16. Kapitel

Ember

»Grandma?«, rufe ich Richtung Flur, während ich mich durch die Schubladen und Schränke im oberen Badezimmer wühle. »Wo hast du die Pflaster hingelegt?«

Mein Haar ist noch feucht von der Dusche und fällt mir in leicht gewellten Strähnen auf die Schultern. Ich bin nur hergekommen, um saubere Klamotten zu holen, anschließend will ich gleich wieder zum alten Haus. Seit der Sache mit Holden stürze ich mich in die Arbeit, bin entweder im Blumenladen oder renoviere das Haus. Tue alles, um nicht nachdenken, alles, um nicht fühlen zu müssen. Dabei sollte ich den Schmerz doch mittlerweile gewöhnt sein. Und daran, dass Liebe früher oder später immer wehtut.

Grandma antwortet etwas von unten, aber ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt. Seufzend sehe ich zur Sicherheit noch mal in sämtliche Schränke und Schubladen im Bad – und meide den Blick in den Spiegel. Ich weiß auch so, dass ich dunkle Ringe unter den Augen habe, weil ich nur schlecht und deswegen viel zu wenig schlafe.

Die Schnitte an meinen Fingern, so unpraktisch sie für die Renovierung auch sein mögen, sind dennoch eine willkommene Abwechslung. Ein Brennen auf meiner Haut und ein Schmerz von außen, statt immer nur den zu spüren, der mich von innen heraus auffrisst.

»Grandma?«, rufe ich erneut und poltere die Treppe hinunter.

Dad ist nicht da. Wie ich stürzt er sich in Arbeit. Seit unserem Gespräch vor dem Polizeirevier gehen wir einander aus dem Weg. Ich bezweifle, dass er ein schlechtes Gewissen hat, denn in seinen Augen hat er alles richtig gemacht. Und ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll, das nicht von Wut gezeichnet ist, also schweige ich lieber.

Eine Weile kann ich das durchziehen, aber spätestens wenn ich mit der Renovierung fertig bin, müssen wir wieder miteinander reden. Dad hat mir zehn Prozent des Verkaufspreises versprochen, wenn ich mich darum kümmere, das alte Haus aufzuhübschen und herzurichten – und genau das habe ich in den letzten acht Wochen getan.

Holden hat nichts damit zu tun, abgesehen davon, dass er mir öfter Material vorbeigebracht hat, das auf den Baustellen, auf denen er gearbeitet hat, übrig geblieben ist. Und ich werde nicht zulassen, dass Dad ihn als Argument nutzt, um etwas an unserer Vereinbarung zu ändern. Nicht, dass ich das wirklich befürchten würde, aber wenn es um Holden geht, ist er unberechenbar.

Uuund ich denke schon wieder an ihn …

Frustriert drücke ich die Schublade zu und öffne die nächste in der Kommode im Eingangsbereich. Gibt es überhaupt einen Teil in meinem Leben, der nichts mit Holden zu tun hat?

Montréal, fällt mir spontan ein, doch an die Uni und all die Fragen, die damit einhergehen, will ich genauso wenig denken wie an die Studienkredite mit den horrenden Zinsen, die ich abbezahlen muss.

Verdammt.

Auch in der zweiten Schublade finde ich nicht, was ich brauche, dafür gleich drei kleine Regenschirme, Taschentücher, Postkarten und alte Flyer, auf denen die landschaftliche Schönheit von Golden Bay angepriesen wird.

Hinter mir höre ich Grandmas schleppende Schritte, als sie mithilfe der Krücken aus der Küche in den Flur kommt.

»Hey, hast du …« Meine Stimme verliert sich, als mein Blick an der Anzeige hängen bleibt, die Grandma mit einem schwarzen Stift auf einem der Flyer eingekreist hat.

Golden Crafts – Die Schönheit von Golden Bay
für Ihr Zuhause

Inhaber: Ernest Jacques Jackson

Zimmermeister, Tischlermeister

Etwas in meiner Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass es mein Herz ist, als ich den vertrauten Namen lese.

»Du hast sie aufbewahrt«, sage ich und drehe mich zu meiner Großmutter um. »Grandpas Anzeige.«

Sie steht mit ihren verhassten Krücken im Flur, trotz ihres gebrochenen Beins adrett wie eh und je gekleidet, in einer hochgeschlossenen weißen Bluse und einer weiten weizengelben Hose. Das Haar, das einst dieselbe rotblonde Farbe hatte wie meins, ist schon lange vollständig ergraut, trotzdem trägt sie es lang und hat es heute zu einem dicken Zopf geflochten.

Als ihr Blick auf den Flyer in meinen Händen fällt, wird ihre Miene wehmütig.

»Natürlich«, erwidert sie schlicht. »Golden Crafts war sein ganzer Stolz.«

Daran erinnere ich mich nur zu gut. Nach der Schule bin ich früher ständig zu Grandpa geradelt und habe ihn bei seinen Aufträgen begleitet, ihm geholfen und von ihm gelernt. Manchmal glaube ich, die Firma kurz vor seiner Rente seinem langjährigen Geschäftspartner zu überschreiben, hat mir mehr wehgetan als ihm. Grandpa war zufrieden mit seinem Leben und allem, was er erreicht hatte. Für ihn war es ein guter Abschluss – für mich das Ende eines Kindheitstraums.

Ich blinzle hektisch und lege den Flyer zurück, bevor mehr Erinnerungen und Emotionen hochkommen können, für die ich keinen Raum habe. Nicht, solange so viel in mir noch immer von meinen Gefühlen für Holden eingenommen wird. Nicht, wenn in einer Woche der sechste August bevorsteht; ein Datum, das ich mit jedem Tag, den es näher rückt, ein bisschen mehr fürchte.

