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Mein Förderunterricht ist nach einer Stunde zu Ende. Diese Schüler brauchen vor allem eine Zusammenfassung und ständige Wiederholung. Ich hole Mikroskope und Objektträger und lasse sie Lernkarten zu den Zellteilungsstadien anlegen, die wir demnächst in einem Test behandeln werden. Mit Farbstiften sollen sie Mitose und Meiose zeichnen und die einzelnen Stadien eigenständig benennen.

Die Flure sind leer. Viele von uns bleiben noch da, um sich vorzubereiten oder um Nachhilfe zu geben, aber manche sprinten schon vor den Schülern hinaus, sobald die letzte Stunde vorbei ist. Im Gegensatz zu vielen Schulen in Kalifornien, zum Beispiel dort, wo ich aufgewachsen bin, besitzt diese hier eine Klimaanlage. Neben der Hitze, die im Herbst am größten ist, haben wir gelegentlich auch Smogalarm.

Ich gehe zu Mr Mortons Chemieraum. Morgen trifft sich das Team für die Wissenschaftsolympiade, und ich möchte ihn fragen, ob er der zweite Trainer werden möchte. Zwar ist er ganz neu und möglicherweise der schlechteste Lehrer auf der Welt, aber ich kann das Team nicht mehr allein leiten. Letzten Monat musste ich krankheitshalber zwei Trainingssitzungen absagen.

Obwohl es mir eben noch gut ging, bibbere ich und ziehe meine Strickjacke fester um mich. Es ist zu kalt hier drinnen, wenn keine Schüler mehr da sind. Meine Herzfrequenz erhöht sich. Ich merke, wie nervös ich werde, weil ich ihn um Hilfe bitten will.

Glücklicherweise ist niemand bei ihm. Wenn ich Lehrern, die glauben, sie wären allein im Gebäude, unangekündigt einen Besuch abstatte, sehe ich hin und wieder Dinge, die ich lieber nicht sehen würde. Ich habe gesehen, wie Mr Tang, der Geschichtslehrer, sich die Nasenhaare schnitt, wie Miss Schilling mit aufgeknöpfter Hose dasaß, aus der ihr weicher Wanst quoll, und wie Brads Vater, der Hausmeister, in seinen Wischmopp sang und durch die Flure tanzte. Ich wäre eine gute Einbrecherin geworden, denn kein Einziger hat mich bemerkt, obwohl ich es mitnichten darauf angelegt hatte, mich anzuschleichen.

Ich fürchte, an einem dieser Spätnachmittage werde ich noch ein Lehrerpärchen in flagranti erwischen. Halbwegs rechne ich schon damit, Mr Morton hier drinnen mit Dara vorzufinden.

»Hey, Mrs Garner.« Mr Morton fährt mit einer Hand durch sein kastanienbraunes Haar und streckt sich, reckt die Arme in die Luft. Schülerarbeiten liegen vor ihm ausgebreitet. An der weißen Tafel hinter ihm stehen Gleichungen, die erfreulicherweise sinnvoll erscheinen. Sein Klassenzimmer macht einen geordneten Eindruck, Arbeitsblätter liegen in Kästen, Bücher stehen in Reih und Glied, alle Bleistifte stecken in Bechern.

»Miss genügt.« Ich klinge spröde, selbst für meine altmodischen Ohren. »Nennen Sie mich Gal.«

»Oh, wirklich?« Er steht hinter seinem Pult auf, kommt herum und bleibt vor mir stehen. Sein Blick ist warm. Ich meine, er ist buchstäblich so warm, dass mein Frösteln verfliegt. »Heißt das, dass Sie mich George nennen?«

»Höchstens aus Versehen.« Ich räuspere mich. »Ich bin hier, um Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten.«

Er runzelt die Stirn.

