Mit der Frage, wie im britischen Denken die Idee der zwischenmenschlichen Anerkennung aufkam und weiterentwickelt wurde, betreten wir nicht nur eine ganz neue ideengeschichtliche Landschaft, sondern auch einen vollkommen anderen politisch-kulturellen Raum. Mag für das Frankreich des 17. und frühen 18. Jahrhunderts gelten, dass die dort beheimatete Sozialphilosophie vor allem mit dem Problem der sozialen Rangordnung und den daraus resultierenden Konflikten beschäftigt war, so ist das in Großbritannien während desselben Zeitraums sicherlich nicht der Fall; wenn es hier überhaupt so etwas wie eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung für das sozialphilosophische Denken gegeben hat, so war es das allmähliche Eindringen instrumentell-ökonomischer Verhaltensweisen in den bislang durch traditionelle Moralprinzipien geschützten Raum des öffentlichen Lebens.
Bis zu welchem Ausmaß diese Erfahrung einer drohenden Kommerzialisierung der Gesellschaft von Bedeutung für die englischsprachige Kultur der beginnenden Neuzeit war, zeigt sehr schön der breitgefächerte Diskurs, der dort in Literatur und Philosophie über drei Jahrhunderte hinweg über den neuen Menschenschlag eines nur an seinem wirtschaftlichen Eigennutz interessierten Subjekts geführt wurde.76 Ihren Anfang nahm die Debat82te nach einigen Vorläufen im Elisabethanischen Zeitalter, als die englischen Binnen- und Außenmärkte durch vermehrten Zufluss von Kapital stark zu wachsen begannen, so dass sich landesweit eine kapitalistische Mentalität breitzumachen schien; Anzeichen dafür gab es viele, sie reichten von der Umwandlung der traditionellen Agrarwirtschaft in eine marktorientierte, auf erhöhte Produktivität setzende Wirtschaftsform über die zunehmende Nutzung von Grund und Boden für industrielle Zwecke bis hin zur explosionsartigen Konzentration des Welthandels in der Metropole London. In Schlüsselfiguren der Dramen von Christopher Marlowe, William Shakespeare und Ben Jonson wurde dem besorgten Publikum zum ersten Mal mit Mitteln der symbolischen Verdichtung vorgeführt, welche dramatischen Konsequenzen für Land und Leute mit dieser rapiden Ausweitung kapitalistischer Wirtschaftsmethoden einherzugehen drohten;77 zu befürchten war, dass ein von krassem Egoismus und Eigennutz getriebener Persönlichkeitstyp alle moralischen Verbindlichkeiten, die bislang den sozialen Verkehr geregelt hatten, über kurz oder lang untergraben und durch bloß berechnende Verhaltensformen ersetzen könnte. Es dauerte nicht lange, bis sich diese erste Beunruhigung in einer hitzigen Diskussion darüber entlud, ob ein solches nur eigeninteressiertes Verhalten im Ganzen nun eher von Vor- oder von Nachteil für das gesellschaftliche Wohlergehen sein würde; die 83citizen comedy eines Thomas Middleton oder William Rowley karikierte den neuen, profitorientierten Sozialcharakter bis hin zur Unkenntlichkeit, das bürgerlich-moralische Schauspiel eines Richard Steele oder Joseph Addison unternahm knapp hundert Jahre später hingegen vorsichtige Versuche seiner Verteidigung.78
Den im Rückblick nachhaltigsten Niederschlag findet diese Debatte aber in der englischsprachigen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, die von kaum einer anderen Frage mehr beherrscht wird als der nach den Wurzeln aller menschlichen Moral entweder im Eigeninteresse oder in einem uns angeborenen Gefühl für das Wohl unserer Mitmenschen. Auf der einen Seite der heftig geführten Auseinandersetzung stehen diejenigen, die als Anhänger des Thomas Hobbes gelten, weil sie wie ihr großer Vordenker davon überzeugt sind, dass wir Menschen stets nur aus eigennützigen Motiven heraus handeln und daher keinerlei Anlage zum sozialen Wohlwollen besitzen; auf der anderen Seite des philosophischen Streits finden sich diejenigen, die Hugo Grotius darin folgen, dem Menschen ein soziales Vermögen zu unterstellen, welches ihn zur moralischen Berücksichtigung der Belange seiner Mitmenschen in die Lage versetzt.79 Die Kontroverse erreicht ihren Höhepunkt im Jahr 1723, als Bernard Mandeville die dritte, erweiterte Auflage seiner Bienenfabel erscheinen lässt, in der sich die berühmte Formel von den »private vices« und den 84»public benefits« findet;80 an dieser Streitschrift müssen sich die Geister endgültig scheiden, hat ihr Autor darin doch mit vielen Seitenhieben gegen den Lord Shaftesbury behauptet, dass sich die Steigerung des Allgemeinwohls einzig einem politisch geschickten Arrangement privategoistischer Nutzenkalküle verdanke. Es sind solche Lobpreisungen der segensreichen Wirkungen unseres Eigeninteresses, die im England des 18. Jahrhunderts in Form einer philosophischen Gegenbewegung eine Idee der Anerkennung entstehen lassen, die dem französischen Misstrauen gegenüber der menschlichen Intersubjektivität schroff entgegengesetzt ist; ihr Wegbereiter ist David Hume, ihr zentraler Autor sollte Adam Smith werden und in John Stuart Mill wird sie einen späten liberalen Repräsentanten finden.
Während im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts der Begriff der amour propre zum Träger einer Besinnung auf die menschliche Intersubjektivität wird, so ist es in England während desselben Zeitraums zunächst der Begriff der sympathy, der einen ähnlichen Dienst leistet; allerdings wird dieser Begriff auf der britischen Insel von Beginn an so unzweideutig positiv, so frei von jeglicher Ambivalenz verwendet, dass schon daran der ganze Unterschied zwischen den beiden Ländern in der Akzentuierung der Anerkennung sichtbar wird. Ihren Ausgang nimmt die Aufwertung des Stellenwerts intersubjektiver Beziehungen in England von den Schriften von Anthony Ashley-Cooper, dem 3. Earl of Shaftesbury, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts dem moralischen Skeptizismus seiner Zeit mit der These entgegen85tritt, dass der Mensch von Natur aus über einen geselligen Charakter verfügt, der ihn in ständiger Sorge um das allgemeine Wohlergehen sein lässt; es ist dieser angeborene »sensus communis«, so ist der Earl in seiner Kritik an Hobbes überzeugt, der uns mit einer moralischen Sensibilität für das Schicksal unserer Mitmenschen ausstattet und daher unsere Neigung zum Selbstinteresse dauerhaft im Zaum hält.81 Wollte man einen kühnen Vergleich anstellen, so ließe sich sagen, dass Shaftesbury mit dieser optimistischen Anthropologie der positiven Behandlung der Anerkennung in Großbritannien ebenso den Weg bereitet hat wie umgekehrt La Rochefoucauld ihrer negativen Thematisierung mit seiner skeptischen Anthropologie in Frankreich. Denn schon kurz nachdem Mandeville in seiner Bienenfabel den Earl aufgrund seines naiven Optimismus mit Hohn überschüttet hat, schwingt sich der schottische Aufklärer Francis Hutcheson zu dessen Verteidigung auf und begründet damit die philosophische Bewegung, die später als schottische Moralphilosophie bezeichnet werden sollte. Statt blank mit anthropologischen Thesen aufzuwarten, möchte Hutcheson im Stil des aufkommenden Empirismus aufzeigen, dass unsere Reaktionen auf das soziale Verhalten anderer Personen gewöhnlich von Beurteilungsmaßstäben getragen sind, die eine Bevorzugung von Gesinnungen und Einstellungen offenbaren, welche dem allgemeinen Wohl zugutekommen; aus einer Sammlung solcher 86Fakten unserer Erfahrungen im alltäglichen Umgang glaubt er daher induktiv schließen zu können, dass wir einen angeborenen Sinn für das Wohlergehen unserer Mitmenschen besitzen, in dem alle Prinzipien unserer Moral begründet sein sollen.82 Dieses durch Shaftesbury vorbereitete und von Hutcheson weiterentwickelte Konzept eines »moralischen Sinns« stellt den Boden dar, auf dem dann binnen weniger Jahrzehnte und mit Hilfe weiterer Differenzierungen gedeihen kann, was sich als spezifisch britische Version der Idee der Anerkennung begreifen lässt; sie ist jener hobbesschen Tradition, die von C. B. Macpherson mit einigem Recht als »besitzindividualistisch« bezeichnet worden ist,83 diametral entgegengesetzt.
