Die Menschen in Deutschland hat es immer interessiert, wie und wo die Bundeskanzler der Republik privat leben und gelebt haben. Wenn man etwas über die alltäglichen Wohn- und Lebensverhältnisse so bedeutender Politiker erfährt, glaubt man, sich ein besseres Bild vom Charakter der Repräsentanten des Staates machen zu können. Sicher spielt auch Neugier eine Rolle. Leben sie abgehoben auf großem Fuß oder in gutbürgerlichen Verhältnissen, wie es einem Durchschnittsbürger eher vertraut wäre?
Adenauers Haus in Rhöndorf am Rhein, Kohls Bungalow im pfälzischen Oggersheim bei Ludwigshafen und Schmidts »Reihenhaus« im hamburgischen Langenhorn – in Wirklichkeit war es natürlich ein Doppelhaus – sind der deutschen Öffentlichkeit besonders vertraut. Alle drei Kanzler empfingen in ihren Privathäusern Staatsgäste, und alle drei Staatsmänner haben den Medien manchmal mehr als nur einen Türspalt breit Blicke in das Innere ihrer Wohnungen erlaubt. Mit ihren Familien lebten sie über Jahrzehnte in diesen Häusern, und alle drei starben schließlich auch in ihren Häusern. Bilder und Gefühle, die sich in der eigenen Biographie mit den Kanzlern Adenauer, Kohl und Schmidt verbinden, werden oft auch Assoziationen zu ihren privaten Domizilen wecken. Bei Konrad Adenauer ist es ein Haus am Hang des Rheinufers mit herrlichem Blick, sind es seine Rosenbeete und die Bocciabahn im Garten. Beim Gedanken an den Bungalow von Helmut Kohl tauchen Bilder einer kleinbürgerlich wirkenden Familie an der Heimorgel auf, der Schäferhund im Garten, Präsident Clinton mit Ehefrau Hillary vor dem Hauseingang und, später dann, das Drama um die Ehefrau Hannelore. Bei den Schmidts kommt einem vor allem die Ausstrahlung eines unprätentiösen, fast unscheinbaren Siedlungshauses aus Hamburger rotem Backstein in den Sinn, das sich auf den ersten Blick nur durch die Bewachung von den anderen Häusern im Viertel unterscheidet. Das Haus wirkt so, wie man sich die Schmidts vorstellt: bodenständig, funktional und bescheiden halt.
Wenn man das Langenhorner Doppelhaus der Schmidts betrat, wurde der Besucher sofort eingenommen vom Anblick des stattlichen Steinway-Flügels im großzügigen Eingangsbereich und den vielen Kunstwerken an den Wänden von Wohn- und Esszimmer. Die Schachecke des Ehepaares mit den beiden Stühlen, die ihre Namen als Intarsienarbeit auf den Rückenlehnen trugen, zeugten von ihrer Verbundenheit im Schachspiel, genauso wie ihre Bibliothek mit historischen, literarischen und biologischen Buchbeständen nicht nur von den privaten Interessen des Ehepaares, sondern auch von einem reichen Arbeitsleben zeugten. Der enorm große Buchbestand im Haushalt der Schmidts führte dazu, dass faktisch jeder Wohnraum des Hauses für die Unterbringung der Bücher genutzt werden musste. Die Privatbibliothek der Schmidts umfasst annähernd 5000 Bücher, von denen inzwischen jeder einzelne Titel, einschließlich der Kommentare des Altkanzlers, in einer Datei erfasst ist. Es lohnt sich, den Gesamteindruck des Hauses bei einem virtuellen Rundgang auf der Internetseite der Helmut und Loki Schmidt Stiftung am heimischen Computer einmal nachzuerleben.
Das Haus der Schmidts war und ist ein Spiegel ihrer gemeinsamen Interessen und der »Leidenschaften«, die sie als Ehepaar verbanden. Natürlich ist das Haus damit auch das Produkt einer langen, fast fünfzigjährigen Entwicklung. Es hat sich mit dem Paar verändert, seine Geschichte ist auch ein Stück der Geschichte des Paares.