»Keine Sorge, es ist ein guter Vorschlag.« Ich merke, dass ich rot werde. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht der zweite Trainer für das Wissenschaftsteam werden wollen. Ein Nachmittag die Woche, einige Samstage, wenn der Wettbewerb bevorsteht. Es sind ungefähr vierundzwanzig Kinder. Was meinen Sie?«

»Ich wollte mich schon freiwillig melden!« Er klatscht in die Hände. »Teufel auch, klar mach ich das!«

»Sie sollten auf Ihre Sprache achten, Mr Morton.« Entspannt nehme ich wieder meine Lehrerrolle ein. »Wir sind hier an einer katholischen Schule. Da darf man das gehörnte Wort nicht aussprechen.«

»Entschuldigung.« Er lehnt sich ans Pult wie ein gerüffelter Schüler. Fast tut es mir leid, ihm gesagt zu haben, dass er auf seine Worte achten soll. Ich sehe, dass seine Schultern breit und fest sind und er einen kleinen Bauch bekommt. Vermutlich verbringt er nicht gerade jede freie Minute im Fitness-center. Ich frage mich, was er in seiner Freizeit wohl so macht.

Bevor sich irgendeine Art von Gespräch ergibt, summt das Handy auf seinem Tisch. Daras Bild leuchtet auf dem Display. Er wirft einen Blick darauf. Er hat sogar schon ihr Foto in seinem Telefon.

»Ich muss weiter. Gehen Sie ruhig ran.« Ich wackle mit dem Finger in seine Richtung. »Dara wartet nicht gern.«

»Wir sehen uns morgen.« Er hebt eine Hand zum Gruß und greift gleichzeitig nach dem Handy. Ich bin vergessen, bevor ich den Chemieraum verlassen habe.

Die Stadtbücherei ist mehr oder weniger menschenleer, als ich dort nach Riley suche. Die Bibliothekarin meint, sie nicht gesehen zu haben, aber andererseits gehen so viele Kinder von allen Schulen dort ein und aus, dass ich nicht sicher sein kann, ob das auch stimmt.

Ich steige in den Wagen und fahre nach Hause. Ich bin spät dran, weil ich noch am Laden angehalten habe, um Tiefkühlkost und Gemüse für sie einzukaufen, was jetzt alles im Auto vor sich hin schmilzt. Wo ist meine Nichte? Vielleicht macht sie einen kleinen Spaziergang. Vielleicht wurde sie gekidnappt. Vielleicht hat Brad sie überredet, mit ihm einen Burger essen zu gehen. Wieso bin ich zu geizig, mir ein Handy zuzulegen? Schluss damit. Das hat oberste Priorität. Zwei Handys.

Genau deshalb hat meine Mutter graue Haare.

Riley ist fünfzehn. Und wenn ich an Becky denke, kann ich mir vorstellen, dass Riley schon sehr, sehr lange auf sich selbst aufpasst. Wir sind beide nicht daran gewöhnt, jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen.

Verdammt, haben wir eigentlich irgendwelche Regeln besprochen? Habe ich überhaupt Regeln? Nein, aber sie sollte genug gesunden Menschenverstand besitzen. Ich jedenfalls hatte welchen. Hoffentlich ist der genetisch darwinisiert worden.

Zu Hause hole ich einen Rest Hacksteak aus dem Kühlschrank und setze mich auf die Couch, zu müde, um aufzustehen und den Fernseher anzustellen. Eine Feder bohrt sich mir in die Hüfte. Nichts als Ärger mit den alten Möbeln. Die Sonne geht auf der anderen Seite des Hauses unter, sodass es im Wohnzimmer schon dunkel ist.

Ich schlafe auf der Couch ein. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, bis die Haustür auf- und wieder zugeht. »Tante Gal? Warum sitzt du hier im Dunkeln?« Riley knipst das Licht an. Draußen höre ich ein dumpfes Röhren und ein Auto, das wegfährt. Brad.

