaum noch die Rede.
Tatsächlich befinden wir uns längst in einem europäischen Strommarkt. Autonomiegedanken sind einer sich weiter vernetzenden Energie-Welt nicht mehr zuträglich. Und gerade Gas, auf das die Befürworter der Erneuerbaren so viel Hoffnung setzen, bedeutet das Gegenteil von Autarkie. Deutschland ist hier abhängiger als bei jeder anderen Energiequelle, zumal einige Versorger an Langzeitverträge mit Russland gebunden waren und das „Fracking“ heimischer Gasvorräte – also das Einpressen eines Gemisches aus Wasser, Sand und Chemikalien in tiefes Gestein, um Risse zu erzeugen – von der Bevölkerung ebenso abgelehnt wird wie die Kohle- oder Kernkraft.
Ohne Zweifel: Die Energieversorgung wird auch in Deutschland vielschichtiger und dezentraler werden. Aber es wäre naiv zu glauben, dass sich alles in diese Richtung entwickelt. Dezentral wird die Energie- und Wasserversorgung vor allem in jenen Teilen der Welt sein, in denen keine intakten Strukturen und Versorgungsnetze wie bei uns existieren. Genau das war einmal die Idee, als man in den neunziger Jahren begann, Solarzellen herzustellen: Man wollte helfen, Menschen in Afrika oder Asien zu versorgen, die ansonsten keine Chance auf Strom und warmes Wasser haben. Für die Entwicklungs- und Schwellenländer, wo die Sonne häufiger scheint als bei uns, wird die Solarenergie aufgrund des Preisverfalls der Technik zu einer wichtigen Technologie ganz ohne staatliche Subventionen werden und die Lebensverhältnisse vielleicht nicht revolutionieren, aber verbessern.
Der Rationalität von Begriffen wie „Grundlast“, „Netzausbau“, „Speichertechnik“ und „Dekarbonisierung“ zum Trotz reagieren die Menschen beim Thema Energie so emotional, weil sich die große Frage des Umgangs mit der Natur täglich aufs Neue stellt. Man kann das Bild einer Sanduhr bemühen, die auf dem Kopf steht: Wir zehren das, was uns die Natur in kaum vorstellbaren Zeiträumen überlassen hat, Stück um Stück auf, wenn wir Kohle verbrennen oder Rohstoffe abbauen, um sie dann in Sonnenkollektoren zu verwenden. Und doch werden Energie und viele Rohstoffe streng genommen nicht verbraucht, sondern unterliegen dank der Gesetze der Natur energetischen und stofflichen Wandlungsprozessen beziehungsweise werden durch Recycling unter Hinzufügung von Energie wieder brauchbar gemacht. Das Abbauen von Kohle wie hier in der Lausitz kann darum eigentlich nur dann als eine Geschichte des irreversiblen Eingriffs erzählt werden, wenn man orthodox und eben nicht „ganzheitlich“ auf die Natur blickt.
Dies ist auch insofern von Bedeutung, als wir große Hoffnungen mit den erneuerbaren Energiequellen verbinden und dafür bereit sind, Eingriffe in die Natur zu akzeptieren. Anders als bei Abbaugebieten wie Welzow Süd sind es keine klar definierten Räume, sondern die Landschaften selbst, die sich sprunghaft verändern. Aus Erinnerungslandschaften werden industrielle Produktionslandschaften. Deshalb lässt es aufmerken, dass die breite Öffentlichkeit beim Stichwort „Naturschutz“ mittlerweile nicht mehr vorrangig an den Erhalt von Landschaften denkt, sondern an das Ziel einer Dezimierung atmosphärischen Kohlendioxids, dem sich alle anderen Facetten des Komplexes „Natur“ unterordnen.
Im Kollidieren von Klima- und Naturschutz zeigt sich daher eine wichtige Facette der Reflexion über die Natur: die Inanspruchnahme von Teilaspekten der Natur für ganz unterschiedliche Ziele. Im Grunde sehen wir nicht die Natur als einen Komplex, mit dem wir uns zwar in seiner Gesamtheit solidarisieren, aus dem wir uns jeweils aber das aussuchen, was wir unter Natur verstehen wollen. Umso leichter fällt es uns, Ungereimtheiten unseres Naturbilds zu akzeptieren. Stattdessen setzen wir uns in ein Verhältnis zu unserer Umwelt, und dies mit jeweils anderen Fragestellungen, nennen diese dann aber „Natur“. Wir brauchen das Gespräch über die Natur als ein Spiegelbild unseres Selbst, das neben aller Rationalität eben auch mitfühlende Seiten hat. Insofern ist der Erhalt der Natur auch ein wichtiger Selbstzweck. Heute, da sich die Welt zunehmend technischer anfühlt, hat diese Bedeutung zugenommen.
