Wie viele Paare im Deutschen Reich erlebten Loki und Helmut Schmidt den 8. Mai 1945, den Tag der Kapitulation, getrennt voneinander. Helmut Schmidt befand sich in einem britischen Gefangenenlager in Belgien, Loki wohnte seit Ende Januar 1945 zusammen mit ihren Eltern in deren armseliger Behausung in Hamburg-Neugraben. Für beide bedeutete dieser Tag die Befreiung von den Schrecken des NS-Regimes, ihr persönliches Glück erfüllte sich aber erst etliche Wochen später, als sie sich am 24. August vor der Haustür der Glasers in die Arme nehmen konnten. In späteren Interviews berichtete Loki immer wieder von diesem einschneidenden Ereignis: wie sie plötzlich den Familienpfiff gehört habe, aus dem Haus gestürzt sei und dann ihr Mann in seiner abgerissenen Kleidung vor ihr gestanden habe, die aus Tarnstoff selbst genähte Hose nur mit einem großen Druckknopf am ausgehungerten Körper zusammengehalten.
Nach den schrecklichen Kriegsjahren konnten die beiden nun auf einen glücklichen, gemeinsamen Aufbruch in eine neue Zeit hoffen. Eine Woche später hält Helmut Schmidt in seinem Taschenkalender fest:
»Man gewöhnt sich doch recht schnell an den Alltag – an die kleinen Sorgen und das große Glück. Die Jahre, die hinter uns liegen: Glück und Unglück – wir sind übereingekommen, sie als Vorschuss auf unseren jetzt erst regelrechten Beginn der Ehe aufzufassen, da doch der Soldat während des Krieges gar kein Anrecht auf persönliches Leben hat und unsere vier gemeinsamen Jahre uns somit unverdient in den Schoß gefallen sind. Vielleicht hilft uns diese Philosophie über das drückende Bewusstsein und die scheußliche Beschränkung unserer gegenwärtigen Armut hinweg.«[116]
Bedrückende Armut und Hunger werden die Schmidts in den nächsten beiden Jahren jedoch vorerst weiter begleiten. Zunächst galt es, eine eigene Wohnstatt zu finden. Loki hatte bereits in Neugraben Ausschau gehalten und eine »Wohnung« für sich unter der Adresse Barkendal 22 ausfindig gemacht. Hier zog das junge Ehepaar am 1. September gemeinsam ein. Diese erste Nachkriegsunterkunft der Schmidts bestand aus einem einzigen Zimmer, zum Glück mit einem funktionierenden Ofen. Es hätte zwar nicht vieler Gegenstände bedurft, um die neue Bleibe einzurichten, aber die Schmidts verfügten buchstäblich über keinerlei Besitz mehr. Sie hatten alles in Schmetzdorf zurücklassen müssen, und an eine Reise in die nun sowjetisch besetzte Zone, um ihren Hausstand nach Neugraben zu überführen, war gar nicht zu denken. So war es an der Verwandtschaft, bei der Einrichtung zu helfen. Vom Brotmesser bis zum Kopfkissen musste alles organisiert werden, und mit der handwerklichen Unterstützung von Lokis Vater entstanden bald ein Bett und andere unentbehrliche Möbelstücke.
Zwar erhielt Loki Schmidt zunächst noch ihr Lehrerinnengehalt, aber allzu viel war damit in dieser ersten Zeit nach dem Ende des Krieges nicht zu erreichen. Hamstern und sogar auch Betteln gehörten für das Paar zum täglichen Leben. Später erzählt Helmut Schmidt von Tagen im Winter 1945/46, an denen sie beide gar nicht erst das Bett verließen: Draußen war es zu kalt, und sie waren beide zu hungrig, um aufzustehen.
