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Im Wohnzimmer von Mr Mortons Bungalow brennt Licht. Er ist im Craftsman-Stil gebaut, mit steinernen Säulen und abstrakten Sprossenfenstern aus Buntglas, ein Haus, von dem ich nur träumen kann.

Offensichtlich bin ich die geborene Stalkerin. Im Licht der untergehenden Sonne erkenne ich, dass er in seinem Garten hart geschuftet hat. An beiden Enden der Veranda wachsen lila Büsche auf einem Beet aus Bodendeckern, die noch keine Knospen treiben. Ich kann nicht sagen, was für Blüten sie haben werden.

Er erhebt sich. Keine Vorhänge. Ein flacher Fernseher läuft, irgendein Film. Er sieht mich draußen auf dem gepflasterten Weg stehen und öffnet die große Eichentür. »Gal!«

»Was für ein Bewässerungssystem verwenden Sie?« Ich deute mit seinem Sweatshirt auf die Pflanzen.

»Unterirdisch.«

Ich nicke. »Ich persönlich bevorzuge Tropfbewässerung.« Ich halte das Shirt hoch, als hätte ich es vergessen. Als würde es mir nicht wie verhext in den Händen brennen. »Das hier haben Sie liegen lassen.«

Er hält mir die Tür auf. »Kommen Sie doch rein.«

Ich trete ein, putze mir demonstrativ die Schuhe auf der Fußmatte ab.

Er deutet auf eine kleine Keramikplakette mit einem Bild von Flip-Flops. ALOHA, BITTE DIE SCHUHE AUSZIEHEN steht da. Ich streife meine Crocs ab. »Und wieso konnten Sie bei mir nicht daran denken, wenn Sie es bei sich zu Hause tun?«, frage ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht hatte ich nur noch den Kaffee im Sinn.«

»Sind Sie aus Hawaii?«

»Nein, aus Kalifornien. Aber ich bin gern auf den Inseln. Warmes Wasser.« Er schaut mich an. »Waren Sie schon mal da?«

Ich schüttle den Kopf.

»Sollten Sie sich ansehen.«

»Es gibt so vieles, was ich tun sollte.« Ich muss ihm nicht erklären, wie schwierig es ist. Er nickt kurz.

Ich folge ihm ins Wohnzimmer und sinke in einen schokoladenfarbenen Ledersessel. Er sitzt auf einer rostfarbenen Couch und schaltet den Fernseher aus. Seine Hände sind bandagiert.

»Was ist los?« Ich zeige auf die Bandagen, die mehrfach um seine Handflächen gewickelt sind, wie bei einer Mumie.

Er hält sie hoch. »Blutblasen. Vom Schaufeln.«

Ich verziehe das Gesicht. »Haben Sie sie gekühlt?«

Er schüttelt den Kopf.

Ich schüttle meinen. »Jetzt sagen Sie nicht, Sie sind auch so ein typisch sturer Mann.«

»Typisch zu sein hat mir noch niemand vorgeworfen.« Er legt die Hände in den Schoß.

Ich setze mich neben ihn auf die Couch. »Lassen Sie mal sehen.« Ich nehme eine Hand. Sie ist stark geschwollen. Ich schnalze mit der Zunge und wickle den Verband ab. Und tatsächlich hat er zwei blutige Blasen pro Handfläche, direkt unter den Fingern. »Sie hätten Handschuhe tragen sollen.«

»Die hatte ich zu Hause vergessen.«

»Ich hole Ihnen Eis.« Ich gehe in seine Küche. Er folgt mir.

»Sie wissen doch gar nicht, wo hier was ist.«

»Hm. Wäre es wohl möglich, dass ich das Eis im Kühlschrank finde?« Ich mache ihn auf. Er hat so einen mit Doppeltüren, ohne Eiswürfelspender. Ich hole eine Eiswürfelschale heraus. »Elementar, mein lieber Watson.«

»In der Tat.« Er setzt sich auf einen Hocker am Tresen.

Seine Küche ist groß für einen Junggesellen, mit fünfflammigem Herd und doppeltem Backofen. Der Craftsman-Stil wurde auch hier weiterverfolgt, mit rötlich gelblichen Holzschränken und polierten Goldbeschlägen. Ich sehe mich um. »Haben Sie keine Mikrowelle?«

Er steht auf und drückt gegen eine vertäfelte Wand. Sie schiebt sich auf und gibt den Blick auf eine Mikrowelle und die Speisekammer frei.