In dieser Zeit, als ich mich nach Welzow Süd aufmachte, fielen die Temperaturen von einem auf den anderen Tag tief in den Minusbereich. Die Schornsteine über den Dächern Berlins dampften wie die Schmelzöfen des Ruhrgebiets zur Zeit der Stahlbarone. Die Spree war vereist, Züge und Straßenbahnen blieben aufgrund von Gleisschäden in den Depots, die Kälte fraß sich durch meine Sachen. Es war ein sonniger, klarer Tag. Aber er ließ auch erahnen, wie Großstädte ganz „natürlich“ in Unruhe geraten können. Auf einmal war sie da, die Natur, und mit ihr die bereits zu den Akten gelegten Fragen, welche Kompromisse wir bei der Energieversorgung für eine Natur zu machen bereit sind, die nicht unsere eigene ist. Was die energie- und klimapolitische Rationalität nicht bewirken konnte, das tat der Frost.
Beim Frühstück hatte ich in einem SZ-Magazin geblättert und war bei einer Anzeige der Firma Louis Vuitton hängen geblieben. Zu sehen war die berühmte amerikanische Fotografin Annie Leibovitz in ihrem New Yorker Atelier. Gestützt auf eine der typischen Taschen, die das Bild unserer Städte mittlerweile tausendfach prägen, schaute sie den russischen Balletttänzer Mikhail Baryshnikov gedankenversunken an. Neben dem Label las ich den Satz: „Louis Vuitton unterstützt The Climate Project“. Gemeint war eine Initiative, die auf den früheren US-Vizepräsidenten Al Gore zurückgeht und seit 2010 The Climate Reality Project heißt. Es bedurfte keiner Erklärung, warum dieser Hinweis zur Bewerbung einer Luxustasche verwendet wurde. Der Klimaschutz war zu einer selbsterklärenden Botschaft geworden, der über jeden Kontext erhaben war.
Welzow Süd und das benachbarte Kraftwerk Schwarze Pumpe lagen mit anderen Worten genau im Zentrum eines Themas, bei dem man nur selten raus vor die Tür geht, dorthin, wo der Strom und die Wärme produziert werden. Ich traf auf eine schwedische Reisegruppe, die auf Einladung des Betreiberkonzerns Vattenfall in der Lausitz war. Es war in der Vorweihnachtszeit, jemand erzählte noch einmal die Geschichte vom Dreißigjährigen Krieg und alle sangen zusammen Du kära gran, Oh Tannenbaum. Und man sprach über die Möglichkeiten der Energieversorgung daheim in Schweden.
Ungeachtet des Vorfalls im Kernkraftwerk Forsmark hatte Schweden – das vielen Deutschen nicht nur als ein Musterland des Designs und individualistischer Marken wie Saab, Volvo oder Fjällräven gilt, sondern auch des Lebens im Einklang mit der Natur – seinen Ausstiegsbeschluss aus der Kernenergie wieder rückgängig gemacht. Gut die Hälfte des Stroms gewinnen die Schweden bis zum heutigen Tag aus Kernenergie, und sie rüsten die Kraftwerke mit leistungssteigernden Komponenten nach. Die andere Hälfte kommt aus Wasserkraft, jener im Vergleich zur Windkraft so kostbaren, weil grundlastfähigen erneuerbaren Energiequelle, die auch in Norwegen, in Österreich und der Schweiz genutzt wird, in Deutschland aber kaum zur Verfügung steht.
Wie sehr sich der Umgang mit der Natur gewandelt hatte, wie Nutzdenken etwa am Beispiel der Holz- und Möbelindustrie die mythische und Identität stiftende Dimension der Natur längst verdrängt hatte, erfuhr ich durch den Hinweis auf ein Buch, das die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekman schrieb. Es hieß Der Wald und musste auch für die Deutschen von Interesse sein.