»Hast du die Pflaster gesehen?«, frage ich und räuspere mich, weil meine Stimme auf einmal viel zu belegt klingt.

In der untersten Schublade glaube ich, einen Erste-Hilfe-Kasten zu entdecken, doch der stellt sich als Tupperbox heraus, die vermutlich irgendjemandem aus der Nachbarschaft gehört.

»Sind sie nicht oben?«, fragt Grandma und humpelt näher. »Da drinnen sind sie ganz bestimmt nicht.«

Trotzdem schiebe ich suchend Papiere und geöffnete Briefe beiseite, aber es sind dermaßen viele, dass ein ganzer Schwung herausfällt.

Mist.

»Ember …«

»Schon gut.« Ich gehe in die Hocke, um sie aufzuheben und zurückzulegen, aber während ich sie zusammenschiebe, wandert mein Blick ganz von selbst über die bedruckten Seiten, über die Buchstaben und Zahlen.

Stirnrunzelnd halte ich inne. Was zur Hölle …?

Das sind Rechnungen. Jede Menge Rechnungen von Ärzten, Handwerkern, Autowerkstätten über horrende Summen. Und dazugehörige Mahnungen von der Bank. Der letzte Brief, den ich vom Boden aufhebe, ist aus der Klinik, in der Grandma vor etwa einem Monat nach ihrem Sturz im Bad ärztlich versorgt wurde. Er ist ungeöffnet, aber es ist deutlich zu erkennen, dass es sich dabei ebenfalls um eine Rechnung handelt.

»Grandma …?« Langsam drehe ich mich zu ihr um.

Mittlerweile hämmert mein Herz so schnell, dass mir übel wird. Dad hat kurz nach meiner Rückkehr zwar erwähnt, dass unsere Familie Schulden hat, weshalb ich ihn nicht auch noch zusätzlich mit meinen eigenen Geldsorgen belasten wollte. Aber ich bin davon ausgegangen, dass es lediglich um eine Hypothek für unser altes Haus geht. Irgendwelche Darlehen für Instandhaltungskosten, die abzubezahlen sind, obwohl niemand mehr darin lebt.

Er hat nie erwähnt, wie schlimm unsere finanziellen Probleme tatsächlich sind.

»Oh, Liebes …« Ein bekümmerter Ausdruck tritt in ihre Augen.

»Was ist das hier?«, frage ich, obwohl ich es längst weiß. In diesem Moment klinge ich wie ein kleines Mädchen, das verzweifelt an ihrer heilen Welt festhalten möchte, obwohl sie es doch besser wissen sollte. Denn ihre Welt war nie heil.

»Das hättest du nie sehen sollen.« Grandma lächelt angestrengt. Ihre Lippen beben. Ihre Finger zittern.

Automatisch mache ich einen Schritt auf sie zu. »Willst du dich nicht lieber setzen?«

Sie schüttelt den Kopf, also bleibe ich lediglich neben ihr stehen, bereit, sie jederzeit zu stützen.

»Warum habt ihr mir nichts davon erzählt?«, frage ich leise und umklammere den Brief in meinen Fingern.

Grandma tut es mit einer Handbewegung ab. »Das muss dich nicht kümmern. Du bist jung und solltest dein Leben genießen.«

»Natürlich kümmert mich das!«, protestiere ich sofort. »Ihr seid meine Familie. Du und Dad solltet euch nicht allein damit herumschlagen müssen.«

»Anfangs waren es nur ein paar Arztrechnungen, die die Versicherung nicht übernimmt. Dann waren die Waschmaschine und das Auto kaputt, ein Sturm hat letzten Herbst einiges am Haus zerstört, und bei der Reparatur haben sie Wasserschäden gefunden. Die Kosten sind gestiegen und gestiegen, und ich …« Sie blickt betreten zu Boden. »Mit meiner kleinen Rente konnte ich nicht viel ausrichten, also hat dein Vater sich darum gekümmert.«

Jetzt verstehe ich auch die vielen Extraschichten und die Tatsache, dass er kaum daheim ist. Selbst wenn er mir aktuell aus dem Weg geht, hat er schon in den Wochen davor viel gearbeitet. Was auch der Grund dafür war, dass er keine Zeit hatte, sich selbst um das alte Haus zu kümmern, und die Renovierung mir anvertraut hat. Seiner Tochter. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, mich darüber zu informieren, wie schlecht es finanziell wirklich um uns steht.

Ein bitteres Gefühl breitet sich in mir aus. Allem Anschein nach sind wir in dieser Familie viel zu gut darin, Geheimnisse für uns zu bewahren.

Ich sehe auf die neueste Rechnung hinunter. Grandma wurde per Rettungswagen abgeholt. Sie wurde hier vor Ort behandelt und ein paar Tage in der Klinik behalten. Unsere Versicherung übernimmt in einem solchen Fall zwar einen Teil der Summe, aber bei Weitem nicht alles. Und das zusätzlich zu den laufenden Kosten für das alte Haus, Handwerker, Autoreparaturen und all die unvorhersehbaren Dinge, die nun mal passieren, wie der Sturm und der Wasserschaden …

»Was ist, wenn wir die Rechnungen nicht bezahlen können?«, höre ich mich fragen.

Ihre Augen glänzen verdächtig, dennoch lächelt sie aufmunternd. »Dann wird das Leben trotzdem irgendwie weitergehen. Das tut es immer. Mach dir keine Sorgen, Ember.«

»Grandma.«

Sie atmet ein und zittrig wieder aus. Als sie mir schließlich antwortet, kann sie mich nicht einmal ansehen. »Dann verlieren wir euer altes und auch dieses Haus. Alles.«