»Du warst nicht in der Bücherei. Ich konnte dich nicht finden.« Ich möchte gern laut werden, bin aber zu müde. »Wo warst du?«

»Bei Freunden aus der Schule.« Sie will sich in ihr Zimmer verdrücken.

»Mit Brad?«

Riley senkt den Blick. »Wir waren bei Samantha daheim. Danach hat Brad mich hergefahren. Wir haben gelernt.«

»Waren Samanthas Eltern zu Hause?« Ich erinnere mich, dass beide arbeiten.

Sie sieht mich offen an. »Ja.«

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Acht. Ich sollte sie um fünf abholen. Ihre Augen sind klar, das Weiße in ihnen ist weiß, nicht rot. Sie riecht nicht nach irgendetwas Illegalem. Sie steht auf festen Beinen. Ihre Kleidung ist nicht ungeordnet. Ich glaube nicht, dass sie mir die ganze Wahrheit sagt, beschließe aber, es dabei zu belassen. »Ich freue mich, dass du Freunde gefunden hast.«

»Mmm.« Riley zieht sich auf ihr Zimmer zurück.

»Hausaufgaben gemacht?«, rufe ich.

»Jep.«

Da fällt mir etwas anderes ein, was ich nicht bedacht habe, woran ich aber hätte denken sollen. Ich muss um neun im Dialysezentrum sein und bin nicht vor morgen früh zurück. Ich gehe in ihr Zimmer. Stünde da kein Koffer, sähe es nicht so aus, als würde sie hier wohnen. »Ich schlafe im Dialysezentrum, Riley. Kommst du allein zurecht? Ansonsten könntest du auch auf einer Liege in meinem Zimmer schlafen. Oder vielleicht auch bei Dara.« Nicht dass ich Dara gefragt hätte. Ich werde leicht panisch. Ich habe zu viele wichtige Details übersehen.

»Als hätte mich meine Mutter nie über Nacht allein gelassen.« Riley lächelt verkniffen.

Ich möchte sie fragen, wann Becky damit angefangen hat, sie allein zu lassen, aber ich will die Antwort nicht hören, weil ich danach meine Schwester wahrscheinlich nur noch lieber erwürgen würde, sobald ich sie wiedersehe.

Es ist fast Zeit für mich aufzubrechen. »Möchtest du einen Burger?«

»Hab schon gegessen.« Riley streckt sich auf dem Bett aus. »Mach dir um mich keine Sorgen.«

Ich befürchte einzuschlafen, wenn ich Auto fahre, also rufe ich Dara an und frage, ob sie das übernimmt.

Sie zögert. »Herrje, Gal, ich wünschte, ich könnte, aber ich kann nicht. Ich hab was vor.«

»Es dauert nur eine halbe Stunde.« Ich klinge etwas weinerlich, selbst in meinen Ohren. »Ich spendier dir auch einen Burger.« Vergiss es, Gal. Ich seufze innerlich. Ich werde mir ein Taxi rufen müssen.

»Es dauert eine Stunde, Gal, das weißt du.« Sie klingt steif. »Wirklich, heute Abend kann ich nicht. Ich hab schon ein Glas Wein getrunken, und du weißt, was für ein Fliegengewicht ich bin. Hättest du es mir vorher gesagt …«

»Ich brauche fast nie jemanden, der mich fährt. Ich wusste es nicht vorher.« Mit wem trinkt sie? Dara trinkt nur in Gesellschaft. Ich habe eine Ahnung, die mir schwer auf dem Magen liegt, und gleichzeitig krampft sich mein Magen zusammen. Es muss wohl daran liegen, dass ich dringend zur Dialyse muss. »Bist du mit Mr Morton unterwegs?« Ich kneife meine Augen zusammen, fürchte die Antwort. Sie hat ihn heute schon angerufen. Er muss es sein.

»Nein. Pennebaker.« Sie flüstert. Chad Pennebaker ist der kurzhaarige Buchhalter.