»Oooooh. Haben Sie gleich die ganze Küchenausstellung gekauft?« Ich klaube etwas Eis aus der Schale. Er reicht mir eine kleine Plastiktüte.

»Es war alles inklusive.«

Ich mustere den Backofen. »Können Sie denn wenigstens kochen? Es wäre doch reine Verschwendung, hier alles in die Mikrowelle zu stellen.«

»Fragen über Fragen.« Er verschränkt die Arme, setzt sich wieder hin. »Ganz okay, würde ich sagen. Not macht erfinderisch.«

»Konnte Ihre Frau kochen?«

Seine Miene verfinstert sich. Uups. »Nein.«

Ich sitze ihm gegenüber. Die Augenbrauen werfen Schatten auf sein Gesicht, nicht zuletzt, weil er den Küchentresen anstarrt. »Hey. Tut mir leid, dass ich dauernd davon anfange. Aber Sie sollten nicht so tun, als würden die beiden nicht existieren. Da könnte ich ja auch so tun, als hätte ich …«, ich deute auf mich, von oben bis unten, »… nicht diese Krankheit. Dabei ist sie nicht zu übersehen.«

»Für mich sind Sie kein Mensch mit einer Krankheit.« Er faltet die Hände. »Für mich sind Sie Gal.«

»Und Sie sind für mich kein Miststück, das seine Familie im Stich gelassen hat.« Ich lege den Kopf in meine Hand, mit dem Ellbogen auf dem Tresen. »Nicht mehr.«

»Ich versuche immer noch, mich daran zu gewöhnen – es Leuten zu erzählen.«

»Offenheit ist das Beste.«

Er wirft mir einen schiefen Blick zu. Dann fängt er an zu lachen.

»Was?«

»Sie sind nicht gerade der offenste Mensch, den ich kenne, Gal.«

»Was reden Sie da? Ich bin ein offenes Buch.« Ich lache auch. »Es gibt verschiedene Stufen von Offenheit und Verschlossenheit. Für meine Verhältnisse liege ich irgendwo im Mittelfeld.«

»Ich auch.« Er grinst.

Einen Moment sitzen wir einfach nur da.

»Was machen Ihre Hände?«

Er nimmt den Eisbeutel. »Besser.«

»Kriegen Chemielehrer denn gar nichts beigebracht?« Ich stehe auf. »So was weiß man doch. Also wirklich.«

»Chemielehrer sind eben anders«, sagt er mit ungerührter Miene.

Ich gehe zur Tür.

»Danke. Das ist mein Lieblingsshirt.«

»Hab ich mir gedacht.« Ich habe es gerochen, denke ich, und werde schon wieder rot.

»Alles in Ordnung?« Schon ist er bei mir.

»Alles gut.« Ich greife nach der Klinke, öffne die Tür. »Bis bald mal.«

»Bis bald.« Er sieht mir nach, wie ich ins Auto steige, und beobachtet, wie ich den Motor anlasse. Wartet, bis ich losfahre.

Ich lege den ersten Gang ein. Er hebt die Hand. Ich hebe meine. »Gute Nacht, George«, sage ich. Der Name kommt mir leicht über die Lippen.

Am Dienstag sitze ich auf einem Gartenstuhl und bewundere den neuen Meeresgarten. Er sieht – wie Riley sagen würde – hammermäßig aus.

Riley und Dad haben sich voll auf das Projekt gestürzt. Da gibt es Kakteen, die wie wogender Seetang arrangiert sind, dazu diese Seesternblumen, orangefarbene Sukkulenten, die Anemonen so täuschend ähnlich sehen, dass ich sie anfassen muss, und Steine, die auch Korallen am Meeresgrund sein könnten. Der Boden besteht aus Lavastein und Sand.

»Er ist noch nicht fertig«, meint Riley. »Im Lauf des Sommers kommt noch mehr dazu.«

»Er ist fantastisch.« Ich bewundere ihn.

Dad kommt aus dem Haus und reibt seine Hände. »Bist du bereit, Riley?«

»Wozu?« Sie nimmt einen Schluck von ihrer schwitzenden Cola light. Natürlich kauft ihr Mom das Zeug, wenn sie hier ist.