In der Lausitz hatte es diesen Blick auf die Natur immer schon gegeben. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier Kohle abgebaut. Die meisten der Tagebaue existieren heute nicht mehr, sie wurden nach ihrer Nutzung rekultiviert. Es gibt nur noch eine Handvoll dieser Gruben, von denen Welzow Süd eine der besonders beeindruckenden ist: 750 Millionen Tonnen Kohle sollen allein hier lagern, 1,3 Milliarden Tonnen sind es in der gesamten Lausitz. Bis zu 80 Milliarden Tonnen werden deutschlandweit von Wissenschaftlern vermutet. Sie könnten der Rohstoff für eine Nation sein, die unabhängiger vom Import werden will, die europaweit zugleich an zweiter Stelle beim Emittieren von Kohlendioxid liegt.
„Uns erreichen viele Anfragen“, hatte der Betreuer der Reisegruppe mit dem kantigen Gesicht gesagt, als ich mit Dreck an den Stiefeln zurück in den Bus stieg, der uns vom Tagebau zum Besucherzentrum brachte. „Vor allem zum Klimaschutz oder der Umsiedlung ganzer Dörfer.“ Er meinte die Gemeinde Horno, ein sorbisches Dorf, das dem Bagger weichen musste. Und er meinte eine neue Technologie, gegen die sich überall in Deutschland Widerstand formierte.
Dass Kraftwerke sich optisch verjüngen, sagt noch nichts über das ramponierte Image von Anlagen aus. Es ist eine Frage des Designs. Nicht anders als die Auspuffrohre und Zylinder alter Motorräder verbirgt man das Innere heute vollständig vor dem Auge des Betrachters, und das nicht einmal aus Gründen der Industriespionage. Früher sah man beim Blick auf die Werke, dass hier gearbeitet wurde, dass beim Hobeln im sprichwörtlichen Sinne auch Späne fielen. Es rauchte und zischte, Werkssirenen tönten, Lautsprecher waren zu hören, man erkannte Schornsteine und Öfen. Heutzutage ist alles verkapselt und in weiße oder aluminiumfarbene Behälter verkleidet. Permanent werden Daten während der Prozesse gemessen. Die Technik hat sich dem Blick entzogen und sich ein freundliches Antlitz gegeben.
Auch das Braunkohlekraftwerk Schwarze Pumpe sah darum mittlerweile wie eine Hightech-Anlage aus. Und in gewisser Weise war sie das auch, denn Vattenfall hatte Ernst gemacht mit dem Kürzel „CCS“ und ausgerechnet im vermeintlich hinterwäldlerischen Brandenburg das erste experimentelle Kraftwerk mit CO2-Abscheidung gebaut: Carbon Capture and Storage. Schwarze Pumpe war neben dem unweit nordwestlich von Berlin gelegenen Ketzin, wo das verflüssigte Gas zu Forschungszwecken 700 Meter tief in die Erde verpresst wird, eines der Versuchslabore dieser neuen Technik, die bei den Deutschen nie auf Gegenliebe gestoßen ist. Bei ihr ging es nicht nur um den Beweis der technischen Möglichkeit einer Abspaltung, sondern auch um einen Schritt in einer vielleicht lang reichenden Technologiekette: So soll CCS für Prozessemissionen etwa in der chemischen Industrie eingesetzt und Kohlendioxid als Rohstoff genutzt werden können.
Anlass, entsprechende Versuche zu unternehmen, gibt es zuhauf. Weltweit, dies unterstreicht der letzte World Energy Outlook, ist die Kohle wie erwähnt auf dem Vormarsch. In Indien und China wachsen die Kohleimporte aufgrund der rasant gestiegenen Energienachfrage jährlich im zweistelligen Bereich. 2035 wird der Anteil der Fossilen noch drei Viertel an der weltweiten Energieversorgung betragen, ein nur leichter Rückgang im Vergleich zu 2009.63 Der Grund dafür mag im Gesicht all jener, die für eine Reduzierung des Verbrauchs fossiler Energieträger kämpfen, wie eine Ohrfeige wirken: Der Ölpreis ist stärker als der Kohlepreis gestiegen, was mit der Exploration neuer Lagerstätten zu tun hat. Obwohl also mehr Kohle verbraucht wird und sie sowohl verstromt als auch verflüssigt wird, ist der Preis nicht nach oben gegangen.