Schon wenige Tage nach ihrem Einzug am 15. Dezember 1961 zeigten sich die Schmidts mit dem neuen Haus sehr zufrieden. »Und siehe, es war gut« steht neben einigen der ersten Fotos in einem der vielen Alben der Schmidts. Als der Fotograf Sven Simon – ein Sohn Axel Springers und ehemaliger Schüler an Loki Schmidts Othmarscher Schule – Loki und Helmut im Sommer 1962 vor ihrem Hause ablichtete, bot sich dem Fotografen ein offenbar stolzes und gut gelauntes, schick gekleidetes und jugendlich wirkendes Paar (siehe Bildteil). Der Bauträger, die Wohnungsbaugesellschaft »Neue Heimat«, hätte daraus ein Werbefoto machen können!
Ja, die Schmidts waren mit ihrem Haus hochzufrieden. Es war funktional, es gab viel Grün um das Haus herum, und es war, wie wir sehen werden, ausbaufähig. Über die vielen Jahrzehnte, die sie hier lebten, haben die Schmidts Haus und Umgebung so gestaltet, dass sie sich hier wohl fühlen konnten, zunächst zu dritt mit Tochter Susanne und ab Ende der siebziger Jahre zu zweit als Paar.
In diesem Haus stand Loki Schmidt Mitte der Sechziger ihre tiefe Lebenskrise durch. Die vertraute Häuslichkeit, der Garten und das geliebte, nur wenige Hundert Meter entfernte Diekmoor waren sichere Terrains und gaben ihr Halt. In glücklichen wie in schweren Zeiten war der Neubergerweg für Helmut und Loki Schmidt immer eine Heimat. Das Haus in Langenhorn aufzugeben und, als sie das Geld hatten, in ein feineres Domizil an Alster oder Elbe umzuziehen, wäre ihnen nie in den Sinn gekommen.
»Wo immer wir nach langen Reisen her kamen, Loki und ich haben uns immer gefreut, in unser Haus hierher zurückzukommen«, hat Helmut Schmidt mir gegenüber einmal geäußert,[281] ein Satz, der zeigt, wie sehr das Paar sich mit seinem Haus in Langenhorn identifizierte. Im Dezember 1961, wenige Tage vor Weihnachten, waren die Schmidts vom Zickzackweg aus dem vornehmen Othmarschen ins eher kleinbürgerliche Langenhorn gezogen. Sie lebten am äußersten nördlichen Rand dieses Stadtteils, denn vom Neubergerweg ist die Landesgrenze nach Schleswig-Holstein kaum mehr als einen Kilometer entfernt, die Stadt Hamburg ist hier zu Ende. Dass der Neubergerweg im Wahlkreis des Bundestagsabgeordneten lag, war natürlich ein gewichtiges Argument für den Hauskauf gewesen. Als die Schmidts einzogen, war die Wohnsituation noch nahezu ländlich, heute hat sich die Vorstadt mit ihrer Wohnbebauung längst bis zum Neubergerweg ausgebreitet. Auch wenn es heute noch viel Grün gibt, die Schnepfen und Rebhühner, über die sich die zwei »Birdwatcher« damals freuten, kann man hier heutzutage nicht mehr beobachten.
Das Ehepaar Schmidt hatte verhältnismäßig spät von den Bebauungsplänen der Wohnungsbaugesellschaft »Neue Heimat« erfahren. Um den bislang ländlichen Neubergerweg herum sollte eine neue kleinere Anlage mit Doppelhäusern errichtet werden. Als die Schmidts den Kaufvertrag für ihr Haus unterschrieben, war das Fundament bereits gelegt. Für den Hauskauf mussten sie 128000 DM aufbringen, ein erheblicher Teil der Kaufsumme wurde über ein Bankdarlehen abgedeckt. Mit dem Erwerb einer Doppelhaushälfte hatten die Schmidts zusätzlich eine gute Lösung für die inzwischen im Ruhestand lebenden Eltern Helmut Schmidts gefunden. Die gemeinsame Wohnsituation am Neubergerweg gestaltete sich unkompliziert: In den vorderen, zur Straße gelegenen Teil des Doppelhauses zog Familie Schmidt Junior ein, das hintere Haus bewohnten die Eltern, Familie Schmidt Senior. Im Grundbuch sind beide Ehepartner, Loki und Helmut Schmidt, als Besitzer eingetragen, aber auf dem Türschild aus Messing stand nur »Helmut Schmidt«. Man könnte meinen, dies sei dem damaligen Zeitgeist geschuldet, wenn nicht eben dieses Schild – leicht verwittert – den Besucher noch heute so empfangen würde. Varianten wie »Schmidt«, »Familie Schmidt« oder gar »Hannelore und Helmut Schmidt« hatten nicht zur Debatte gestanden.
