56. Kapitel

Holden

Der Truck war irgendwie schwerfällig. Das Lenken war anstrengend.

Was, wenn es kein Unfall war?

Embers Worte verfolgen mich seit dem Moment, in dem sie sie ausgesprochen hat. Ich will an einen Unfall glauben. An Pech. Mieses Timing. Schlechte Wetterverhältnisse. Irgendeine Unebenheit auf der Straße oder zu stark abgenutzte Reifen. Denn wenn nichts davon die Ursache für Embers Autounfall war, sondern etwas – oder jemand  – anderes dahintersteckt, drehe ich durch.

Okay, das ist gelogen. Ich drehe jetzt schon beinahe durch. Deshalb parke ich den Pick-up am nächsten Tag auch vor der Autowerkstatt am äußersten nördlichen Rand von Bayville, steige aus und knalle die Tür zu. Ich muss die Wahrheit erfahren. Ich muss mich selbst davon überzeugen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist.

Vor mir erhebt sich das eingeschossige Gebäude wie eine heruntergekommene Festung. Dunkle Fenster. Abblätternde Farbe an der Fassade. Ein Schild mit der Aufschrift Wilson’s Auto Repair , das schon bessere Tage gesehen hat. Die Tore stehen weit offen, und aus dem Inneren sind neben gedämpfter Rockmusik das Surren, Knirschen und Hämmern von Werkzeugen zu hören.

Die Werkstatt steht allein am Ende einer Straße, die neben einer Tankstelle, einem Autohändler, zwei Imbissbuden und einer Handvoll vergessener Wohnblocks nicht viel zu bieten hat. Das Meer ist hier nur aus der Ferne zu sehen, der Golden Bay Beach und die Promenade mit den vielen Touristen scheinen weit entfernt zu sein. Die luxuriöse Ferienanlage, an der ich bis vor Kurzem noch mitgebaut habe, befindet sich nur ein paar Hundert Meter weiter, dennoch liegen Welten dazwischen.

Ich schiebe mir die Sonnenbrille in den Kragen meines T-Shirts und marschiere auf das Gebäude zu. Kies knirscht unter meinen Sneakers. Gleich darauf dämpft der Betonboden meine Schritte. Kühle Luft bläst mir aus der Klimaanlage entgegen, und die bekannte Mischung aus Benzin, Schmieröl, Kaffee und Metall dringt mir in die Nase.

Solange ich mich zurückerinnern kann, habe ich immer gerne an Autos herumgeschraubt – auch wenn ich es hasse, dass Hendrick derjenige ist, der mir die Grundlagen beigebracht hat. Und dass ich diese Leidenschaft für immer mit ihm verbinden werde.

Als ich mich einem alten schwarzen Hyundai nähere, an dem gerade gearbeitet wird, taucht eine bekannte Gestalt hinter der Motorhaube auf. Braunes kinnlanges Haar und noch dunklere Augen. Breite Schultern und ein trainierter Körperbau.

Malik ist mit mir zur Schule gegangen. Er war eine Stufe unter mir. Wahrscheinlich hätte ich ihn nie kennengelernt, wäre er nicht ein so talentierter Eishockeyspieler gewesen. Er war einer der Jüngsten in unserem Team, und ich hätte mein ganzes Geld darauf verwettet, dass er es in die Profiliga schafft.

»Holden.« Er wischt sich die ölverschmierten Finger an einem Lappen ab, dann geht er um das Auto herum. »Lange nicht gesehen, Mann.«

Ich schlage in seine ausgestreckte Hand ein. »Gut, dich zu sehen.«

»Was kann ich für dich tun?« Sein Blick wandert an mir vorbei zu meinem alten Pick-up, aber deswegen bin ich nicht hier.

