8. Kapitel

Ember
Drei Jahre Zuvor

»Ich glaube, das ist der letzte Karton«, ächzte ich und hievte das Teil auf eine Ecke des vollgestellten Schreibtisches, die noch frei war.

»Perfekt! Danke, Ember.« Meine neue Mitbewohnerin Safiya tänzelte herein. In den Händen einen riesigen Stapel Bücher, der gefährlich schwankte. »Es ist nett von dir, dass du mir hilfst.«

Wir hatten uns erst vor ein paar Stunden kennengelernt, als wir im Wohnheim angekommen waren und festgestellt hatten, dass die Studienleitung uns zusammengesteckt hatte. Zum Glück waren wir uns auf Anhieb sympathisch gewesen.

»Kein Problem.« Ich schüttelte meine schmerzenden Arme aus und steuerte mein eigenes Bett an.

Ihr Stirnrunzeln entging mir nicht, während sie von ihrer Seite des Zimmers zu meiner und wieder zurück schaute.

»Jetzt mal ganz ehrlich: Wie kannst du mit so wenig Sachen auskommen? Ich hab gefühlt alles von daheim mitgebracht, was ich in die Finger kriegen konnte, dabei müsste ich nur eine halbe Stunde bis nach Hause fahren, falls etwas fehlt.«

Nachdenklich folgte ich ihrem Blick. Safiyas Kartons stapelten sich fast bis zur Decke, während ich nur zwei große Reisetaschen, einen vollgestopften Rucksack und einen Wäschesack voller Klamotten mitgenommen hatte. Dad hatte mehrmals vorgeschlagen, mich persönlich an die McGill University zu fahren, damit wir all meine Sachen in den Kofferraum und auf die Rückbank laden konnten, aber ich hatte abgelehnt. Es war superlieb von ihm, dass er den langen Weg von Golden Bay nach Montréal auf sich nehmen wollte, vor allem, weil er Großstädte hasste, aber es war auch unnötig. Mir reichten ein paar Kleidungs- und Erinnerungsstücke, eine Handvoll Bücher, etwas Geschirr und Notizblöcke. Das ließ sich problemlos auf der Fähre und in den Bussen mitnehmen. Außerdem hatte ich schon vor einigen Jahren gelernt, dass Gegenstände nicht das Kostbarste waren, das man verlieren konnte.

»Ich brauche nicht viel«, erwiderte ich nur und zog den Reißverschluss der ersten Tasche auf.

Jetzt gerade brauchte ich nur mein Handtuch, damit ich nach Safiya in das winzige Bad gehen und duschen konnte, um die lange Reise von mir abzuwaschen. Staub, Schweiß und den Geruch nach überfüllten Bussen. Die letzten Sandkörner von Golden Bay. Meine ganze Vergangenheit.

Kurz darauf ertönten Musik und das Rauschen der Dusche aus dem Bad, und ich hatte einen Moment für mich allein. Während ich nach meinem Handtuch suchte, fielen andere Sachen aus der Tasche. T-Shirts verteilten sich auf der Bettdecke, eine Jeans fiel zu Boden, zusammen mit meinem Ladekabel und …

Ich erstarrte.

Direkt vor meinen Füßen lag eine Holzschatulle, die beim Aufprall aufgesprungen war und deren Inhalt sich auf dem Teppich verteilt hatte. Mit einem Mal spürte ich das Pochen meines Herzens überdeutlich in meinem Brustkorb.

Langsam ging ich in die Hocke und hob zuerst die kleine Kiste auf. Sie war nicht größer als meine Handflächen, wenn ich sie nebeneinander hielt. Das Eichenholz hatte einen warmen Braunton, die Schnitzereien darin zeigten Sonnenblumen und im Hintergrund die Sonne, die hinter den Klippen von Golden Bay unterging.