Das Türschild im Neubergerweg
Nach dem Tod von Ludovika, der Mutter Helmut Schmidts, im Jahre 1968 und dem Umzug des Vaters in ein Altersheim 1971 übernahmen die Schmidts auch die zweite Haushälfte, sodass Tochter Susanne aus dem elterlichen Teil dorthin wechseln konnte. 1974 bildete den Auftakt für diverse Veränderungen. In diesem Jahr gab es umfangreiche Um- und Erweiterungsbauten: Zu Lokis siebzigstem Geburtstag entstand der Anbau eines Gewächshauses, 1992 erwirbt das Paar eine Hälfte des benachbarten und ursprünglich baugleichen Doppelhauses, und schließlich kommt der Neubau eines eigenen Archivhauses hinzu. Letzteres war notwendig geworden, weil das Archiv Helmut Schmidts auch nach seiner Kanzlerzeit weitergeführt worden war und bereits Ende der neunziger Jahre zum größten privaten Nachlass eines bundesdeutschen Politikers angewachsen war. Betrachtet man rückblickend die Geschichte des einst unprätentiösen Wohnhauses am Neubergerweg, so war aus einer anfänglich eher bescheidenen Doppelhaushälfte der »Neuen Heimat« am Ende ein durchaus großzügiger Wohnkomplex für ein gut situiertes, prominentes Ehepaar geworden.
Mit der gemeinnützigen und gewerkschaftsnahen Wohnungsbaugesellschaft »Neue Heimat« hatten die Schmidts seit den frühen fünfziger Jahren gute Erfahrungen gemacht. Schon die Wohnung in Barmbek hatten sie von der »Neuen Heimat« gemietet, ihr erstes Haus am Zickzackweg von ihr gekauft, und am Neubergerweg konnte der für Architektur begeisterte Helmut Schmidt schon während der Bauphase eigene Ideen einbringen. So entstand nach seinen Plänen durch die Aussparung einer Zwischendecke ein bis unter das Dach reichender Eingangsbereich zum Wohnzimmer. Diese Veränderung verlieh dem Haus räumliche Großzügigkeit und ließ gleichzeitig eine etwa sechs Meter hohe Innenwand entstehen, die viel Platz für die Kunstschätze des Paares bot.
Durch den Erweiterungsbau Mitte der Siebziger wurde in diesem Vorbereich des Wohnzimmers auch Raum für den schon erwähnten Steinway-Flügel geschaffen: mächtig, schwarz, der Deckel belegt mit einem kunstvollen, schweren Läufer. Der Flügel ist Blickfang und Aussage zugleich: In diesem Haus hat Musik Bedeutung! Tatsächlich gehörte das Klavierspiel zum Leben im Hause Schmidt, der Hausherr spielte regelmäßig. Das große, kostbare Instrument war also nicht Dekor, sondern notwendiger Teil der Einrichtung. Ebenso war eine vollständig eingerichtete Schachecke unverzichtbarer Bestandteil des Wohnens für die Schmidts. So viel »Luxus« musste sein.
Das Mobiliar der Schmidts – Sessel, Sofas, Tische und Gestühl – orientierte sich mit den klaren Formen, hellen Farbtönen und der Leichtigkeit am Stil der skandinavischen Moderne. Plüschiges Dekor oder schwere Sessel hätte man sich in der Wohnung des jungen Paares auch gar nicht vorstellen können.