»Jemand hat mir gesteckt, dass ein Unfallwagen bei euch steht.«

»Jemand also, hm?«

Ich nicke, nenne ihm aber keinen Namen. Ich will nicht, dass Taleisha Ärger kriegt, nachdem sie mir nun schon zum zweiten Mal Informationen verraten hat, die sie nicht hätte weitergeben dürfen. Ihr zufolge landen die meisten Unfallfahrzeuge hier, wenn sie nicht mehr zu gebrauchen sind und die Besitzer sie nicht zurückhaben wollen.

»Verstehe.« Malik nickt bedächtig und bedeutet mir, ihm zu folgen. »Hier entlang.«

Er gibt seinen Kollegen ein Zeichen, dass er kurz Pause macht, dann führt er mich an den anderen Autos vorbei und durch eine Hintertür nach draußen.

Die Sonne brennt heiß auf uns herunter. Auch hier knirscht Kies unter unseren Schuhen. Mein Blick wandert automatisch nach unten – und ich registriere Maliks Humpeln. Er zieht das rechte Bein ganz leicht nach. Fast unmerklich, wenn man nicht darauf achtet.

Als hätte er meine Musterung bemerkt, folgt er meinem Blick, bleibt jedoch nicht stehen. »Knieverletzung. Hab mir beim Skifahren in Mont-Tremblant sämtliche Knochen im rechten Knie und Unterschenkel gebrochen. Danach konnte ich nie wieder Eishockey spielen.«

Was erklärt, warum er auf Golden Bay an Autos herumschraubt, statt in einer Profiliga zu spielen.

»Scheiße.« Mitfühlend verziehe ich das Gesicht. »Tut mir leid, das zu hören.«

Er winkt ab und geht weiter. »Sollte nicht sein. Ich hab schon lange damit aufgehört, mich zu fragen, was hätte sein können, und konzentriere mich lieber auf die Gegenwart.«

Ich wünschte, das könnte ich auch. Doch im Moment deutet nichts darauf hin, dass das allzu schnell passieren wird. Erst recht nicht der Grund, aus dem ich hergekommen bin.

Wenige Sekunden später breitet sich hinter einem Maschendrahtzaun ein wahres Schlachtfeld aus geschrotteten Autos aller Marken, Farben und Größen vor uns aus. Vom unscheinbaren Roller, der inzwischen – platt wie er ist – mehr an eine riesige alte Schallplatte erinnert, bis zu den Überresten eines LK W s ist alles dabei.

Taleisha hat keine Witze gemacht, als sie von einem Autofriedhof gesprochen hat.

»Warum willst du den Unfallwagen überhaupt sehen?«, fragt Malik, öffnet das Schloss und drückt das Tor auf.

Kurz überlege ich, der Frage auszuweichen und ihm irgendetwas zu erzählen, entscheide mich dann jedoch für die Wahrheit. »Weil der Wagen, ein dunkelroter GMC Truck, meiner Freundin gehört. Ember Jackson.«

»Ember?« Malik wirft mir einen überraschten Blick zu. »Ihr seid noch zusammen? Oder wieder? Bist du nicht ohne sie von der Insel abgehauen?«

»Jepp.« Ich seufze tief und winke ab. »Es ist kompliziert. Aber darum bin ich nicht hier. Ich hab einen Verdacht, dem ich gerne nachgehen würde.«

»Einen Verdacht?« Seine dunklen Brauen schießen in die Höhe. »Die Cops haben den Wagen freigegeben, weil es ein Unfall war. Wieso glaubst du, mehr herausfinden zu können als sie?«

»In den letzten Jahren hab ich in einigen Werkstätten wie dieser gearbeitet und dabei einiges aufgeschnappt. Und ich hatte schon immer eine Schwäche für Autos.«

Eine Schwäche, die jemand wie Hendrick auszunutzen wusste. Anfangs hat er noch mein Interesse gefördert, nur um mich dann dazu zu benutzen, Autos für ihn zu knacken, Einzelteile auszubauen und in seinem Auftrag zu stehlen. Das war mein erster Fehler, der erste Schritt in Richtung Kriminalität. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich diesem Mistkerl niemals vertraut.