Der gegenwärtige Blick auf die Welt lehrt vor diesem Hintergrund, dass die grünen Ideen aus Deutschland auch aus ökonomischen Gründen noch keine konsequenten Nachahmer gefunden haben. Die niederländische Shell ist mit über 330 Mrd. Dollar Umsatz im Jahr 2011 der größte Konzern der Welt gewesen, gefolgt von Exxon, Sinopec, BP, Petro China, Chevron und anderen „Big Oils“.64 Während US-Präsident Obama den Klimawandel anfangs noch als ein Leitthema seiner ersten Präsidentschaft bezeichnete und mit Steven Chu einen Klimaschützer und Anhänger des Climate-Engineering zum Energieminister machte, nimmt die politische Klasse das Wort Klima heute nur noch selten in den Mund. Stattdessen fördern die USA, die laut IEA 2017 der größte Öl-Produzent der Welt sein werden, so viel Öl wie nie zuvor und haben mit der Shale-Gas-Revolution den Weg in Richtung neofossiles Zeitalter eingeleitet. Wirtschaftlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit sind die alten und neuen Eckpfeiler der amerikanischen Politik.
Es ist wie alles eine Frage der Geschichte (im Sinne von Story) und wie man sie erzählt. Ob als eine rasante Utopie à la Jeremy Rifkins dritter industrieller Revolution oder als Möglichkeit einer größeren strategischen Unabhängigkeit von anderen Ländern und dem Besinnen auf heimische Stärken: Die erneuerbaren Energien werden zumindest regional in den USA zunehmend Unterstützer finden, da sie die Importabhängigkeit nicht anders als heimische fossile Energieträger verringern und man wie beim Gas zudem keine Ermahnungen durch internationale Abkommen zum CO2 fürchten muss. Kohle, Gas und Ölsande sind aufgrund des Preisverfalls infolge der Erschließung neuer Vorkommen aber in greifbarer Nähe, und solange dies so ist, dürfte sich an der Haltung grundlegend kaum etwas ändern. Peak Oil und Peak Coal sind zumindest gegenwärtig kein Thema.
Tatsächlich ist der Erdgaspreis in den USA um achtzig Prozent gefallen, er beträgt in etwa ein Drittel des Preises, den man in Deutschland zahlt. Über den Energiesektor haben die Vereinigten Staaten eine Re-Industrialisierung eingeleitet, während die Lasten für die Industrie in Deutschland in Summe größer geworden sind und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen am Standort sinkt. Dies gilt vor allem für energieintensive Prozesse. Schon heute sind die Industriestrompreise in Deutschland die zweithöchsten in Europa. Gegenüber den USA oder China ist der Abstand deutlich größer.
Ob die USA, die 2015 der weltweit größte Gas-Produzent sein werden, langfristig besser damit fahren werden, das bestehende System auszubauen, wird sich zeigen. Zu niedrige Energiepreise können nicht minder schädlich sein als zu hohe. Denn sie verhindern Richtungsentscheidungen, die angesichts des Wunsches von immer mehr Menschen, den westlichen Lebensstandard zu erreichen, notwendig sind. Anders als bei den Wegen zur Ressourceneffizienz kann an ihrer Notwendigkeit kein Zweifel bestehen.
Die USA sind für die Ankurbelung der Wirtschaft weiter bereit, Umweltgefahren wie jene beim Öl-Fördern im Golf von Mexiko in Kauf zu nehmen. Doch sie sind in punkto fossile Revolution kein Einzelfall: Auch Kanada, das große Vorkommen an Kohle erschließen wird, wobei die First Nations eine Schlüsselrolle spielen werden, ist aus dem Kyoto-Abkommen ausgetreten. China ist ihm nie beigetreten. Dabei wäre ein Engagement Chinas angesichts der Tatsache, dass Deutschland für drei und Europa für fünfzehn Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich ist, während China und die USA zusammen fast die Hälfte ausmachen, die einzige Chance.
Renommierte Klima-Ökonomen wie Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) weisen mittlerweile in aller Unmissverständlichkeit darauf hin, dass die in Deutschland hochgehaltene Green-Growth-Strategie allein – also der schlichte Zuwachs grüner Technologien – ohne internationale Klimaschutzabkommen ins Leere läuft. Im Gegenteil ist nicht auszuschließen, dass das grüne Wachstum den Klimaschutz blockiert, weil es den Preisanstieg der fossilen Energieträger bremst. Die Chancen für ein internationales Klimaabkommen und einen weltweiten Emissionshandel schwinden mittlerweile massiv. In dem Augenblick, so erwarten Experten, in dem ein Scheitern entsprechender Bemühungen ein für alle Mal offenbar wird, wird es zu einer Abkehr von der Dominanz des Klimathemas in der Energieversorgung kommen.
