60. Kapitel

Holden
Dreieinhalb Monate Zuvor

»Ihre Sachen.«

Ich starrte auf die Gegenstände in der Plastiktüte, die mir der Wärter rüberschob. Es waren die Dinge, die ich in jener Nacht bei mir getragen und die sie in meinem Pick-up gefunden hatten.

Auto- und Wohnungsschlüssel.

Mein Geldbeutel mit ein paar armseligen Dollarscheinen.

Mein Handy – tot, da es natürlich keine der netten Wachen aufgeladen hatte.

Ein silbernes Armband mit einem kleinen Anhänger in Form einer Sonnenblume. Ihr Armband.

Dazu die vielen Briefe, die Mom und Gemma mir im Laufe der letzten zwei Jahre geschrieben hatten.

Die Klamotten von damals hatte ich bereits wieder angezogen, auch wenn der Hoodie spannte. Im Knast gab es nicht allzu viel Beschäftigung, also hatte ich mich, wie viele andere Insassen auch, ins Training gestürzt.

Für meine eigene Sicherheit, sodass sich nach einer Weile kaum noch jemand mit mir hatte anlegen wollen, aber auch, um nicht komplett durchzudrehen.

Die Zeit innerhalb dieser dicken grauen Mauern hatte mich härter gemacht. Stärker. Rauer. Ich hatte gelernt, für mich zu bleiben und zuzuschlagen, bevor mein Gegenüber es tun konnte. Hilfe gab es hier drinnen keine. Jeder war auf sich allein gestellt.

Das waren die Lektionen, die ich in die Freiheit mitnehmen würde.

Nacheinander steckte ich alles ein, verstaute das Armband in meiner Hosentasche und drückte die Briefe an mich. Als ich nach draußen trat und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit keine Mauern und kein Elektrozaun zwischen mir und der Außenwelt stand, atmete ich tief durch.

Die Luft war warm und drückend, die Wolken hingen tief, und der Geruch von Staub und Abgasen lag in der Luft, doch das war mir egal. Ich war frei. Endlich.

Entschlossen ging ich zu meinem Pick-up, der auf dem Parkplatz stand. Nach dem Raubüberfall hatten die Cops ihn konfisziert. Wenigstens hatten sie ihn nicht behalten. Dieser Wagen war so sehr zu einem Teil von mir geworden und eine der wenigen Verbindungen, die ich noch zu meiner Vergangenheit hatte. Zu meinem alten Leben. Zum Holden von früher.

Der Junge von damals war dort drinnen langsam verkümmert und krepiert; genau wie meine Erinnerungen, die von Tag zu Tag verschwommener geworden waren. Unerreichbarer.

Seufzend ließ ich mich auf den Fahrersitz fallen und zog die Tür zu. Ich hatte keinen Plan und keine Ahnung, wo ich hinsollte. Mom und Gemma hatte ich nichts von meiner Entlassung erzählt. Ich hatte das Datum in all unseren Briefen und Telefonaten für mich behalten aus Angst, dass es nicht wahr werden könnte. Dass sie es sich anders überlegen und mich doch nicht wegen guter Führung früher gehen lassen würden. Dass irgendetwas schiefging, was zur Folge hatte, dass ich noch länger in diesem Höllenloch schmoren musste.

Die Enttäuschung meiner Familie hätte ich nicht ertragen. Und meine eigene auch nicht.

Langsam griff ich in meine Hosentasche und zog das Armband hervor.

Zwei Jahre. So lange war es her, seit ich es das letzte Mal in der Hand gehalten und angeschaut hatte.

Zwei Jahre, seit ich das erste Mal durch diese Türen getreten und nicht mehr rausgekommen war.

Zwei verfickte Jahre meines Lebens – für nichts. Für etwas, das ich nicht getan hatte. Für ein Verbrechen, das ich nicht begangen hatte, aber das war dem Richter egal gewesen.

Die Gesetze in diesem Land waren hart. Für bewaffneten Raubüberfall konnte man in Kanada lebenslang in den Knast wandern, wenn auch mit der Chance auf Bewährung, dafür aber mit einer fetten Vorstrafe. Die Mindeststrafe betrug vier Jahre plus einen Eintrag ins Strafregister. In manchen Fällen – wie in meinem – kam es zur Anklage wegen Beihilfe. So gesehen hatten Aaron und ich beide »Glück« gehabt: Er hatte nur zehn Jahre gekriegt, während ich mit einer Verurteilung zu zweieinhalb Jahren davongekommen war. Als ich in Untersuchungshaft gesessen hatte, hatte ich noch gehofft, dass sich alles aufklären und man mich gehen lassen würde. Ich war schließlich unschuldig, oder nicht? Ich hatte keine Gesetze gebrochen, sondern sogar versucht, mit Aaron zu reden, ihn aufzuhalten und dieser Frau das Leben zu retten.

Dann hatte ich von meiner Vorstrafe erfahren. Drogenbesitz im Alter von achtzehn Jahren. Ein Eintrag in meiner Akte, der nie hätte existieren sollen. Mr. Jackson hatte versprochen, dass ich frei sein würde, wenn ich die Insel verließ. Dass er nicht gegen mich vorgehen würde.

Von einem offiziellen Vermerk in meiner Akte hatte ich nichts gewusst. Und da Aaron während der Tat high gewesen war, war es nicht allzu schwer für den Staatsanwalt gewesen, eine hübsche Geschichte zu spinnen und mich ebenfalls wegsperren zu lassen.

Der Eintrag in meine Akte, den Embers Vater mir reingedrückt hatte, hatte zwar nicht mein Leben zerstört, aber dennoch eine wichtige Rolle bei meiner Anhörung und Verurteilung gespielt.

Ich schloss die Finger um das Armband. Der Gedanke an Ember hatte mich in den letzten knapp fünf Jahren ständig begleitet, aber im Knast hatte er mich am Leben erhalten. Die Erinnerung hatte mich angetrieben. Und der Drang, ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Die ganze Wahrheit.

Mein Blick fiel auf die Briefe auf dem Beifahrersitz. Zwischen den Umschlägen blitzte eine cremefarbene Karte mit Goldschrift auf. Ich fischte sie heraus und betrachtete sie.

Gemmas Hochzeit fand Anfang Juni statt. Sie heiratete einen Mann, den ich nie zuvor gesehen, getroffen oder gesprochen hatte. Einen Fremden, aber sie liebte ihn. Und sie hatte mich eingeladen, ohne zu wissen, ob ich freikommen würde oder nicht.

Aber so war meine Schwester. Immer hoffnungsvoll.

Entschlossen legte ich die Einladung zurück auf den Stapel, steckte das Armband ein und startete den Motor. Vorhin war ich noch der festen Überzeugung gewesen, kein Ziel und keinen Plan zu haben, doch das stimmte nicht mehr.

Ich hatte sogar mehrere Ziele.

Ich würde nach Golden Bay zurückkehren und mir mein altes Leben zurückholen.

Ich würde auf Gemmas Hochzeit gehen.

Ich würde Ember finden und ihr endlich die ganze Wahrheit sagen.

Aber vor allem würde ich alles dafür tun, nie wieder in diesem Drecksloch zu landen.