Rasch blinzelte ich die Tränen weg, doch die riesige Welle an Emotionen überkam mich trotzdem. Grandpa Ernest hatte mir diese Holzschatulle zu meinem siebten Geburtstag geschenkt. Er hatte sie extra für mich geschnitzt und mit meinen Lieblingsblumen und einem meiner liebsten Orte auf der ganzen Insel verziert. Damals war ich so fasziniert davon gewesen, dass ich unbedingt wissen wollte, wie er das gemacht hatte. Also hatte er mir das Schnitzen beigebracht, dann das Streichen, Schleifen, Hämmern und Renovieren. Ab diesem Zeitpunkt war ich ständig bei ihm gewesen und hatte ihm nach der Schule bei der Arbeit geholfen. Manchmal sogar an den Wochenenden, wenn Mom und Dad es mir erlaubt hatten.

»Du hast ein gutes Auge«, hatte Grandpa später zu mir gesagt. »Du siehst das Schöne in den Dingen, die andere Leute wegwerfen würden.«

Das war nur wenige Wochen vor seinem Tod gewesen. Herzinfarkt. In seinem hohen Alter wahrscheinlich keine Überraschung, aber auf mich hatte er immer fit und aktiv gewirkt. Und dann war er eines Tages nicht mehr da gewesen. Keine Warnzeichen. Kein Abschied. Nichts.

Im ganzen Umzugstrubel hatte ich vergessen, womöglich auch verdrängt, dass ich diese kleine Holzkiste eingepackt hatte, doch jetzt drückte ich sie an meine Brust wie das Kostbarste, das ich besaß.

Nacheinander hob ich die Dinge auf, die herausgefallen waren. Eine kleine Muschel und ein paar Steine von den Stränden auf Golden Bay, alte Familienfotos und ein verblasstes Freundschaftsarmband, das mir Shae vor Ewigkeiten geschenkt hatte. Ich hatte sie nicht mehr in den Arm nehmen können, seit ihre Eltern sie von der Insel fortgeschickt hatten. Seither saß sie bei ihren streng religiösen Großeltern fest, irgendwo in einem winzigen Ort in den Nordwest-Territorien Kanadas, und sparte jeden Cent, um von dort wegzukommen und mich in Montréal besuchen zu können.

Seufzend legte ich auch das Freundschaftsarmband zurück in die Schatulle und streckte die Hand nach dem letzten Foto aus. Es war mit der Vorderseite nach unten aufgekommen.

Ich wusste nicht, was mich erwartete, als ich es aufhob. Ein niedliches Bild von Shae und mir als Kinder? Ein Foto meiner Großeltern oder meiner Eltern, als sie noch glücklich miteinander gewesen waren? Ein Bild von Mom? Keine Ahnung. Doch womit ich am allerwenigsten rechnete, war, plötzlich ein Foto von Holden und mir in der Hand zu halten.

Wie betäubt sank ich gegen das Bettgestell in meinem Rücken. Der Schmerz kam schnell – und er kam heftig.

Auf dem Bild wirkten wir total verliebt und völlig voneinander eingenommen. Er hatte den Arm um meine Schultern gelegt, während er mit der freien Hand das Selfie von uns gemacht hatte. Keiner von uns schaute in die Kamera. Wir sahen nur einander an. Lächelnd. Mit einem Funkeln in den Augen. Kurz vor einem Kuss.

Ich konnte mich nicht mal mehr daran erinnern, wann und wo wir es aufgenommen hatten, so sehr hatte ich die Außenwelt damals ausgeblendet. Es hatte nur Holden für mich gegeben. Er war mein Rettungsanker gewesen. Mein Trost. Meine Ablenkung. Mein Fels in der Brandung. Bis er es nicht mehr gewesen war …

Warum tat es noch immer weh? Warum fühlte es sich frisch an, obwohl es doch schon zwei Jahre her war und ich tausend Kilometer entfernt war? Warum kam der Schmerz aus dem Nichts und überrollte mich wie ein verdammter Schnellzug?

Am liebsten hätte ich das Foto zerknüllt, es in eine Million Stücke gerissen, verbrannt und die Asche weggeworfen, wenn ich damit all diese Empfindungen hätte auslöschen können. Und die Erinnerungen.

Stattdessen schloss ich die Augen und atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Ein drittes Mal. Und mit jedem Atemzug begrub ich die Gefühle tiefer in mir. Schloss sie ein. Schob sie so weit von mir wie irgend möglich, um nichts davon je wieder spüren zu müssen.