Als David Hume während des Jahres 1739 am dritten Band von A Treatise of Human Nature arbeitet, der sich mit der »Moral« beschäftigen soll,84 ist er sich seiner theoretischen Abhängigkeit von den Schriften Hutchesons vollständig bewusst; wie dieser will er nicht nur das Phänomen des Moralischen in der Weise erschließen, dass er anhand von Erfahrungstatsachen prüft, wie wir Menschen wertend auf das Verhalten anderer Personen 87reagieren, sondern er teilt auch dessen Prämisse, dass solche Reaktionen primär unseren natürlichen Empfindungen und nicht etwa der rationalen Einsicht entspringen müssen. Allerdings sieht Hume sich, kaum dass er mit der empirischen Ausführung seiner auf diesen beiden Pfeilern gegründeten Überlegungen begonnen hat, auch schon zu ersten Revisionen der Annahmen Hutchesons gezwungen, die ihn am Ende in der Summe weit über dessen Moraltheorie hinausgelangen lassen.85 Von diesen vielen Korrekturen und Erweiterungen sind zwei für uns von besonderer Bedeutung, weil sie direkt in das Zentrum von Humes Konzeption der zwischenmenschlichen Anerkennung hineinführen. Die erste seiner Verbesserungen betrifft die von Hutcheson vertretene These, wonach wir die Charaktereigenschaften anderer Personen anhand des Maßstabs beurteilen, ob sie dem allgemeinen Wohl einer Gemeinschaft entweder zugutekommen oder ihm abträglich sind. Hume stimmt mit dieser generellen Richtlinie zwar überein, sieht auch, dass die entsprechenden Reaktionen der Billigung oder des Tadels letztlich auf natürliche Gefühle der Lust oder Unlust zurückgehen müssen, aber er glaubt, dass Hutcheson den Zusammenhang zwischen solchen reaktiven Gefühlen und den moralischen Beurteilungen nicht hinreichend geklärt hat; unklar bleibt nämlich, warum wir die mit Lust oder Unlust erlebten Verhaltensweisen anderer Menschen gleichzeitig auch als moralisch entweder lobens- oder tadelnswert erfahren. Eine Lösung für 88dieses Problem, wie unsere Lust- und Unlustempfindungen intern mit moralischen Bewertungen zusammenhängen, glaubt Hume schließlich in einer besonderen Disposition des Menschen gefunden zu haben, die er zu Beginn des Dritten Teils seines Buches mit dem Begriff »sympathy« ‒ »Mitgefühl« ‒ belegt; gemeint ist damit eine uns allen von der Natur mitgegebene Fähigkeit, die mentalen Zustände anderer Personen zu erfassen und zugleich auch in sich selbst nachzuerleben.86 Um zu erläutern, warum diese sympathy weder ein bloßer Affekt noch ein besonderes Bedürfnis des Menschen, sondern nur eine Art von unvermeidbarem Mitvollzug sein soll, bemüht Hume an dieser Stelle das berühmte Bild von den zwei Saiten, deren eine die andere simultan in Schwingung versetzt: »Sind zwei Saiten gleichgespannt, so teilt sich die Bewegung der einen der anderen mit; in gleicher Weise gehen die Gemütsbewegungen leicht von einer Person auf die andere über und erzeugen korrespondierende Bewegungen in allen menschlichen Wesen. Wenn ich die Wirkung eines Affekts in der Stimme und in den Geberden irgend einer Person wahrnehme, so geht mein Geist sofort von diesen Wirkungen zu ihrer Ursache über und bildet sich eine so lebhafte Vorstellung des Affekts, dass dieselbe sich alsbald in den Affekt selber verwandelt.«87
Eine Antwort auf die zuvor aufgeworfene Frage nach dem internen Zusammenhang zwischen bestimmten Charaktereigenschaften, positiven beziehungsweise nega89tiven Gefühlsreaktionen und moralischen Bewertungen soll der Hinweis auf die sympathy nun insofern geben, als uns unser emotionales Miterleben mit dem Anderen jeweils schnell erschließen lässt, ob dieser ein gegebenes Verhalten als wohltuend oder als schädlich für sich empfindet: Wir tendieren Hume zufolge dazu, solche Charaktereigenschaften im Allgemeinen moralisch zu billigen oder zu loben, die sich in einem Verhalten offenbaren, dessen wohltuende Wirkungen auf eine andere Person wir kraft unseres Mitgefühls spontan miterleben können. Fassen wir diese erste Korrektur Humes an der Konzeption Hutchesons zusammen, so besagt sie mithin, dass uns ein unsichtbares Band des wechselseitigen Miterlebens dazu bewegt, auf solche menschlichen Eigenschaften intuitiv mit positiven Gefühlen der Zustimmung zu reagieren, die wir als nützlich für die von ihnen betroffene Person empfinden können.
Zu behaupten, dass sich Hume bereits damit den Weg zu irgendeiner Vorstellung der zwischenmenschlichen Anerkennung gebahnt hätte, wäre natürlich übertrieben; nach diesem ersten Schritt wissen wir über das Verhältnis der Subjekte zueinander lediglich, dass es durch ein nahezu unwillkürliches Vermögen des emotionalen Miterlebens gestiftet wird, welches uns alle wechselseitig in die Lage versetzt, das Wohl und Weh des jeweils Anderen zu erfassen und nachzuempfinden. Zu einem Verhältnis, das sich begründet als eines der Anerkennung bezeichnen ließe, fehlt mindestens noch das zusätzliche Moment, dem Anderen auch eine gewisse Autorität einzuräumen, an die man sich selbst irgendwie gebunden fühlt ‒ wie es Rousseau beschrieben hatte, als er das Mitsubjekt in der Einstellung der amour propre zum Richter über die Vortrefflichkeit der eigenen Eigenschaften hat90te werden lassen. Von »Anerkennung« kann dort noch nicht die Rede sein, wo der Andere bloß als ein Subjekt erlebt wird, dessen emotionale Befindlichkeiten man unschwer in sich selbst nachempfinden kann; zwar mag ein solches »affektives Einschwingen« (Ernst Tugendhat)88 eine notwendige Voraussetzung aller Anerkennung bilden, weil es die Subjekthaftigkeit des Gegenübers überhaupt erst erschließt,89 hinzutreten muss jedoch noch das Verspüren einer normativen Abhängigkeit von diesem Anderen, bevor von einer tatsächlichen Anerkennung zwischen Menschen gesprochen werden darf. Den Schritt hin zu einer derartigen Vorstellung vollzieht Hume erst mit einer weiteren Verbesserung, die er an Hutchesons Konzept des moral sense vornimmt; und frühestens diese zweite Korrektur wird es dann erlauben, mit Blick auf seine Moraltheorie von den Anfängen einer spezifisch britischen Idee der Anerkennung zu sprechen.