Bereits 1973, als Schmidt noch Finanzminister war, hatte sich das Paar für einen Umbau und eine Erweiterung seines Hauses entschlossen. Insbesondere wollten sie ein größeres Esszimmer haben, dafür musste zur Straße hin angebaut werden. Vor den 1974 fertiggestellten Anbau setzten sie einen Trakt mit vier Garagen und einer kleinen Wache für die Personenkontrolle und die Videoüberwachung des gesamten Grundstücks. Seitlich, zum Garten hin, wurde auf Wunsch von Loki Schmidt ein mit Glas umbautes, etwa acht Meter langes Schwimmbecken mit einer Gegenstromanlage gebaut. Für die Hausherrin war das tägliche Schwimmen ein echter Gewinn an Lebensqualität. Im Keller fand dann noch eine kleine Sauna Platz. Mit diesen Umbauten sowie der Erneuerung von Bädern und Küche hatten die Schmidts das Haus mit Weitblick modernisiert und dem Lebensstandard der Zeit angepasst, größerer Veränderungen hat es danach im engeren Wohnbereich allerdings nicht mehr gegeben. Zumindest Küche und Bad wirken daher für den heutigen Besucher ein wenig wie aus der Zeit gefallen.
Über alle Veränderungen baulicher Art und in der Inneneinrichtung berieten und entschieden die Schmidts im Einvernehmen. Ein einziges Mal blitzte Helmut Schmidt mit einem Vorschlag bei Tochter und Ehefrau ab: Als er zwischen Wohn- und Esszimmer eine kleine Bar mit einem Flaschenregal, Tresen und Barhockern einrichten wollte, sprachen sich Loki und Susanne strikt dagegen aus. So eine Bar sei etwas für Snobs, den Vorschlag hielten sie – im wahrsten Sinne des Wortes – für eine Schnapsidee, und überhaupt, bei welcher Gelegenheit wolle man denn da sitzen?
Die Einwände fruchteten aber nicht, und der Hausherr setzte sich durch. Sein Hauptargument war, dass so eine kleine Bar bei größeren Gesellschaften im Hause Schmidt ein zwangloses Miteinander fördere, was sich nach Aussage von Loki Schmidt auch tatsächlich bewahrheiten sollte. Nicht nur bei privaten Feiern, auch bei den exklusiven »Freitagsgesellschaften« und bei vielen Besuchen prominenter Politiker bot die ehemalige »Schnapsidee« Gelegenheit zum entspannten Gespräch. Es gibt ein Foto von Valéry Giscard d’Estaing, auf dem er auf einem der Barhocker sitzt und vom Hausherrn bedient wird. Daneben sitzt Loki Schmidt. Das berühmt gewordene Foto zeigt unbestreitbar eine entspannte, fast private Atmosphäre zwischen dem französischen Präsidenten und dem deutschen Kanzlerehepaar.
An der Hausbar mit Loki Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing
Auch die ab 1985 im Winterhalbjahr einmal pro Monat stattfindenden Treffen der Freitagsgesellschaft begannen immer hier an diesem Ort. Dicht gedrängt standen und saßen dann gut zwölf Mitglieder dieses Kreises an der Bar – vom Hausherrn auch »Kneipe« genannt –, nahmen einen von dem »Barkeeper« und früheren Personenschützer Otti Heuer servierten Drink und knüpften die ersten Gesprächsfäden. »Ottis Bar«, so der inoffizielle Name der Schmidt’schen Hausbar, diente dazu, dass alle miteinander warm wurden, als Übergang von draußen nach drinnen, für Neulinge oder Gäste in der Freitagsgesellschaft auch zum Ablegen von anfänglichen Hemmungen.
Der Dissens über die Einrichtung einer Bar war in der Familie nach der Inbetriebnahme schnell vergessen. Man könnte sagen, die Schmidts hatten einen guten Kompromiss gefunden: ein Schwimmbecken für sie und eine Bar für den Hausherrn.