Allein das zeigt, dass wir nicht autark handeln können, sondern unsere Maßnahmen andernorts Auswirkungen zeitigen. Beim Thema Nachhaltigkeit gibt es sie eben nicht, die Summe der einzelnen Teile, die zum gewünschten Ergebnis führt, sondern statt der Befriedigung vieler kleiner Gewissen vielmehr eine Notwendigkeit zu strategischen Weichenstellungen.
Vor allem aber zeigt sich im Bekenntnis zur Green Economy ein Phänomen, das im Zusammenhang der Bio-Nahrung noch zur Sprache kommen wird: Wir wollen daran glauben, dass grünes Wachstum dazu führt, dass wir den Klimawandel in den Griff kriegen und dennoch über genug Energie verfügen werden. Unabhängig davon, was wir über die Widersprüche und Probleme grüner Technologie wissen. Das Bekenntnis zu ihr erfüllt eine entlastende Funktion.
Ich war noch nie in Südafrika, das ebenfalls ein großer Kohleförderer ist, auch nicht in Mosambik, das nach neuen Funden zu einem der größten Kohleproduzenten der Welt werden könnte. Aber ich sprach am Ende eines Australienurlaubs, der mir die biblische Weite des Outbacks offenbarte, mit einem Experten über das sogenannte Otway Project. Es handelt sich dabei um die erste CCS-Demonstrationsanlage in einem Land, das 75 Prozent seiner Energie aus heimischer Kohle gewinnt, weltweit einer der größten Kohleexporteure ist und mittlerweile auch eine CO2-Steuer eingeführt hat.
Neben einer Pilotanlage wollte man seinerzeit auch in der Lausitz eine Demonstrationsanlage im Industriemaßstab errichten. Ich war vor Ort, als die Tests schon eine ganze Weile liefen und CCS längst kein Geheimtipp mehr war. Und doch hatte ich das Gefühl, etwas in Augenschein zu nehmen, das vielen Menschen noch unbekannt war. Ich fühlte mich wie auf einer Expedition, die einen völlig neuen Zugang zur Natur mit Nutzen für die Gesellschaft eröffnen würde.
Die Geschichte von CCS ist bekannt, sie füllt mittlerweile Bücherregale von Zeitungsartikeln. Sie beginnt mit dem missglückten Versuch von RWE, Kohlendioxid in einer Pipeline nach Schleswig-Holstein zu transportieren und unter die Erde zu bringen. Sie führt weiter über eine ablehnende Haltung etwa aus agrarisch geprägten Kreisen der CSU vor der Bundestagswahl 2009. Weil ein Gesetz der EU indessen drängte, gab es später noch einmal den Versuch, der breiten Erprobung der Technik mit vielen Auflagen zum Durchbruch zu verhelfen.
Im Herbst 2011 zog sich Vattenfall dann aus dem Vorhaben zurück, für einen Milliardenbetrag eine Demonstrationsanlage zu errichten. Die kleine Pilotanlage ließ man indes weiterlaufen und tut dies auch heute noch. Man habe die Unterstützung der Bundesregierung vermisst, wurde Vattenfall-Chef Tuomo Hatakka zitiert. Das Problem war aber die Haltung der Bundesländer, welche die Anwendung von CCS über den Bundesrat blockierten. Die entsprechende Gesetzesvorlage der Bundesregierung, unterirdische Kohlendioxidspeicher zu errichten, fand in der Länderkammer keine Mehrheit.
Im Juni 2012 gab es im Vermittlungsausschuss des Parlaments eine Einigung. CCS wurde zumindest in Demonstrationsanlagen zugelassen. Unter dem Strich musste man aber anerkennen, dass niemand in Deutschland die Technologie haben will. Das hohe Klimabewusstsein der Deutschen hat nicht automatisch zu einer Bejahung von CCS geführt. Auf Umfragen basierende Studien zeigen, dass die CCS-Speicherproblematik bei vielen Menschen gedankliche Assoziationen zu nuklearen Endlagern wie Asse und damit ein entsprechendes Misstrauen gegenüber den politischen Entscheidungsprozessen geweckt hat. Dagegen, so scheint es, helfen keine Argumente.65
Vielleicht ist es das, was am schwersten wiegt: dass wir bei der ablehnenden Haltung hinsichtlich neuer Technologien nicht nur wirtschaftliches Engagement zum Erliegen bringen – das im Falle der Kohle- oder Schiefergasforschung angesichts des internationalen Bedarfs zu einem größeren Technologievorsprung als bei den erneuerbaren Energien führen könnte –, sondern damit verbunden auch das wissenschaftliche Engagement infrage stellen. Denn der Glaube, ein genaues Zukunftsschema zu besitzen und Technologiepfade daher auch wissenschaftlich zu beerdigen, kann trügerisch sein, wie viele Beispiele zeigen.