Nur wenige Seiten nachdem er in der sympathy die psychische Basis für unser Zusammenstimmen in der moralischen Beurteilung von persönlichen Charaktereigenschaften ausgemacht hat, stößt Hume auf eine Komplizierung, die aus seiner Sicht die bisherigen Ausführungen fragwürdig erscheinen lassen könnte.90 Ihm wird nämlich klar, dass das unseren Lob oder Tadel begründende Mitgefühl einer Vielzahl von Modifikationen fä91hig ist, die sich aus dem Grad des sozialen Abstands ergeben, in dem wir zu den von einem bestimmten Verhalten betroffenen Personen stehen: Je näher und vertrauter uns eine Person ist, desto stärker werden wir die entweder positiven oder negativen Wirkungen nachempfinden können, die die Handlungen einer anderen Person auf deren Wohlergehen ausüben; und dementsprechend müssten wir eigentlich die Neigung besitzen, den sich im Handeln offenbarenden Charakter dieser zweiten Person umso strenger zu beurteilen, je enger die Beziehung ist, die wir zu dem Menschen unterhalten, der davon betroffen ist. Der Einwand, den Hume auf der Basis dieser Beobachtung fiktiv gegen sich selbst erhebt, lautet dann: »In der Tat haben wir mehr Mitgefühl mit Menschen, die uns nahe stehen, als mit fernstehenden Menschen, mehr mit unseren Bekannten als mit Fremden, mit unseren Landsleuten als mit Ausländern. Aber trotz dieser Modifikationen unseres Mitgefühls zollen wir denselben sittlichen Eigenschaften unseren Beifall, in China wie in England. Sie erscheinen in gleichem Maße tugendhaft und gewinnen gleichmäßig die Achtung des gerechten Beobachters. Das Mitgefühl ändert sich ohne eine Änderung in unserer Achtung. Folglich entspringt unsere Achtung nicht unserem Mitgefühl.«91 Um diesen Einwand gegen seine bisherige Argumentation zu entkräften, strengt Hume nun eine Überlegung an, an deren Ende sich die Umrisse einer eigenständigen Idee der zwischenmenschlichen Anerkennung abzeichnen. Hume eröffnet seinen Gedankengang mit der These, dass wir Menschen gewöhnlich über die kognitive Fähigkeit und den Willen verfügen, Unregelmäßigkeiten in unserer mo92ralischen Beurteilung von personalen Charaktereigenschaften auszugleichen; sobald wir also ahnen, dass wir uns bei unseren Wertungen von parteilichen Erwägungen leiten lassen könnten, so ist er überzeugt, werden wir uns sofort darum bemühen, dem durch Anstrengungen der Objektivierung unserer Urteile entgegenzuwirken. Von hier aus versucht Hume dann, das Mittel zu eruieren, dessen wir uns zum Zweck einer solchen Neutralisierung möglicher Befangenheiten regelmäßig bedienen; nach seiner Auffassung muss diese kognitive Operation darin bestehen, sich von einem idealen oder »gerechten« Beobachter darüber belehren zu lassen, wie ein angemessenes, nicht mehr an Ort und Zeit gebundenes Urteil ausfallen würde: »Wir könnten aber gar nicht einigermaßen vernünftig miteinander verkehren, wenn jeder von uns Charaktere und Personen immer nur so betrachtete, wie sie von seinem besonderen Standpunkt aus erscheinen. Dies tun wir denn auch nicht. Sondern wir schaffen uns, um die fortdauernden Widersprüche, die sich daraus ergeben müßten, zu vermeiden und eine konstantere Beurteilung der Dinge zu ermöglichen, bestimmte feste und allgemeine Standpunkte der Betrachtung.«92
Auch wenn hier die Idee eines »idealen« Beobachters keine Erwähnung findet, so steht sie doch klar im Hintergrund der Bemühungen Humes, dasjenige Verfahren zu identifizieren, von dem wir seiner Ansicht nach beim Versuch einer Objektivierung unserer moralischen Urteilsbildung immer schon nahezu automatisch Gebrauch machen. Viel deutlicher als in seinem Buch über die »Moral« kommt dieser Gedanke eines neutralen Beobachters in seiner Untersuchung über die Prinzipien 93der Moral93 zum Tragen, die er zwölf Jahre später veröffentlicht und zeitlebens für das »unvergleichlich beste« aller seiner Werke gehalten hat.94 Dort, in diesem zweiten Buch zur Moraltheorie, ist an etlichen Stellen von der korrigierenden Rolle eines »Zuschauers« die Rede, der entweder als eine reale Person oder als eine fiktive, ins Innere genommene Größe beschrieben wird.95 Der Gedanke ist dabei stets der gleiche und besagt, dass die Vorstellung des prüfend auf uns gerichteten Blicks eines solchen Beobachters jeden Einzelnen dazu nötigt, die eigenen Werturteile von unlauteren Bevorzugungen zu reinigen und ihnen dadurch eine unparteiliche Kohärenz zu verleihen. Hier stoßen wir mithin inmitten des britischen Empirismus auf dieselbe Figur eines von außen das eigene Tun observierenden Richters, die uns schon bei Jean-Jacques Rousseau in seiner Abgrenzung der amour propre von der amour de soi begegnet war; nur, dass jetzt, bei David Hume, diesem Richter die moralisch heilsame Funktion zugeschrieben wird, unsere Urteilsbildung von Inkonsistenzen und Bevorzugungen zu befreien.