»Ich dachte, Buchhalter sind Spießer.«

»Der nicht. Er ist nicht mehr ganz so trocken, wenn er was getrunken hat.« Sie kichert über ihren eigenen Scherz. Ich rolle mit den Augen. Sie ist angeheitert.

»Was ist mit Mr Morton?«

»Was soll mit ihm sein?«

»Gefällt er dir nicht?« Ich werde in Mr Mortons Namen böse. So ein netter Mann, und Dara tut, als wäre er ihr egal.

»Gal. Ich habe ihn doch gerade erst kennengelernt.« Plötzlich klingt sie stocknüchtern. Nichts bringt Dara mehr in Wallung als rechtschaffene Empörung. »Wir haben fünf Minuten miteinander gesprochen, höchstens.«

»Ja, ja, mach du nur.« Ich lege auf. Selbstverständlich hat Dara alles Recht der Welt, mit so vielen Männern auszugehen, wie sie will, bis sie den Richtigen gefunden hat. Ihren Mr Right. Aber ihre Ansprüche scheinen mir doch unmöglich hoch zu sein. Eines Tages wird sie aufwachen und graue Strähnen in ihrer blonden Mähne haben. Die vielen netten Kerle, die sie aus irgendwelchen Gründen wegschickt, werden gehen und nicht mehr wiederkommen.

Ich seufze. Ich kann Daras Probleme nicht für sie lösen. Außerdem ist es ja nicht gerade so, als ginge es mir besser. Wenigstens amüsiert sich Dara. Ich muss ein Taxi rufen.

Riley kommt aus ihrem Zimmer, will in die Küche. Ich winke mit dem Telefon. »Könntest du mir die Nummer von Yellow Cab sagen? Sie steht auf dem Brett beim Kühlschrank.«

»Ich kann dich doch fahren!« Rileys Laune schlägt um, ihr Zorn verfliegt, sie wird eifrig und offen. Fast als hätte sie sich wieder vom Teenager zum kleinen Mädchen verwandelt. Da kann einem direkt schwindlig werden. »Ich hab gerade meinen vorläufigen Führerschein bekommen.«

Mir tut der Kopf weh. »Und dann findest du nicht wieder nach Hause. Gib mir einfach die Nummer, und nächstes Mal kannst du fahren. Ich lass mich von dir durch die ganze Stadt kutschieren.«

»Es würde dir bestimmt zwanzig Dollar Taxigeld sparen.« Riley setzt auf meinen Geiz, und sie hat recht, denn für einen Moment bin ich tatsächlich in Versuchung, mich von ihr chauffieren zu lassen, aber ich tue es nicht. Vielleicht kann ich mich zusammenreißen und selbst fahren. Es ist nicht sehr weit. Das habe ich schon mal gemacht. Ich hole zweimal tief Luft und stehe auf. »Kein Problem. Ich fahre selbst.«

Riley tritt vor. »Bist du sicher, Tante Gal? Du siehst etwas blass aus.«

Ich weiß nicht, wie ich aussehe, aber ich weiß, dass ich mich irgendwie blass fühle. Und benommen. Ich setze mich gleich wieder hin.

Riley nimmt die Autoschlüssel vom Haken bei der Tür. »Komm schon. Ich fahr von da mit einem Taxi nach Hause.«

Am frühen Morgen warte ich darauf, von der Dialysemaschine genommen zu werden, sehe mir an, wie das Gerät blinkt und sich die Blutdruckmanschette aufbläst. Hier drinnen brennt noch kein Licht, aber die Klinik ist inzwischen hell erleuchtet, und man hört Stimmen und Gelächter. Im angrenzenden Flur sehe ich Dr. Blankenship. Statt ihrer üblichen Pumps trägt sie Turnschuhe, die auf dem ultrasauberen, gebohnerten Boden quietschen, was bedeutet, dass sie sich für eine Operation bereit macht, nicht für die Sprechstunde. Ihr weißer Arztkittel ist sauber und gebügelt, darunter trägt sie eine Stoffhose mit legerer Bluse.