Ich tippe sie an. »Die Rosen, weißt du nicht mehr?«

Riley und Dad sollen die Töpfe mit den Sämlingen durchgehen und die Reste entfernen. Ich habe die Pflanzen, die ich behalten will. Die aufgeblühten können sie abschneiden und daraus Sträuße binden.

»Genau.« Mein Vater nimmt sie bei der Hand, und die beiden gehen zum Gewächshaus.

Mom erscheint mit einem Glas Eistee auf der Veranda, in einem weiten, rot-weiß geblümten Kleid. »Gehst du nicht mit?«

Ich schüttle den Kopf. »Es ist deprimierend, die Sämlinge rauszureißen. Als müsste man den Weihnachtsschmuck wegräumen.«

Mom nickt, und das Eis in ihrem Tee klirrt. Sie sieht zum Haus der alten Mrs Allen hinüber. »Ich wette, ich könnte ihre Sympathie gewinnen.« Mom trinkt von ihrem Tee.

»Tu dir keinen Zwang an.« Wenn irgendwer es könnte, dann meine Mom. »Ich fürchte, ich finde bei ihr nicht den richtigen Ton.«

»Tante Gal?« Riley kommt um die Hausecke gerannt. »Das musst du dir ansehen. Im Gewächshaus.«

Ich springe auf, in Panik. »Was ist?«

»Komm mit!« Riley macht kehrt. Ich haste ihr hinterher, woraufhin meine Mom schreit: »Langsam! Nicht dass du fällst.« Ich komme mir vor wie ein kleines Kind, das seiner Mutter vorausläuft.

Riley führt mich zu den eingetopften Sämlingen. Sie zeigt auf einen ganz links.

»Was ist damit?« Ich sehe nur die Rückseite einer violetten Blume. »Die ist ganz normal violett. Von denen habe ich ein halbes Dutzend.«

Sie dreht die Blüte, damit ich sie betrachten kann. Diese ist nicht nur violett, sondern hellviolett mit weißen Punkten, dazu der rote Fleck. Ich gebe einen Laut von mir. Einen entzückten Laut.

»Riech mal dran«, sagt sie.

Ich schnüffle.

Eine Süße steigt auf, kriecht bis in mein Gehirn, hinter meine Augen. Ich atme tief und gierig. Diesmal entdecke ich eine leichte Schärfe, wie von Paprika. Sie duftet wunderbar.

Ich muss mich setzen.

Ein Bild entsteht in meinem Kopf. Meine Schwester Becky und ich, wie wir uns im Garten unserer Großmutter bei den Händen halten. Wie wir Pfirsiche essen und unsere Kleider bekleckern, mit klebrigen Gesichtern. Meine Mutter wischt uns mit mildem Tadel sauber. Mein Großvater schenkt jedem von uns ein kleines Holzauto, das er selbst geschnitzt hat.

Mir kommen die Tränen.

Plötzlich vermisse ich meine Schwester.

Das habe ich, glaube ich, noch nie.

Unablässig beklage ich mich, dass sie mir keine gute Schwester ist, aber was habe ich für sie getan? Was für eine Schwester war ich ihr? Darauf weiß ich keine Antwort.

»Tante Gal? Gefällt sie dir nicht?« Riley beugt sich über mich.

»Ich finde eigentlich auch, dass sie ganz gut riecht«, sagt Dad, der kaum jemals irgendeinen Geruch kommentiert, ob gut oder schlecht. Er wischt seine Hände an der Jeans ab.

Schließlich taucht auch meine Mutter im Gewächshaus auf. Alle drei stehen da, halten die Luft an und warten, was ich sage.

Ich schnappe nach der kühlen Abendluft und bewundere die makellosen, leuchtend grünen Blätter und die veilchenblauen Blüten. »Sie ist perfekt«, bringe ich hervor. Ich streiche mir durch die Haare. »Sie ist perfekt.«

Sie jubeln und klopfen mir auf die Schulter. Meine Familie, alle versammelt. Eine fehlt.

Wahrscheinlich würde sie sich sowieso nicht für mich freuen, sage ich mir, und den ganzen Aufstand nicht verstehen.

Oder vielleicht doch.