Gewiss, Hume kämpft zeitlebens damit, wie er den Status dieses »Beobachters« im Zusammenhang der individuellen Urteilsfindung eigentlich genau verstehen soll. Sicher ist er sich nur darüber, dass wir unsere moralischen Wertungen beinah reflexhaft an dem Gesichtspunkt überprüfen, ob sie die Zustimmung eines solchen neutralen 94Beobachters finden könnten; aber in welcher Weise dieser uns dabei entgegentritt, ob als reale Gemeinschaft prüfender Mitmenschen oder als ein in unserem Inneren operierender, also imaginierter Richter, wird im Werk Humes an keiner Stelle eindeutig beantwortet. Mal klingt es so, als versuchten wir unseren nur partikularen Standpunkt ständig durch die Berücksichtigung der Perspektive konkreter Anderer zu berichtigen, ein anderes Mal ist von dieser korrigierenden Instanz die Rede, als sei damit der internalisierte Blickwinkel eines generalisierten Anderen gemeint, und gelegentlich heißt es sogar, »die Vernunft verlang(e) ein solch unparteiisches Verhalten«96 ‒ womit Hume dann allerdings seinem eigenen Internalismus widersprechen würde, demzufolge uns doch nur unser inneres Begehren und unsere Wünsche zum moralischen Handeln motivieren können.97 Schließen wir diese letzte Möglichkeit daher aus, die sich zudem in unglaubwürdiger Nähe zur rationalistischen Position Kants befinden würde, so bleiben die ersten beiden Alternativen übrig; und gleichgültig, welche der zwei Deutungen bevorzugt wird, gemeinsam enthalten sie in unterschiedlichen Versionen den Verweis auf eine notwendig zu erbringende Anerkennung von anderen Personen. Denn ob nun der »gerechte Betrachter« als eine Perspektive von tatsächlich anwesenden oder von gedanklich idealisierten Zuschauern begriffen wird, in beiden Fällen muss diesen Repräsentanten einer fremden Subjektivität eine 95normative Autorität zugebilligt werden, durch die das je eigene Handeln, das je eigene Urteil maßgeblich eingeschränkt wird. Indem Hume behauptet, ein unparteiischer Betrachter sei unerlässlich für die individuelle Urteilsfindung, gesteht er gleichzeitig zu, dass jedes Subjekt anderen Subjekten die Rolle eines Richters über die eigenen Absichten und Präferenzen einräumt. Keine Person entscheidet dann mehr je für sich, was zu tun und zu lassen wäre, vielmehr formt eine jede ihre Überzeugungen und Wünsche stets nur aus einer Perspektive, in die andere Personen gleich welchen Realitätsgrades konstitutiv mit einbezogen sind. Ein zwischenmenschliches Verhältnis jedoch, das dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Ich dem Anderen die normative Autorität zugesteht, über das eigene Verhalten zu richten, darf bedenkenlos als eines der einseitigen Anerkennung aufgefasst werden. Und da Hume nun ferner davon ausgeht, dass wir uns alle in einer solchen Einstellung begegnen, kann hier sogar von einem wenn auch nur reflexhaften Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung gesprochen werden.
Es gibt eine Reihe von weiteren Elementen in der Moraltheorie Humes, die die Lesart stützen, es handele sich bei seinen Überlegungen zum Prozedere der unparteilichen Urteilsfindung um ein erstes Vortasten in den Bereich der zwischenmenschlichen Anerkennung. So spricht er in der Untersuchung über die Prinzipien der Moral davon, dass das Streben nach »einem Namen und einer Reputation in der Welt« uns dazu motiviere, ständig zu prüfen, wie wir »in den Augen der anderen erscheinen, die uns ansprechen und betrachten«;98 liest 96man weiter, so wird deutlich, dass Hume mit diesem Hinweis auf unser Verlangen nach sozialer »Reputation« einen weiteren Beweggrund benennen möchte, der uns immerfort dazu anhält, unsere eigenen Urteile und »Unternehmungen« am Maßstab ihrer gesellschaftlichen Zustimmungsfähigkeit zu kontrollieren; es ist nicht nur das Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir in unseren moralischen Urteilen zu Bevorzugungen neigen, sondern auch unser Streben nach sozialem Ansehen, welches uns dazu motiviert, die antizipierten Stellungnahmen anderer Personen zu berücksichtigen. Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch im zweiten, den »Affekten« gewidmeten Buch des Traktats, wo es vom »Streben geachtet zu werden« heißt, es könne vornehmlich dadurch befriedigt werden, dass man sein eigenes Handeln stets an den Erwartungshaltungen seiner Mitmenschen überprüfe.99 Die Stellen in beiden Büchern laufen mithin auf dieselbe These hinaus, die das bislang Gesagte noch einmal in einem leicht anderen Licht erscheinen lässt; jetzt scheint Hume nämlich behaupten zu wollen, wir hätten die Gewohnheit, unser moralisches Denken und Handeln am Richtspruch eines unparteilichen Beobachters auszurichten, vor allem deswegen entwickelt, weil 97wir auf diese Weise zu sozialem Ansehen in den Augen unserer Mitmenschen gelangen. Diese Mutmaßung verträgt sich bestens mit dem Internalismus Humes, da sie besagt, unser Motiv für die Prüfung unserer Absichten am Standpunkt eines neutralen Zuschauers stamme aus dem Innersten unserer Wünsche und Begehrlichkeiten; nicht irgendeine etablierte, uns oktroyierte Regel, erst recht aber nicht die Vernunft, sondern nur das faktische »Interesse für unseren Ruf«100 hält uns dazu an, unsere Meinungen und Absichten auf unparteiliche Zustimmungsfähigkeit hin zu kontrollieren.
Vergleichen wir diese abschließende These Humes mit dem, was Rousseau zur amour propre gesagt hat, so zeigen sich zwei nahezu entgegengesetzte Auffassungen der Funktion und Wirkungsweise der zwischenmenschlichen Anerkennung: Wird der Mensch bei Rousseau dadurch, dass er nach sozialer Wertschätzung strebt, in einen unheilvollen Strudel des epistemischen Zweifels über sein eigenes Selbst gerissen, so wird er bei Hume durch dasselbe Streben heilsam dazu angetrieben, seine Absichten fortan zugunsten des allgemeinen Wohls dem Richtspruch eines unparteilichen Beobachters zu unterziehen. Dort, bei Rousseau, bedeutet die Angewiesenheit auf »Anerkennung«, sich der diktatorischen Instanz der öffentlichen Meinung unterwerfen zu müssen, hier, bei Hume, folgt daraus, den Anderen die normative Autorität einzuräumen, die Richtung des eigenen Verhaltens mitzubestimmen. Um diese großen Differenzen in der Thematisierung der Anerkennung zu erklären, muss man sich zunächst auf die philosophischen Tradi98tionen besinnen, in deren Horizont die beiden Denker in ihrer jeweiligen Herkunftskultur aufwuchsen: Rousseau wird intellektuell, so hatten wir gesehen, im Schatten des skeptischen Menschenbildes groß, das die französischen Moralisten im Laufe des 16. Jahrhunderts in Frankreich verbreitet hatten, Hume hingegen kann an die optimistische Anthropologie anknüpfen, die ein knappes Jahrhundert später von Shaftesbury und Hutcheson auf der britischen Insel entwickelt wurde. Aber dass Rousseau und Hume die theoretischen Anregungen ihrer jeweiligen Vorgänger so bereitwillig aufzunehmen bereit waren und in dieselbe Richtung