Schweigend marschieren wir an den verunglückten Autos vorbei. Manche sehen ganz neu aus, bei den meisten ist jedoch bereits die Karosserie verrostet und der Lack splittert ab.

»Da wären wir. Wurde gestern Abend vorbeigebracht.« Mit ausgestrecktem Arm deutet Malik auf den roten Truck. Oder auf das, was davon übrig geblieben ist, denn die Beifahrerseite ist vollkommen eingedrückt und auf der Fahrerseite fehlt die Tür. Die Feuerwehrleute mussten sie herausschneiden, um Ember aus dem Wagen zu holen.

Allein bei der Vorstellung dreht sich mir der Magen um. Ich beiße die Zähne zusammen und nähere mich dem Auto. Die Kratzer vorne sind neu und stammen vom Aufprall. Das seitliche Fenster und die Windschutzscheibe sind zerschmettert. Glasstücke liegen auf den Sitzen und funkeln im Sonnenlicht.

Ember hat gesagt, dass sie Probleme beim Lenken hatte und ihr der Truck schwerfällig vorkam, also gehe ich in die Knie, leuchte mit dem Handy unter den Wagen und überprüfe nacheinander die Lenk- und Spurstangen an der Vorderachse, soweit ich sie sehen kann und rankomme. Sie wirken etwas abgenutzt, genau wie die Gelenke und Aufhängungsteile, aber ich kann nichts Ungewöhnliches daran erkennen. Auch Malik nicht, als er sich neben mich auf den staubigen Boden kniet.

Als Nächstes öffnen wir mit einem ohrenbetäubenden Quietschen die zerbeulte Motorhaube.

»Die Bremsleitungen scheinen intakt zu sein«, murmelt er. »Keine Anzeichen von Lecks, auslaufender Bremsflüssigkeit oder Manipulation.«

Ich nicke und schaue mir den Rest des Motors an. Ein Teil hat ziemlich unter dem Unfall gelitten, aber was ich sehe, wirkt normal. Keine Fremdkörper, die da nicht hingehören. Keine Schäden, die nicht durch den Unfall verursacht wurden.

Doch als ich mich auf die Reifen konzentriere, insbesondere auf den geplatzten vorne rechts, erstarre ich.

Neben mir atmet Malik zischend aus. »Das kommt nicht vom Unfall.«

»Nein …«, bestätige ich tonlos. Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren, während ich auf die gleichmäßigen Einstichstellen starre. Zu unscheinbar, um aufzufallen, wenn man nicht genau danach sucht. Zu klein, um zu einer sofortigen Gefahr zu werden. Aber mit genug Abnutzung ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Reifen während der Fahrt platzt.

Schnell überprüfe ich die anderen Reifen. Auch hier finde ich unmerkliche Einstichstellen. Embers Unfall war kein Zufall oder schlechtes Timing.

Er war Absicht.

Übelkeit explodiert in mir. Ich balle die Hände zu Fäusten und muss mehrmals tief durchatmen, um mich unter Kontrolle zu halten.

Fassungslos schüttelt Malik den Kopf. »Wer macht so einen kranken Scheiß?!«

Jemand, der sie tot sehen will.

Von Taleisha und Ember selbst weiß ich, wo genau sie von der Straße abgekommen ist. Entlang der Küste. Auf dem Weg zu ihrem alten Elternhaus. Sie hätte aus der Kurve fliegen und samt Auto die Klippen hinabstürzen können. Ember hätte draufgehen können, wenn sie nicht schnell genug reagiert und den Truck in die andere Richtung gelenkt hätte. Wenn sie die Insel nicht so gut kennen würde.

Fuck!

Ich starre auf das Wrack, das wie ein verdammtes Mahnmal der Zerstörung vor mir steht. Es grenzt an ein Wunder, dass Ember nur ein paar Kratzer und Prellungen abbekommen hat, aber die Wut in mir brodelt wie ein Vulkan, nur Sekunden davor, auszubrechen und alles zu vernichten.