Die CCS-Technologie wird nun andernorts weiterentwickelt und genutzt. Die weltweit größte Erprobungsanlage für die Abtrennung von CO2 aus Industrieabgasen wurde im Mai 2012 eröffnet. Sie steht in Mongstad in Norwegen, obwohl dort anders als in Brandenburg die unterirdischen Speichermöglichkeiten fehlen. Und doch sieht man das Projekt als eine Art „Mondlandung“. Auch in China gehen die Versuche mit hohen Investitionen weiter. Es sind Liebeserklärungen der ganz anderen als uns Deutschen vertrauten Art an Technik.
Ich habe seit diesem Tag noch häufiger an unseren Führer im Lausitzer Tagebau denken müssen, einen Typ wie aus Volker Brauns Roman Machwerk oder das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer. Für ihn war die Natur kein Ort des Rückzugs und der Besinnung. In ihm lebte der alte Plan fort, die Natur als einen Steinbruch menschlicher Bedürfnisse zu begreifen. Er sagte leise, dass Leute wie ich immer mit einer bestimmten Meinung kämen, meistens keiner guten. Er wirkte wie in der Defensive. Dabei rückte er seinen gelben Helm mit dem Logo seines Unternehmens zurecht, als wäre er ein Ritter, der das Visier für den nächsten Lanzengang richtet.
Ich weiß nicht, ob ich alles von dem, was er mir sagte, verstand. Ich lauschte einfach dem Klang seiner Stimme und sah auf seine linke Hand, die er beim Reden die ganze Zeit in der Tasche versteckte, als wäre sie nicht echt, während die rechte mitsprach. Wir gingen noch ein Stück zur Kantine der Arbeiter, einem jener typischen Industrieflachbauten mit Glasmosaik. Es war eine Kulisse wie aus dem DEFA-Film Spur der Steine. Man konnte sich das Gesicht des jungen Manfred Krug vorstellen, von Hannes Balla, jenem aufmüpfigen Zimmermann auf einer Großbaustelle des Sozialismus, der sich seine eigene Ordnung schafft und sich am Ende wegen der Liebe zu einer Frau doch dem neuen Dreischichtensystem des Parteisekretärs fügt. Der Film beginnt und endet mit einer Aussprache in einer solchen Baracke.
Die Schweden saßen bereits im Bus. Der Tagebau-Mann zog an seiner Zigarette und sagte mit ernstem Gesicht, dass die Menschen in dieser Gegend seit zweihundert Jahren mit der Kohle lebten und dass, wenn die Kohle nicht mehr sei, es hier gar nichts mehr gebe. Die Hornoer hätten das Umsiedlungsangebot darum gern angenommen, zumindest einige. Moderne Wohnungen hätten sie bekommen und eine Abfindung. Mehr als zwanzigtausend Menschen, schätzt man, mussten den Kohlebaggern insgesamt weichen. Die Szene hätte auch irgendwo anders spielen können, im Saarland oder im Ruhrgebiet, denn sie gehört zur Geschichte einer evolutionären Technik und des Sterbens vieler Branchen.
Ich stieg ins Auto und schloss die Tür. Im Radio lief ein Lied aus den achtziger Jahren, das ich aus der ersten Generation des Musikfernsehens kannte. Es fügte sich zur vorbeiziehenden Landschaft wie ein Videoclip. Natur und Technik waren im Einklang. Der aufgeweichte Weg war in eine Landstraße gemündet, die irgendwann zur Bundesstraße wurde. Und dann zur Autobahn in Richtung Norden, in Richtung Berlin. Nach Hause.
Ich sah Hochspannungsleitungen und Windparks und dachte daran, dass man die Kraftwerksblöcke in Schwarze Pumpe und Jänschwalde herunterfahren musste, wenn der Wind blies, auch jetzt im Winter. Irgendwann würde das Frühjahr kommen und mit ihm das Licht und die Wärme. Vielleicht konnte man nirgendwo besser beobachten als in Brandenburg, wie der Mensch die Natur verändert hatte, ohne ihren Gesetzen zu entkommen. Man stieß allerorten auf Artefakte und die Insignien einer Landnahme. Der menschenleere Naturraum: Er war immer schon ein Experimentierfeld der Technik. Im Guten wie im Schlechten.