weiter zu entwickeln versuchten, die diese ihnen vorgegeben hatten, muss wohl mit anderen, tiefer liegenden Kontinuitäten im soziokulturellen Klima Frankreichs beziehungsweise Großbritanniens erklärt werden. Mit Blick auf Rousseau hatte ich angedeutet, dass ihn zu seiner skeptischen Einschätzung der sozialen Anerkennung wohlmöglich die historische Erfahrung des Ancien Régime hat gelangen lassen, in dem der Adel und das frühe Bürgertum einen mit allen erdenklichen Mitteln der symbolischen Distinktion geführten Kampf um die Erlangung königlicher Privilegien führten ‒ bis heute spricht man von dieser Epoche der französischen Geschichte als von einem Zeitalter, in dem der Streit der herrschenden Klassen um Rang und Namen das politische Geschehen des Landes weitgehend diktierte.101 Und mit Blick auf Hume hatte ich in ähnlicher Weise bereits durchblicken lassen, dass dessen positives Bild eines durch Anerkennung gestifteten Miteinanders möglicherweise als ein Versuch 99verstanden werden kann, den in Großbritannien seit dem 17. Jahrhundert als eine besonders große Herausforderung empfundenen Prozessen der Ökonomisierung des sozialen Lebens mit philosophischen Mitteln entgegenzuwirken; einen Hinweis darauf, von welch eminenter Bedeutung für die intellektuelle Kultur Großbritanniens die Wahrnehmung einer solchen Gefährdung war, hatten mir die dort beheimateten, weitverzweigten und bis auf die Renaissance zurückgehenden Debatten um die soziale Rolle des »homo oeconomicus« geliefert.102
Alles, was das Werk von Hume an Belegen enthalten mag, um diese These über die soziokulturellen Wurzeln der spezifisch britischen Sicht auf die Anerkennung zu stützen, wird freilich durch die Moraltheorie seines Nachfolgers Adam Smith weit in den Schatten gestellt; erst an dessen Schriften tritt in vollem Umfang zu Tage, dass die äußerst positive Besetzung der zwischenmenschlichen Anerkennung im Großbritannien des 18. Jahrhunderts als eine philosophische Reaktion auf die allgemein als bedrohlich interpretierten Prozesse einer schleichenden Ökonomisierung der sozialen Sitten gedeutet werden muss. Allerdings war der Blick auf diesen engen Zusammenhang von Ethik und Ökonomie bei Smith über einen langen Zeitraum hinweg dadurch verstellt, dass man gewohnt war, sein Werk in zwei unvereinbare Teile aufzuspalten; auf der einen Seite schien mit dem Buch über die moral sentiments eine moralphilosophische Studie zur Bedeutung des menschlichen Wohlwollens zu stehen, auf der anderen Seite mit The Wealth of Nations eine wirtschaftstheoretische Abhandlung allein über den Nutzen des menschlichen Selbstinteresses, ohne dass zwi100schen den beiden im Abstand von siebzehn Jahren erschienenen Doktrinen irgendeine interne Verbindung gesehen wurde. Diese unglückliche Wirkungsgeschichte begann sich erst zu ändern, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Debatte über das Werk des Denkers das Wort vom »Adam Smith-Problem« geprägt wurde, mit dem auf die Anomalie der bislang vorherrschenden Entgegensetzung des Volkswirtschaftlers und des Moralphilosophen hingewiesen werden sollte;103 in einem bedeutenden Aufsatz machte damals der Nationalökonom August Oncken den Vorschlag, die Brücke zwischen den beiden Hauptwerken von Smith im Begriff des zwischenmenschlichen »Wohlwollens« zu suchen, mit dem dieser ja schließlich auch seine Vorschläge zur Einschränkung des privategoistischen Handelns in der Sphäre des Marktes begründet habe.104 Seither hat sich der Blick auf den schottischen Philosophen weltweit grundlegend gewandelt; so gut wie kein führender Interpret bezweifelt heute noch, dass Smith' Werk aus einem Guss ist und The Wealth of Nations daher aus der Perspektive der zuvor entwickelten Theorie der moralischen Gefühle gedeutet werden muss.105 Diese neue Rezeptionslage will ich mir zunutze machen, wenn ich 101in der Weiterverfolgung meines Themas nun den Versuch unternehmen möchte, die Moraltheorie von Adam Smith als eine erheblich verbesserte und konsequentere Version der Anerkennungstheorie zu interpretieren, welche wir in Grundzügen schon bei David Hume kennengelernt haben; auf dem damit beschrittenen Weg hoffe ich dann zeigen zu können, worin die spezifisch britische Stimme in dem seit Beginn der Moderne europaweit geführten Diskurs über die menschliche Intersubjektivität besteht.
Verdeutlichen lässt sich der Umstand, dass die Diskussion über die Folgen unserer Abhängigkeit von sozialer Anerkennung in Europa tatsächlich über die nationalen Grenzen hinweg geführt wurde, schlaglichtartig bereits an einem kleinen, interessanten Detail in Smith' Werk. Zu Beginn des zweiten Teils seines bereits genannten Aufsatzes über »Das Adam Smith-Problem« erwähnt Oncken eher beiläufig, dass Smith in früheren Ausgaben seiner Theory of Moral Sentiments stets neben Mandevilles Bienenfabel auch die Maximen von La Rochefoucauld zu den moralphilosophischen Schriften gezählt habe, gegen die seine eigene Lehre maßgeblich gerichtet sei; später aber, nach einem Briefwechsel mit einem Nachkommen des Herzogs, habe Smith aus Rücksicht auf dessen ihm wohlgesonnene Familie den negativen Verweis auf die Maximen dann aber fallengelassen, so dass dieser in den heute gängigen Ausgaben nicht mehr zu finden ist. Wie auch immer man zu einer solchen Streichung aufgrund von persönlichen Beziehungen stehen mag, sie erhellt aufs Schönste, dass Adam Smith sich über seinen eigenen Platz in einem quer durch Europa verlaufenden Streit über das Verhältnis von Selbstbezüglichkeit und Intersubjektivität vollends 102im Klaren war: Auf der einen Seite standen für ihn diejenigen Denker, die er wegen ihrer Betonung des menschlichen Egoismus gerne als »Materialisten« bezeichnet und zu denen er eben auch die französische Linie des amour propre-Gedankens rechnete, auf der anderen Seite befanden sich hingegen diejenigen vornehmlich schottischen Autoren, die wie er selbst vom Faktum einer vorgängigen, in der Fähigkeit zur sympathy begründeten Intersubjektivität des Menschen her denken. Ganz in diesem Sinne heißt es an einer zentralen Stelle der Theory of Moral Sentiments zusammenfassend über den »materialistischen« Gegner, dass er das wahre Verhältnis unter den Menschen ganz grundsätzlich missverstehe: »Jene ganze Erklärung der menschlichen Natur jedoch, welche alle Empfindungen und Neigungen aus der Selbstliebe ableitet, eine Erklärung, die so viel Lärm in der Welt gemacht hat, die aber, soviel ich weiß, noch niemals vollständig und ganz klar deutlich dargelegt wurde, scheint mir aus einem verworrenen Mißverständnis des Sympathiesystems entsprungen zu sein.«106 Will man verstehen, welche höchst originellen Vorstellungen Smith in Bezug auf die zwischenmenschliche Anerkennung entwickelt, so wird alles darauf ankommen, in Erfahrung zu bringen, was es für ihn heißt, einen von Missverständnissen gereinigten Einblick in unser »Sympathiesystem« zu gewinnen.