Irgendwie ziemlich symbolisch, wie ich das Foto zurück in die Holzschatulle legte. Doch gerade, als ich sie zuklappen wollte, entdeckte ich etwas anderes darin: ein zusammengefaltetes Stück Papier.

Mein Herz hämmerte plötzlich viel zu schnell. Das war … Nein, das konnte nicht sein. Warum hatte ich das aufgehoben?

Mit zitternden Händen griff ich nach dem Zettel. Obwohl mein Verstand mich anbrüllte, ihn nicht auseinanderzufalten, ihn auf keinen Fall zu lesen, tat ich es dennoch.

Du bist mein Sonnenschein.

Hab dich lieb, mein Schatz!

Deine Mom

Wenn sich der Anblick des Fotos von Holden und mir angefühlt hatte, als würde mich ein Schnellzug erfassen, dann trafen mich diese wenigen Zeilen wie ein Messer ins Herz. Als würde es jemand mit aller Macht hineinrammen, nur um mich dann hoch zu zerren, in eine Grube zu werfen und genug Erde darüber zu schütten, bis ich an meinen eigenen Emotionen, an meinen Schuldgefühlen erstickte.

»Ember?«

Mühsam kämpfte ich mich an die Oberfläche zurück, blinzelte hektisch gegen die Tränen an und riss den Kopf hoch. »Ja …?«

Safiya war in frischen Klamotten und mit einem Handtuch auf dem Kopf aus dem Bad zurückgekehrt. Jetzt musterte sie mich besorgt. »Alles okay mit dir?«

»Ja. Ja, natürlich.« Hastig faltete ich den Zettel zusammen, legte ihn in die Holzkiste und verschloss sie wieder. Ich hätte mir die Sachen nie anschauen sollen.

»Sicher?«

Ich nickte mehrmals.

»Sehr gut, denn heute Abend findet eine Feier statt. Unsere erste Studentenparty!« Safiya hüpfte vor Freude beinahe auf und ab. »Du musst mitkommen! Ich will da nicht allein hingehen.«

Entschlossen verstaute ich die Schatulle ganz unten in der Reisetasche und die wiederum in der hintersten Ecke unter meinem Bett, wo ich sie nicht so leicht erreichen konnte. Dann stand ich auf und ignorierte das Rumoren in meinem Bauch. »Klar komme ich mit. Kann’s kaum erwarten.«

Das war nicht mal gelogen. Ich wollte das hier. Es war mein Ziel gewesen, seit ich … seit ich nach der Sache mit Mom und Holden wieder hatte klar denken können. Ein konkreter Plan, an den ich mich hatte halten und den ich hatte befolgen können. Keine Ablenkungen. Keine Fehler. Nur dieser Plan, der mich Schritt für Schritt an mein Ziel bringen und mir die nötige Sicherheit verschaffen würde, die ich zu jener Zeit dringend gebraucht hatte.

Und ich hatte es geschafft. Ich war nicht mehr auf Golden Bay in der Bayville Highschool. Ich war in Montréal, auf dem Festland, an der McGill University, einer der angesehensten Universitäten des ganzen Landes. Manche verglichen sie sogar mit Harvard oder anderen Ivy League Colleges. Um hier angenommen zu werden, hatte ich meine ganze Zeit ins Lernen gesteckt. Ich war schon vorher eine gute Schülerin gewesen, aber nach Moms Tod und Holdens Verschwinden hatte ich mir nichts als Bestnoten erlaubt. Freundschaften, Partys, Schlafen, meinen Hobbys, wie dem Handwerken, nachgehen – all das war zweitrangig geworden.

Und jetzt hatte ich erreicht, wovon andere in meinem Alter und aus meiner Heimat nur träumen konnten. Ich würde ein neues Kapitel aufschlagen, studieren, meinen Abschluss machen und erfolgreich sein, aber vor allem würde ich mein neues Leben genießen und alles andere hinter mir lassen.

Allem voran die Liebe. Denn Liebe – das hatte ich auf die harte Tour gelernt – tat immer weh. Und ich trug genug Schmerz in mir, dass es für den Rest meines Lebens reichte.