In der Bedrückung richtete sich der Blick auf die Zukunft. Loki hatte einen Beruf, Helmut Schmidt jedoch stand mit seinen bald siebenundzwanzig Jahren ohne jede Ausbildung da. Schon in der Kriegsgefangenschaft hatte ihn diese existenzielle Situation stark beschäftigt und der Architektenberuf erschien ihm jetzt erneut bedenkenswert. So entwarf und zeichnete er im Lager ein bescheidenes »Zweizimmer-Kleinstadthäuschen«, und er dachte dabei vielleicht an seine und Lokis Zukunft im Hamburger Vorort Neugraben. Gleichzeitig beschäftigte ihn eine eher wirtschaftlich ausgerichtete Berufsperspektive und er besuchte die im Lager von Mitgefangenen angebotenen Vorlesungen zur Volkswirtschaftslehre und Buchhaltung.
Jetzt aber war es an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Die beiden Schmidts saßen an ihrem selbst gezimmerten Esstisch und berieten über Helmuts berufliche Zukunft. Zu hochfliegenden Plänen bot ihre Lebenssituation keinen Anlass. Man war sich also schnell einig, dass Helmut das auf sechs Semester angelegte Studium der Volkswirtschaftslehre an der zum Wintersemester wieder eröffneten Universität Hamburg aufnehmen sollte. Ein Architekturstudium stand nicht zur Debatte, es hätte erheblich mehr Zeit und Kosten beansprucht und wäre zudem nur in Hannover oder an noch weiter entfernten Studienorten möglich gewesen. Insbesondere eine erneute Trennung kam für das Paar nicht in Betracht und wäre für Loki Schmidt auch in anderer Hinsicht eine unzumutbare Belastung gewesen: Im Juni hatte sie wie alle anderen Beamten und Angestellten der Stadt einen Entnazifizierungsbogen der britischen Militärregierung ausfüllen müssen und nun, im Herbst, noch immer keinen Entscheid erhalten. Wie das ausgehen würde, konnte niemand voraussagen.
Wenige Tage später erkundigt sich Schmidt bei einem Dozenten über das avisierte Studienfach. Noch ist allerdings gar nicht klar, ob er überhaupt zum Studium zugelassen wird. Zunächst einmal muss er sich an der Universität eintragen, dann wird aus dem Kreis der Bewerber entschieden, wer mit dem Studium beginnen darf. Mehr als 10000 Bewerber gibt es, Studienplätze jedoch nur knapp 3000. Nicht zuletzt spielt die politische Vergangenheit der Bewerber eine gewichtige Rolle. Für das Paar war das noch einmal eine beunruhigende Wartezeit. Im Oktober endlich erhält Helmut Schmidt eine Zusage. Am 30. Oktober 1945 immatrikuliert er sich formell an der Fakultät für Rechts- und Staatswissenschaft.[117]
Das im September 1945 von den beiden so einmütig verworfene Architekturstudium gewinnt in späteren Aufzeichnungen und Erinnerungen von Helmut Schmidt eine größere Bedeutung. Unter den beschriebenen Umständen der damaligen Wochen und Monate wirkt dies erstaunlich, bedenkt man aber, dass ihm sein späteres Image als »Macher« und Krisenmanager wenig gefallen hat, so wird die starke Betonung einer möglichen anderen Berufswahl als die des Ökonomen und Politikers zumindest aus der späteren zeitlichen Distanz nachvollziehbar und verständlich. Eine realistische Alternative war dies im Herbst 1945 aber nicht.
Seit Mitte Oktober wissen die beiden Schmidts auch, dass Loki erneut ein Kind erwartet. Im ersten Moment erschien eine Schwangerschaft den beiden »nicht gerade als das Allerwünschenswerteste«. Doch schon wenige Tage darauf notiert Helmut Schmidt: »Wir freuen uns heute schon sehr.« Danach wird auch die Familie in höchst origineller Form über die Aussicht auf ein Enkelkind informiert: Zum Geburtstag von Lokis Mutter überreichen die beiden mit unverhohlenem Stolz einen »Gutschein über ein Enkelkind, lieferbar im Juni 1946«.[118] Dass diese Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt endete, war für das Paar ein schwerer persönlicher Schlag.