An der Moralkonzeption von David Hume hatte ich zuvor vor allem diejenigen Bestandteile herausarbeiten wollen, die mir typisch für die Weise zu sein scheinen, in der auf der britischen Insel seit dem Ende des 17. Jahr103hunderts die Idee der zwischenmenschlichen Anerkennung allmählich Fuß zu fassen beginnt. Im Vordergrund hatte dabei Humes Überlegung gestanden, dass wir die Unregelmäßigkeiten und Befangenheiten unserer auf sympathy gegründeten Werturteile im Allgemeinen durch Bemühungen zu korrigieren versuchen, uns in die Perspektive eines unparteilichen Betrachters zu versetzen, um uns mit deren Hilfe über die Richtlinien eines angemesseneren, möglichst objektiven Urteils informieren zu lassen. In diesem Schachzug Humes habe ich den Fingerzeig auf eine originäre Idee der zwischenmenschlichen Anerkennung erblickt; denn damit wird faktisch zugestanden, dass wir gewillt sind, unsere Überzeugungen und Absichten so weit einzuschränken, wie es ein von uns mit moralischer Autorität ausgestatteter Repräsentant unparteilicher Zuschauer für angemessen hält. Anerkennen heißt hier, so lässt sich sagen, einem anderen Subjekt den normativen Status einzuräumen, uns durch Billigung oder Tadel über die moralische Angemessenheit unserer eigenen Verhaltensweisen zu belehren. Allerdings war bei Hume sehr unklar geblieben, so hatten wir ebenfalls schon gesehen, auf welchen Wegen sich ein solcher unparteilicher Schiedsrichter im Geist oder in der Psyche des Einzelnen Platz verschaffen können soll; zwar glaubt Hume, dass wir durch das Bedürfnis nach öffentlichem Ansehen und gutem Ruf dazu angehalten werden, die normativen Erwartungen unserer Zeitgenossen zu erfüllen, aber das erklärt noch lange nicht, warum wir dabei an einem unparteilichen, möglichst objektiven Urteil über unser eigenes Verhalten interessiert sein sollten: Sich im eigenen Verhalten vom Standpunkt der eigenen moralischen Bezugsgruppe leiten zu lassen bedeutet im Allgemeinen gerade nicht, die Perspektive eines 104»gerechten«, unparteilichen Richters einzunehmen. Der »ideale« Beobachter, den Hume vor Augen zu haben scheint, kommt daher wie ein deus ex machina daher, ohne dass empirisch dargelegt würde, über welche Schritte er moralische Autorität über uns gewinnen könnte. Diese empfindliche Schwachstelle in Humes Konzeption lässt deutlich werden, dass er bei seinem Versuch einer intersubjektivistischen Widerlegung des damals vorherrschenden Individualismus auf halbem Wege stecken geblieben ist; erst Adam Smith wird das von ihm in Anschluss an Shaftesbury und Hutcheson verfolgte Projekt erfolgreich zu Ende führen, indem er zeigt, wie wir unser moralisches Verhalten schrittweise von immer umfassenderen Formen der sozialen Anerkennung abhängig zu machen lernen.
Der Ausgangspunkt, von dem aus Smith das Feld des Moralischen zu erschließen versucht, ist derselbe wie bei Hutcheson und Hume; auch er fragt sich in typisch empiristischer Manier, woran sich eigentlich die moralischen Urteile bemessen, die wir alltäglich über die Charaktereigenschaften und das soziale Verhalten anderer Personen fällen. Von Hume übernimmt er dabei auch die Prämisse, dass wir mit den von diesem Verhalten betroffenen Personen durch ein Band der sympathy emotional verbunden sind, das es uns erlaubt, deren affektive Reaktionen in uns nachzuempfinden. Über Hume hinausgehend warnt Smith an dieser frühen Stelle allerdings vor dem Missverständnis, die uns angeborene Fähigkeit zur sympathy versetze uns in die Lage, die Empfindungen der anderen betroffenen Personen exakt in der qualitativen Weise nachzuerleben, wie diese sie verspürt haben müssen; wir besitzen nicht die Gabe der direkten Einfühlung, sondern müssen den Umweg über unsere 105eigenen Erfahrungen nehmen, um uns auf deren Basis und mittels unserer »Einbildungskraft« (»imagination«)107 auszumalen, wie sich die andere Person angesichts eines sie betreffenden Vorkommnisses wohl fühlen müsste: »Bei allen Affekten, deren das menschliche Gemüt fähig ist, entsprechen die Gemütsbewegungen des Zuschauers immer dem Bilde, das dieser sich von den Empfindungen des Leidenden macht, indem er sich in dessen Fall hineindenkt.«108 Insofern ist bereits die Bedeutung, die Smith unserer Fähigkeit zur sympathy verleiht, eine ganz andere als bei seinem Freund Hume; während dieser darin ein bloß passives Vermögen erblickt, sich von den Gefühlsempfindungen anderer Personen anstecken zu lassen, operiert jener mit der Vorstellung, wir würden uns kraft unserer Einbildungskraft »projektiv« solche Gemütszustände zu eigen machen müssen.109 Darüber hinaus lässt Smith keinen Zweifel daran, dass sympathy nicht etwa bedeuten kann, nur den »Kummer« oder das Leid des betroffenen Menschen nachempfinden zu können; wäre es so, dann hätten wir es allein mit »Erbarmen« (»compassion«) oder »Mitleid« (»pity«) zu tun, die in Frage stehende Disposition muss aber in dem wei106ten Sinn verstanden werden, dass sie zum Nachempfinden »jeder Art von Affekten« befähigt.110
Nach diesen begrifflichen Vorklärungen wendet sich Smith dem Thema zu, das im Zentrum seiner Grundlegung einer Moraltheorie stehen soll; er fragt sich nun nämlich, welche moralischen Haltungen und Tugenden auf der Basis unserer natürlichen Befähigung zur sympathy in dem Sinn als universalistisch geboten gelten dürfen, dass sie aus der Perspektive aller Subjekte bei allen Subjekten erwünscht sind.111 Die Argumentation, die Smith zu diesem Zweck in seiner Theory of Moral Sentiments entwickelt, ist bei weitem zu komplex, als dass sie hier auch nur annähernd vollständig wiedergegeben werden könnte; stattdessen will ich mich, wie schon im Falle von Humes Moralkonzept, auf eine Darstellung allein der Bestandteile seiner Theorie beschränken, die den Kern der darin angelegten Idee der zwischenmenschlichen Anerkennung zu erkennen geben. Der erste Schritt, den Smith in diese Richtung unternimmt, besteht in der empirischen Beobachtung, dass unserer unwillkürlichen Neigung, mit anderen Personen mitzufühlen, auf deren Seite reziprok der Wunsch entspricht, Andere mögen mit ihnen mitempfinden; »sicher ist«, so heißt es daher gleich zu Beginn des 2. Kapitels im allerersten Abschnitt, »daß nichts unser Wohlgefallen mehr erweckt, als einen Menschen zu sehen, der für alle Gemütsbewegungen unserer Brust Mitgefühl empfindet, und daß uns nichts so sehr verdrießt, als wenn wir an einem Menschen kalte Gefühllosigkeit be107obachten«.112 Smith schildert Dutzende von Beispielen, die belegen sollen, dass wir im Alltag unabhängig davon, wie nah oder fern uns eine Person steht, stets ein hohes Maß an Wohlgefallen empfinden, wenn wir uns mit ihr angesichts bestimmter Vorkommnisse im affektiven Gleichklang befinden; der Freund hingegen, der nicht lacht, wenn wir uns über ein uns widerfahrenes Ereignis freuen, löst bei uns ebenso Befremden oder Unbehagen aus wie die Person, die nicht mittrauert, wenn wir aufgrund eines erlittenen Unglücks Bekümmernis empfinden.113 Das alles soll zunächst einmal nur dem Nachweis dienen, wie tief in der Natur des Menschen der Wunsch verankert ist, durch ein Band des emotionalen Übereinstimmens mit jedem anderen Mitmenschen verbunden zu sein.