Ein Zittern wandert durch meinen Körper. Meine Gedanken überschlagen sich. Was, wenn der Angriff auf Ember nur der Anfang ist? Wenn der Raser, der vor ein paar Wochen beinahe meine schwangere Schwester angefahren hätte, die erste Warnung war und ich sie ignoriert habe? Was, wenn da draußen tatsächlich jemand darauf aus ist, uns zu zerstören – mich zu zerstören?

Jemand hat mit Absicht an Embers Auto herumgepfuscht, um den Unfall zu verursachen. Jemand, der mir etwas mitteilen, es mir heimzahlen will – und die Botschaft könnte nicht deutlicher sein.

Ich wusste, dass ich mich nicht hätte in Sicherheit wiegen sollen. Ich wusste, dass Hendrick oder Remi dahinterstecken müssen. Allerdings sitzt Ersterer noch immer in Haft und wartet auf seinen Gerichtsprozess. Und Remi? Niemand hat ihn gesehen. Niemand hat von ihm gehört. Aber irgendwo muss der Wichser abgeblieben sein. Er ist zwar untergetaucht, aber es würde zu ihm passen, wenn er noch immer hier ist. Wenn er Hendricks Imperium Stück für Stück an sich reißt und mich aus dem Weg räumen will. Und dabei ist er klug genug, sein neues Hauptquartier nicht bei den Sugar Shacks aufzuziehen, welche die Cops durchsucht haben. Die ich durchsucht habe.

Die Warnung von jener Nacht hat sich förmlich in mein Gehirn gebrannt: Das wirst du noch bereuen.

Ich hätte darauf hören sollen. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht vorbei ist.

Und wenn Remi Ember beinahe umgebracht hat, dann werde ich mich das nächste Mal, wenn ich ihm begegne, nicht mehr zurückhalten können. Das nächste Mal gehe ich nicht als Unschuldiger ins Gefängnis.

Verzweiflung schnürt mir die Kehle zu. Ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass ein scharfer Schmerz durch meinen Kiefer schießt.

Die Dunkelheit meiner Vergangenheit hängt über mir wie ein verdammter Fluch, aber ich werde nicht zulassen, dass sie alles mit sich reißt, was mir wichtig ist. Vor allem nicht Ember.

Mich zusammenzuschlagen, ist das eine. Aber der Rest? Die Sache mit Gemma? Embers Unfall? Was kommt als Nächstes?

Alle Menschen, die mir wichtig sind, schweben in Gefahr – Ember, unsere gemeinsamen Freunde und Freundinnen, meine und auch ihre Familie. Es wird nicht aufhören. Solange ich in Golden Bay bin, ist jeder von ihnen ein potenzielles Ziel.

Dabei bin ich der Grund, aus dem all das passiert. Aber wenn ich nicht mehr hier wäre … Ich schlucke hart, doch die Übelkeit bleibt und tost wie ein wildes Tier durch meine Eingeweide.

Wenn ich alle warne, jedem von ihnen die ganze hässliche Wahrheit erzähle und von Golden Bay verschwinde – wären sie dann wieder in Sicherheit? Gibt es überhaupt eine Alternative, etwas anderes, das ich tun kann?

Ich weiß nicht, wer genau dahintersteckt, ich kann es nur vermuten.

Ich weiß nicht, wo ich den Drecksack finden und wie ich das Ganze beenden kann.

Ich weiß nicht, was zur Hölle ich tun soll, damit das, was Ember zugestoßen ist, nie wieder jemandem passiert, den ich liebe.

Die ganze Zeit über starre ich auf das, was von dem Truck übrig geblieben ist, und male mir aus, was alles hätte passieren können.

Ember könnte noch im Krankenhaus sein.

Auf der Intensivstation.

In einem Sarg.

Fuck!

Habe ich überhaupt eine Wahl?