Die Umbauten am Langenhorner Wohnhaus brachten den Schmidts zehn Jahre später Unannehmlichkeiten aus gänzlich unerwarteten Gründen, als nämlich im Gefolge des Skandals um die »Neue Heimat« auch Fragen nach der Finanzierung des Umbaus und einer Bevorzugung durch mögliche Vergünstigungen in der Öffentlichkeit auftauchten. Die Sache verlief ohne weitere Konsequenzen, denn Vorteile habe sich die »Neue Heimat« vom Ehepaar Schmidt nicht erhoffen können. »Sie schafften sich einfach mit solchen Gesten ein wohlwollendes Umfeld«, befand der Spiegel und stellte fest, dass der Politiker Schmidt sich ohnehin nicht mit den finanziellen Fragen des Umbaus beschäftigt habe: »Mit solchen Dingen war üblicherweise Ehefrau Hannelore befasst.«[282]
Ein tägliches Zusammenleben mit ihren Eltern gab es für Susanne Schmidt nur in den knapp vier Jahren nach dem Einzug in das Haus am Neubergerweg 80, als Helmut Schmidt Innensenator von Hamburg war, und das auch hauptsächlich nur mit ihrer Mutter. Helmut Schmidt bekamen Tochter und Ehefrau in dieser Zeit eher selten zu Gesicht. Das Hamburger Senatorenamt war schon zeitaufwändig genug, da er aber auf der Bonner Bühne weiter präsent und vertreten sein wollte, war er zusätzlich viel in der Republik unterwegs. Am Neubergerweg hatte Helmut Schmidt im ersten Stock des Hauses ein Arbeitszimmer bezogen. Tochter Susanne erinnert sich lebhaft, dass er dort – wenn er denn zu Hause war – vorrangig anzutreffen war und viele Stunden an seinem Schreibtisch verbrachte. Ihren Vater erlebte sie, wie sie selbst formuliert, als »ein Arbeitstier«, sein Arbeitszimmer sei tabu gewesen, und sie klopfte nur an, wenn sie etwas Besonderes von ihm wollte.[283] Dennoch gibt es in den Alben der Schmidts auch Fotos von gemeinsamen Musik- und Spieleabenden der Familie, allzu häufig wird es dazu jedoch nicht gekommen sein.
Die traditionelle Rollenteilung zwischen den Eheleuten blieb auch nach der Kanzlerschaft und der Rückkehr aus Bonn bestehen. Für die Geschäfte des Alltags sah sich Loki zuständig. Ihr Mann war beruflich weiterhin an die zehn Stunden am Tag beschäftigt, ihn mit Dingen des Haushalts zu befassen, kam ihr auch nach seiner Zeit als aktiver Politiker nicht in den Sinn. Sie hatte mittlerweile eine Haushaltshilfe, die alle Besorgungen und die Vorbereitungen der Mahlzeiten erledigte. Das Kochen übernahm Loki Schmidt dann selbst. In der Familie Schmidt bevorzugte man eine kräftige Kost, man aß gern »gutbürgerlich«. Loki erfüllte jedoch mitnichten das landläufige Hausfrauenklischee, sie war ganz im Gegenteil eine emanzipierte Frau, die nicht nur im Beruf aktiv gewesen war, sondern als Naturschützerin und Stiftungsvorsitzende gesellschaftliche Aufgaben erfüllte, die ihr viel bedeuteten. Als Autorin, Rednerin und Interviewpartnerin war sie zudem eine gefragte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.
Wenn Helmut Schmidt in Hamburg war, arbeitete er zwei bis drei Tage in der Woche in der ZEIT, zu deren Herausgebern er seit 1983 gehörte. Freitags nahm er fast immer an wichtigen Redaktionssitzungen teil. In den letzten zehn Jahren ihres gemeinsamen Lebens reduzierte er die Arbeitstage auf sechs bis sieben Stunden. Das hieß, dass er den Neubergerweg spätestens gegen 11 Uhr verließ und gegen 18 Uhr zurückkam. Seine Neigung zur Nachtarbeit am Schreibtisch war geblieben. Er ging also regelmäßig sehr spät zu Bett und schlief morgens gern länger. Er sei ein »Nachtmensch«, sagte er von sich selbst. »Unser ganzes Leben lang musste ich ihn wecken«, sagte Loki über ihn. Beim gemeinsamen Frühstück kamen dann bis zu vier Tageszeitungen auf den Tisch: die Süddeutsche Zeitung, das Hamburger Abendblatt, die Welt und die FAZ. Gelesen wurde in einer festen Abfolge, meist gaben sie sich Hinweise, was der andere auf keinen Fall auslassen sollte.[284] Nachmittags oder abends wurden die Wochenzeitschriften ZEIT und Spiegel gelesen. Wichtige Artikel wurden »gegilbt« und für den anderen aufbewahrt. Nachrichten und politische Sendungen, auch Naturdokumentationen, schaute man sich im Fernsehen an. Unterhaltungsendungen oder der Tatort gehörten nicht zur Fernsehkost der Schmidts. Da spielten sie dann doch lieber zwei oder drei Partien Schach, fanden sie.