Ich hatte gleich von Anfang an Probleme mit ihr, als sie vor einem Jahr hier anfing. Dr. McMillan, der Chirurg, dessen Stelle sie übernahm, hatte sich nicht so sehr um den Blutdurchfluss gekümmert und setzte mich ganz oben auf die Liste. Leider wurde er unerwartet versetzt, und ich war nicht sehr glücklich mit meiner neuen Ärztin. Auch sie war definitiv nicht glücklich mit einer Patientin, die ihre Meinung so unverblümt äußerte.

Sie blickt stur geradeaus, sodass sie mich nicht winken sieht. Wäre ich eine Schlange, hätte ich sie gebissen. Ich weiß, dass sie es absichtlich tut. »Hey, Doc!«, schreie ich. Heute ist meine Stimme von übermenschlicher Lautstärke, nachdem ich wieder normales, sauberes Blut habe.

Sie kommt zurück und bleibt an meiner Tür stehen. »Oh, hi, Gal! Hab Sie gar nicht gesehen.« Sie klimpert unschuldig mit den Wimpern und streicht ihren roten Pony glatt. Im unsteten Licht der Neonröhren sieht ihre helle Haut grünlich aus.

»Weil Sie nicht hingeguckt haben.« Ich lächle und kralle mich so fest in die gebleichte Bettdecke, dass es wehtut. »Wann haben Sie eine Niere für mich?«

»Sobald Sie sich noch einmal dem Test unterzogen haben.« Sie presst ihr Klemmbrett an die Brust und weicht meinem Blick aus, konzentriert sich lieber auf die geschlossenen Jalousien rechts von meinem Kopf. Aber es ist mir egal, dass wir uns keine Weihnachtskarten schreiben. Ich will nur eine funktionierende Niere. »Wir müssen es tun wegen des Shunts in Ihrem Bein. Wenn wir eine neue Niere einsetzen, könnte es sein, dass Ihr Blutfluss behindert wird. Die Niere würde absterben. Sie wissen, dass ich die Transplantation nur durchführen darf, wenn der Blutflusstest positiv ausfällt.«

Sie sagt das alles mit monotoner Stimme und ohne mir dabei in die Augen zu sehen. Ich habe schon viele Ärzte erlebt, die sich am Krankenbett nicht zu benehmen wussten, aber Dr. Blankenship kriegt den Pokal. Ich spreize meine Hände. »Ich erteile Ihnen die Erlaubnis, es trotzdem zu tun. Zählt das denn gar nichts?«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, und ich weiß, was in den Vorschriften steht.«

»Ich bin also in jedem Fall geliefert: wenn ich den Test mache und auch, wenn ich ihn nicht mache.«

Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln, und auf ihren Wangen entstehen ein paar Falten. »Das Kontrastmittel schadet Ihnen nur, wenn Sie glauben, dass es Ihnen schadet.«

Ich schließe kurz die Augen.

Ich weiß, dass ich auf das Kontrastmittel allergisch reagiere, so wie man weiß, dass man auf Bienen allergisch reagiert. Zum ersten Mal hatte ich eine Reaktion, als ich zwölf war, und da war mir noch nicht mal klar, was ein Kontrastmittel ist. Meine Atmung verlangsamte sich, mein Hals schwoll zu, und ich bekam Ausschlag auf den Wangen. Ich weiß nicht mehr allzu viel davon, nur das, was meine Mutter mir erzählt hat. Entscheidend ist die Frage, wie ich eine psychosomatische Reaktion auf ein Kontrastmittel haben konnte, wenn mir gar nicht bewusst war, dass sie es mir in die Venen pumpten?

Die Ärztin, die mir das Kontrastmittel verabreicht hatte, erklärte meiner Mutter danach, wenn ich es noch mal bekäme, würde ich wahrscheinlich daran sterben.