Freilich ist sich Smith auch darüber im Klaren, dass die bloße Erwartung einer solchen Wechselseitigkeit im emotionalen Erleben noch nichts darüber besagt, welche Gebote wir möglicherweise im Umgang miteinander zu berücksichtigen hätten. Um sich diesem Kern aller Moral ein wenig weiter anzunähern, wendet er sich im zweiten Schritt einigen Komplikationen im Prozess des affektiven Aufeinandereinstellens zu, von denen er sich genauere Auskunft über dessen Verlauf erhofft; auch dieses Vorgehen ähnelt wiederum der Argumentation Humes, der ja ebenfalls einen Umweg über die Unregelmäßigkeiten unserer moralischen Bewertungen genommen hatte, um deren tatsächliche Beschaffenheit zu erkunden, nur dass Smith dabei nun wesentlich weiter ausholt und dementsprechend auch zu differenzierteren 108Ergebnissen gelangt. Zunächst führt er die auf den ersten Blick irritierende Beobachtung an, dass wir auch dann etwa mit einer von einem Unglück betroffenen Person mitleiden, wenn diese keinerlei Zeichen des Schmerzes zu erkennen gibt; und umgekehrt werden wir, so fährt Smith fort, dann nicht den Schmerz einer Person nachempfinden können, wenn uns dessen Anlass als zu nichtig oder unbedeutend erscheint.114 Werden zu derartigen Beispielen weitere hinzugefügt, so zeigt sich für Smith, dass wir gemeinhin nicht einfach nur nachempfinden, was eine andere Person je aktuell an Gefühlsregungen in ihrer Mimik oder Gestik zu erkennen gibt; vielmehr beurteilen wir solche wahrnehmbaren Affekte kraft unseres Vorstellungsvermögens automatisch immer schon daraufhin, ob sie der gegebenen Situation angemessen oder unangemessen sind. Der Begriff, den Smith heranzieht, um sich diesen Umstand zunächst einmal zu erklären, lautet »propriety« oder »Schicklichkeit«;115 er soll besagen, dass wir uns in unserem Mitempfinden wie selbstverständlich von dem normativen Gesichtspunkt leiten lassen, ob ein wahrnehmbarer Affekt in einem »schicklichen« oder angemessenen Verhältnis zu der ihn auslösenden Situation steht. Allerdings ist Smith klug genug, um zu wissen, dass auch mit dieser vertieften Analyse unseres emotionalen Miterlebens noch nicht allzu viel gewonnen ist; zwar ist nun klar, dass wir nicht umhinkönnen, im Mitempfinden implizit normative Kriterien anzuwenden, die sich auf die situative Angemessenheit einer Verhaltensreaktion beziehen, aber woher diese Maßstäbe stammen und wie sie mithin 109zu erklären wären, ist noch vollkommen undurchsichtig.
Dem Versuch, diese Erklärungslücke zu schließen, dient der nächste, dritte Schritt in Smith' Argumentation, der freilich aus mehreren Stufen besteht und sich im Grunde über das ganze Buch erstreckt. Smith beginnt seinen Gedankengang mit der Feststellung, dass wir die Angemessenheit oder »Schicklichkeit« unserer eigenen emotionalen Reaktion im Allgemeinen danach beurteilen, ob ihr ein beliebiger Betrachter derselben Situation zustimmen könnte; das soll zunächst so viel heißen wie, dass uns das Hineinversetzen in einen unbeteiligten Zuschauer darüber belehrt, in welcher Weise wir affektiv angemessen auf das einer anderen Person zugestoßene Ereignis zu reagieren hätten. Allerdings gilt Smith zufolge dasselbe umgekehrt auch für die primär betroffene Person; auch sie muss sich aus der Perspektive eines solchen unbeteiligten Betrachters fragen, welche emotionale Reaktion auf das ihr zugestoßene Geschehen die angemessene wäre.116 Insofern haben wir es bei dem Szenario, das hier skizziert wird, mit einer Wechselseitigkeit nicht mehr nur im Wunsch nach emotionaler Gemeinsamkeit, sondern auch im Wunsch nach Billigung aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters zu tun: Beide Subjekte, dasjenige, das eine Situation emotional bewertet, ebenso wie dasjenige, das von dieser affektiv betroffen ist, wünschen reziprok, dass ihre jeweilige Reaktion nicht nur einfach die Zustimmung des Interaktionspartners, sondern auch die eines unbeteiligten Zuschauers finden könnte; vielleicht ließe sich auch sagen, dass beide Subjekte jeweils darum 110bemüht sein sollen, ihr emotionales Aufeinandereinstimmen zusätzlich auch noch einmal aus der Perspektive eines solchen neutralen Betrachters zu regulieren.