Auch nach der Bonner Zeit empfing das Ehepaar Schmidt am Neubergerweg bekannte Politiker aus aller Welt, ob Valéry Giscard d’Estaing, Giulio Andreotti, Königin Beatrix aus den Niederlanden oder Henry Kissinger. Gerald Ford blieb sogar über Nacht. Er wurde im Gästezimmer in der Doppelhaushälfte der Eltern einquartiert. Dort hatten die Schmidts zwar nach dem Auszug des Vaters streichen lassen, aber eine bauliche Modernisierung hatte es nicht gegeben. Sicher war das für den amerikanischen Spitzenpolitiker eine eher ungewohnte Umgebung. Die internationalen Gäste brachten die große Welt und internationales Flair nach Langenhorn. Sie kamen gern und fühlten sich ganz offensichtlich wohl, ungeachtet des im Vergleich einfachen Wohnstandards der Schmidts.
Zwei besonders wichtige Tage im Jahr waren die Geburtstage des Paares. Zu seinem Geburtstag wurden über sehr viele Jahre immer wieder Gäste aus dem engeren Hamburger Freundeskreis geladen. Die Feier von Lokis Geburtstag verband das Ehepaar mit dem von ihnen so betitelten »Sippentreffen«. In ihrer Kindheit hatte Loki die Tradition des großen Familientreffens bei der Großmutter kennen- und lieben gelernt. Nun war sie es, die diese Familientradition fortsetzte. Außer ihren Verwandten waren immer auch die Familie Wolfgang Schmidt, von Helmuts jüngerem Bruder, und natürlich das Ehepaar Berkhan eingeladen. Friedel und Willi Berkhan gehörten zur Familie, darüber gab es keine zwei Meinungen. Das Haus war dann gefüllt, selbst das große Esszimmer war zu klein, denn es kamen wirklich alle von Jung bis Alt. Nach Lokis Tod fand das jährliche Treffen der Großfamilie ein abruptes Ende. Obwohl Helmut Schmidt es vermisste, mochte er allein nicht mehr dazu einladen.
Neben der Wohnung am Neubergerweg 80 hatte das Ferienhaus am Brahmsee eine nahezu gleichrangige emotionale Bedeutung für die Familie Schmidt. Der etwa drei Kilometer lange Eiszeitsee fügt sich harmonisch in die Moränenlandschaft ein, hier kann man baden und segeln, Vögel beobachten und in der Natur leben. Sommerferien ohne den Brahmsee konnten sich die Schmidts über fast fünf Jahrzehnte hinweg nicht vorstellen, und so fuhren sie jedes Jahr im Juli oder August hierher.
Ganze 30 Quadratmeter groß war das außen mit Eternitplatten verkleidete Holzhaus der Schmidts, das sie 1958 hatten errichten lassen. Es war Platz für zwei halbe Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine Kochnische. Eine Heizung gab es nicht, zunächst auch keinen Strom, für Wasser und zum »Plumpsklo« musst man nach draußen.
Im Frühjahr und bei Besuchen im Winter wurde mit einem Petroleumofen geheizt. Einmal, in den Sechzigern, funktionierte der Abzug des Ofens nicht, und es war nur dem Zufall zu verdanken, dass Loki in der betreffenden Nacht aus dem Bett fiel, ihr Mann davon aufwachte und Schlimmeres verhindern konnte. »Sonst wären wir beide tot gewesen«, berichtete Helmut Schmidt später eher nüchtern.[285] Anfang der Siebziger und noch einmal in den Achtzigern wurde das Haus umgebaut. Es gab nun eine Heizung, eine abgeschlossene kleine Küche, ein Arbeitszimmer für ihn und eine Außensauna. Für die Sicherheitsbeamten wurde eine Wache errichtet.