»Was wäre, wenn Sie nach Ihrem ersten Bienenstich angeschwollen wären und sich Ihnen die Kehle zugeschnürt hätte?«, fragte ich Dr. Blankenship, als wir dieses Gespräch letztes Mal führten. »Würden Sie rumlaufen und versuchen, sich absichtlich stechen zu lassen?«

Sie lachte mich aus. »Das ist, als wollte man Äpfel mit Birnen vergleichen.«

»Eher Äpfel mit Äpfeln«, entgegnete ich. »Vielleicht Granny Smith mit Red Delicious. Aber beides sind Äpfel!«

Als ich so dasitze, mit geschlossenen Augen, und diese Erinnerung in mir hochkommt, probiert Dr. Blankenship es noch mal. »Wir können es versuchen und sofort abbrechen, falls irgendetwas schiefgehen sollte. Ich bin mir sicher, dass es nicht am Kontrastmittel liegt. In unseren Studien deutet nichts darauf hin, dass eine solche Allergie überhaupt möglich ist.«

Das alte Lied. »Dieses Gespräch kommt mir seltsam bekannt vor, Frau Doktor.«

»Guten Morgen, Mr Walters.« Dr. Blankenships Stimme wird samtig. Walters kommt vorbei.

Walters bleibt stehen. Heute trägt er gebügelte weiße Leinenhosen und ein hellblaues T-Shirt, und er hält einen Panamahut in den Händen, mit dem er aussieht, als wollte er auf die Bahamas und nicht zur Dialyse. »Sie operieren heute Morgen, was? Ich hoffe, für mich haben Sie auch bald eine von diesen Nieren.«

»In den nächsten zwei Wochen müsste es eigentlich klappen.« Sie strahlt ihn an.

Er winkt mir höflich zu. »Und wie geht es uns heute früh?«

»Wie es ›uns‹ geht, weiß ich nicht, aber mir geht es gut, danke.« Ich spreche mit zusammengebissenen Zähnen.

Er geht weiter.

Dr. Blankenship dreht sich wieder zu mir um. Diesmal schafft sie es tatsächlich, mir in die Augen zu sehen. Ihre sind von verwaschenem Grün, die schwarzen Schatten darunter nicht ganz übergeschminkt. »Gal, bitte. Ich wünsche Ihnen genauso dringend eine Niere wie Sie selbst. Aber ich muss mich an die Regeln halten. Wenn die Gefahr besteht, dass Sie sie abstoßen, darf ich sie Ihnen nicht geben.«

»Was ist mit ihm?« Ich nicke Walters hinterher. »Er könnte seine neue Niere totsaufen. Oder aufhören, seine Blutdruckmittel zu nehmen. Wie er es schon mal getan hat. Da bin ich ein verlässlicherer Kandidat.«

»Über die Behandlung anderer Patienten darf ich mit Ihnen nicht sprechen.« Ihre Miene wird ganz starr. Sie macht einen Schritt zurück, beendet das Gespräch. »Ich muss weiter.«

Ich ziehe eine Grimasse. Mir scheint, man schiebt mich immer weiter und weiter bis ans unterste Ende der Nierenliste. Ich finde mich damit ab, dass ich keine Transplantation bekomme, wenn ich mich diesem Test nicht unterziehe. Zumindest nicht von dieser Ärztin.

»Hören Sie, ich habe noch nie eine negative Reaktion erlebt, sofern dem Patienten vorher die entsprechenden Medikamente verabreicht wurden. Sie bekommen einen Tropf mit Benadryl und Prednisolon. Wir nehmen nur ganz wenig Färbemittel.« Dr. Blankenship mustert mich.

»Und dann komme ich ganz oben auf die Liste?« Ich will nur nicht ewig in diesem Dialysefegefeuer schmoren.

»Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« Unbeholfen legt Dr. Blankenship ihre Hand auf meine. Sie fühlt sich an, als müsste sie aufgetaut werden.