Bei allem neuen Komfort, das Feriendomizil der Schmidts war weit entfernt von dem Standard, den die meisten anderen Häuser um den See herum inzwischen hatten. Die Schmidts aber vermissten nichts, und sie lebten gut mit dem Ruf ihrer sympathischen Bescheidenheit, die sich nicht nur in Langenhorn, sondern auch hier am Brahmsee zeigte. Erst als Loki Schmidt im hohen Alter in ihrer Beweglichkeit stark eingeschränkt war, beklagte sie die Einschränkungen in ihrem Ferienhaus.
Ansonsten erzählten die Schmidts ausschließlich Positives über den Brahmsee, sehen wir einmal davon ab, dass der Hausherr einige Male mit seinem Segelboot kenterte und im Anschluss hämische Kommentare darüber in der Presse lesen musste. »Einen so schlechten Steuermann kann man nicht länger als Bundeskanzler brauchen«, hieß es 1977 zum Beispiel im Spiegel.[286]
In das Segelboot stieg Helmut Schmidt meist zusammen mit Willi Berkhan, sie waren eingespielte Segelfreunde. Wenn Loki und Helmut zusammen segelten, übernahm sie meist den Part des Vorschoters, das Segeln war nicht ihre Leidenschaft. Sie fand das Schwimmen im See deutlich attraktiver, täglich absolvierte sie frühmorgens ihre Strecken, manchmal schwamm sie die etwa 500 Meter bis auf die andere Seeseite und zurück. Für den begleitenden Personenschützer war das nicht immer ein Vergnügen, denn auch bei Wassertemperaturen von 15 Grad ließ sie das morgendliche Schwimmen nicht aus.
Am Brahmsee konnte die Familie Schmidt (fast) ungestört von Dienstpflichten ein vertrautes Familienleben führen, und die Einheimischen halfen dabei. Als mit Beginn der siebziger Jahre zahlreiche Touristen eigens zur Besichtigung der Schmidts anreisten, wimmelten die Ortsbewohner diese norddeutsch freundlich ab. »Welche Schmidts?«, hieß es dann, oder »Da kommen Sie doch nicht ran! Und auch vom See her ist nichts zu erkennen.«[287] Fraglos hatte Helmut Schmidt auch hier Vorgänge zu erledigen, und natürlich reisten auch hier politische Besucher an, aber grundsätzlich herrschte für die Familie das Gefühl vor, sich am Brahmsee von den Arbeitslasten erholen zu können und Zeit füreinander zu haben. Man genoss den See und die Natur rundum, freute sich über den Besuch von Freunden, wanderte und unternahm Ausflüge. Oft auch zusammen mit Tochter Susanne. Der Brahmsee verband sich für die Schmidts mit einem Gefühl von Freiheit. Das zeigte sich bei Helmut Schmidt auch in der äußeren Erscheinung. Statt in korrekter und stets gepflegter Kleidung traf man ihn hier im unkonventionellen Freizeitlook und gelegentlich sogar mit Bart.
Die Familie in den traditionellen Sommerferien am Brahmsee, 1960
Die Freunde Friedel und Willi Berkhan waren wie die Schmidts jeden Sommer im eigenen Ferienhaus, das nur einen Steinwurf entfernt lag. Ein einziges Mal wagten sie sich zwecks Abwechslung in die Berge, brachen ihren Urlaub dort aber vorzeitig ab und kreuzten reumütig wieder am Brahmsee auf. Wenn ihr Mann am Schreibtisch saß, ging Loki Schmidt gern zu den Berkhans, spielte mit ihnen Skat oder ging mit ihnen auf kleinen Wanderungen zum Beerenpflücken oder Pilzesammeln.
In der Idylle am Brahmsee empfingen die Schmidts auch prominente Freunde, zum Beispiel Justus Frantz, dessen Konzerte beim Schleswig-Holstein Musik Festival sie oft besuchten. Sie freuten sich auf die regelmäßigen Besuche des Ehepaares Hans-Jochen und Liselotte Vogel und auf Siegfried Lenz und dessen Frau Lilo.
Bei ihren Museumsbesuchen in der norddeutschen Umgebung standen immer das Nolde Museum in Seebüll und die für den Expressionismus bekannte Gemäldesammlung des Landesmuseums Schloss Gottorf in Schleswig an oberster Stelle. Im Sommer 2014, als Loki Schmidt schon mehrere Jahre verstorben war, stattete er beiden Museen spontan noch einmal eine Art Abschiedsbesuch ab.
Zu Martin Urban, dem Leiter der Nolde Stiftung Seebüll, unterhielten die Schmidts ein nahezu freundschaftliches Verhältnis. Fuhren sie dorthin, wurden sie von Urban geführt und anschließend privat eingeladen. »Loki und ich haben über sehr viele Jahre hinweg im Sommer vom Brahmsee aus Seebüll besucht; es war jedes Mal eine ergreifende Freude für uns, so viele und so unterschiedliche Noldes an einem Tage zu erleben – und jedes Mal Gespräch und Kaffee und Kuchen bei den gastfreundlichen Urbans. Ich verdanke Martin Urban mehr an Einsichten, als er vielleicht ahnt.«[288]
Mitte der achtziger Jahre gab es am Brahmsee noch einmal ein großes neues Projekt. Die Schmidts erwarben in ihrer Nachbarschaft ein etwa 6,5 Hektar großes Gelände, einen ehemaligen Roggenacker, um dort dem Prozess der »natürlichen Sukzession«, also der von Menschen nicht gestörten Entwicklung von Pflanzen- und Tierbesiedlung freien Raum zu geben. Seit zehn Jahren war diese ehemalige Ackerfläche nicht mehr landwirtschaftlich genutzt worden. Loki Schmidt hatte bereits beobachtet und dokumentiert, welche Pflanzen sich dort quasi naturwüchsig angesiedelt hatten. Mit dem Kauf des Grundstücks wollte das Ehepaar sicherstellen, dass dieser Prozess sich ohne menschliche Eingriffe auch weiterhin fortsetzen konnte. Ermuntert und begleitet vom Interesse ihres Mannes setzte Loki einiges an Zeit und Energie in dieses neuerliche Naturprojekt. Alle Veränderungen in Flora und Fauna wurden übers Jahr immer vom gleichen Standort aus fotografiert und in Listen dokumentiert. Sie bahnte eine Kooperation mit dem Botanischen Institut der Universität Kiel an, schuf öffentliche Aufmerksamkeit und veröffentlichte 1997 in einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift einen detaillierten eigenen Forschungsbericht. Der Ordinarius und Leiter des Botanischen Gartens der Universität Bonn, Wilhelm Barthlott, charakterisierte »Lokis Urwald« – so hieß das Projekt inzwischen im Freundeskreis der Schmidts – als die »herausragende wissenschaftliche Leistung« unter den vielen biologischen Projekten Loki Schmidts und als eine »Pionierleistung des wissenschaftlich fundierten Naturschutzes«.[289]
Für Helmut Schmidt war es das erste Projekt seiner Frau, welches er hautnah miterlebte und das für ihn zu den Besonderheiten der Aufenthalte am Brahmsee zählte. »An den Brahmsee kommen Wissenschaftler aus Kiel, die sich mit Ornithologie und Biologie beschäftigen; sie haben inzwischen auf unserem Grundstück über dreißig verschiedene Vogelarten kennengelernt«,[290] berichtete er noch 2014 mit einiger Begeisterung. »Lokis Urwald« hatte für ihn bis zuletzt auch eine emotionale Bedeutung, war dieses Stück Natur doch ein sichtbarer Ausdruck von Lokis Lebensleistung als Botanikerin und Naturschützerin und gleichermaßen auch ein Sinnbild des gemeinsamen Lebens am Brahmsee.