Zwei weitere Elemente muss Smith zu diesem Modell der emotionalen Wechselseitigkeit noch hinzufügen, bevor er daraus die ethischen Tugenden herleiten kann, die er im Rahmen seiner naturalistischen Ethik für universalistisch rechtfertigbar hält. Zum einen ist noch nicht hinreichend klar, wie jener unbeteiligte Zuschauer beschaffen sein soll, von dem sich die beiden Beteiligten jeweils die Billigung ihrer aufeinander bezogenen Gefühlsreaktionen erhoffen. Dieser Betrachter muss Smith zufolge im Laufe des wechselseitigen Aufeinandereinstellens immer abstraktere Formen annehmen, weil beide Beteiligte sukzessive genötigt werden, stets weitere Stimmen unbeteiligter Zuschauer in die normative Selbstbeurteilung der Angemessenheit ihres emotionalen Verhaltens einzubeziehen;117 und der Prozess einer solchen Generalisierung des billigenden oder tadelnden Anderen soll sich, folgt man dem Autor über die verschiedenen Stufen seiner Darstellung, bis zu einem Punkt hinziehen, an dem dieser »alles sehende«,118 »große[n] Richter[s] und Schiedsherr[n]«119 sogar mit der »Vernunft«120 zusammenzufallen scheint ‒ eine problematische Referenz im Kontext des Empirismus von Smith, die aber auf Schönste dessen Bedeutung für Kant erah111nen lässt.121 Keinen Zweifel lässt Adam Smith ebenfalls daran aufkommen, dass wir uns diesen generalisierten Zuschauer eher nach dem Muster einer inneren Stimme des Gewissens als nach dem eines äußerlich bleibenden Richters vorstellen müssen; so heißt es an einer Stelle, wiederum in erstaunlicher Vorwegnahme von Überlegungen Kants, dass jede Person einen »Stellvertreter« jenes »unparteiischen Zuschauers« in Gestalt eines »inneren Menschen in seiner eigenen Brust« trage.122
Aber auch wenn diese Ausführungen Smith' unmissverständlich zu erkennen geben, dass wir uns die emotionale Selbstkontrolle der Beteiligten nach dem Muster der Internalisierung eines schrittweise generalisierten Anderen vorstellen müssen, der schließlich die Stimmen aller Mitmenschen umfasst, bleibt eine zweite Frage immer noch offen; denn vollkommen ungeklärt ist bislang, woher der Einzelne überhaupt die Motivation beziehen soll, sich einem solchen Prozess der Kontrolle seines affektiven Verhaltens zu unterwerfen. Dort, wo Smith dieses Problem am Rande streift, klingt es gelegentlich so, als wiederhole er nur die Lösung Humes; dann würden wir uns deswegen veranlasst fühlen, unsere emotionalen Reaktionen ständig im Lichte des Richtspruchs eines generalisierten Zuschauers zu überprüfen, weil wir dadurch zu öffentlichem Ruhm und sozialem Ansehen zu gelangen hoffen.123 Dass Smith indes eine komplexere Vorstellung unseres Motivationsgefüges besitzt, wird er112sichtlich, sobald er sich explizit der Thematik annimmt; an solchen Stellen, deutlich etwa im 2. Kapitel des Dritten Teils,124 heißt es nämlich, dass wir in der normativen Selbstkontrolle unseres affektiven Verhaltens vorrangig nicht Lob und oder Zuneigung erstreben, sondern »Lobenswürdigkeit« oder »Zuneigungswürdigkeit«. Gemeint ist damit, dass uns bloßes Lob oder einfache Zuneigung gewöhnlich nicht zufriedenstellen können, weil wir darüber hinaus immer auch wissen wollen, ob wir dieses Lobs oder dieser Zuneigung auch würdig sind. Gemäß dieser von Smith häufig wiederholten Formulierung müssen wir uns also das Motiv, das uns zur normativen Selbstkontrolle unseres Verhaltens antreibt, seinerseits selbst als »moralisch« vorstellen; und demensprechend lautet dann auch der Satz, in dem er seine Überlegungen zusammenfasst, ganz so, als wolle er unser Glück und unsere Zufriedenheit vom ständigen Nachweis der Lobenswürdigkeit unserer Affektsteuerung abhängig sein lassen: »Die Gerichtsbarkeit des ›inneren‹ Menschen [also des internalisierten unparteilichen Beobachters, A. H.] gründet sich ganz und gar auf den Wunsch, lobenswürdig zu sein und auf die Abneigung dagegen, tadelnswert zu sein; diese Gerichtsbarkeit gründet sich auf den Wunsch, jene Eigenschaften zu besitzen und jene Handlungen zu vollbringen, die wir an anderen Menschen lieben und bewundern, und auf die Furcht, jene Eigenschaften zu besitzen und jene Handlungen zu vollbringen, die wir an anderen Menschen hassen und verachten.«125
Es würde hier zu weit führen, all die weitreichenden 113Implikationen zu erörtern, die diese sich in Neuland vortastenden Ausführungen Smith' mit sich bringen, aber es liegt auf der Hand, dass er damit nichts Geringeres behauptet, als dass wir deswegen bereit sein sollen, unsere interpersonellen Gefühle gemäß des verinnerlichten Richtspruch eines generalisierten Anderen zu modellieren, weil wir von Natur aus an einem »berechtigten Gebilligtwerden«126 ein Interesse haben. Man mag, je nach philosophischer Einstellung, in einer solchen These entweder einen kühnen Vorgriff auf Kant oder einen Rückfall hinter die methodischen Prämissen des Empirismus vermuten; auch lässt sich fragen, ob Smith den Graben zwischen unserem Bedürfnis nach sozialem Lob und unserem Interesse an gerechtfertigter Billigung hier eventuell so tief gezogen hat, dass eine plausible Vermittlung beider Bestrebungen gar nicht mehr möglich ist; gelegentlich hat es tatsächlich den Anschein, als spräche der Autor bereits von den zwei »Naturen« des Menschen, der »empirischen« und der »intelligiblen«.127 Aber unabhängig von derartigen Rückfragen und Bedenken versetzt uns die soeben zitierte Stelle nun in die Lage, in Form eines zusammenfassenden Rückblicks die Frage zu beantworten, auf welche Idee der sozialen Anerkennung Smith mit seiner Moraltheorie eigentlich zusteuert.
Deutlich geworden ist sicherlich, dass Anerkennung bei Adam Smith mehr an normativen Rücksichtnahmen, mehr an moralischen Dispositionen beinhalten muss als bei David Hume. War dieser in seinen moraltheoreti114schen Überlegungen davon ausgegangen, dass wir aus Gründen unseres egozentrischen Interesses an sozialem Ansehen und Status bereit sind, einem unvoreingenommenen Zuschauer die Autorität einzuräumen, unser Verhalten normativ zu regulieren, so will Smith die Voraussetzung eines solchen zunächst auf seine eigenen Interessen bedachten Subjekts erst gar nicht akzeptieren; er kann es auch nicht, denn für ihn reicht das uns emotional vereinigende Band der sympathy viel zu tief in die individuelle Persönlichkeit hinein, als dass er zugestehen könnte, wir seien zunächst isolierte Einzelwesen, um dann erst sekundär mit Hilfe der wechselseitigen Orientierung an einem unparteilichen Richter vereinigt zu werden. Zwischenmenschliche Anerkennung heißt daher für Smith vorweg und ganz grundsätzlich erst einmal, jeden anderen Menschen als ein Wesen zu nehmen, mit dem man sich im Fühlen und Erleben verbunden wissen möchte. Allerdings reicht diese elementare, gleichsam naturgegebene Anerkennung für Smith nicht aus, um tatsächlich ein solches »affektives Kommunizieren«128 zwischen allen Menschen sicherzustellen; denn wir sind aufgrund unserer je individuellen Vorlieben, kulturellen Gewohnheiten und persönlichen Befangenheiten nicht automatisch dazu in der Lage, mit der anderen Person so mitzufühlen, wie es gemäß der Umstände angemessen wäre. Daher hält Smith gewissermaßen eine zweite Stufe der Anerkennung für erforderlich, deren Funktion es sein soll, das Fühlen und Empfinden der getrennten Subjekte stärker einander anzunähern; diese neue Form der Anerkennung besteht darin, durch die Internalisie115rung möglichst vieler anderer Blickwinkel in sich die Stimme eines unparteilichen und wohlinformierten Richters zu erzeugen, dem die Autorität zugestanden wird, durch Billigung und Tadel die eigenen Gefühlsregungen sukzessive mit denen aller Anderen zu harmonisieren. Ist die erste, emotionale Form der Anerkennung direkt auf den anderen Menschen bezogen, dem dasselbe Bedürfnis nach einem kommunikativen Mitfühlen unterstellt wird, so ist die zweite Form der Anerkennung nur mittels des generalisierten Anderen, also indirekt, auf den Mitmenschen ausgerichtet; hier gilt die Anerkennung primär der idealisierten Gemeinschaft aller Gesellschaftsmitglieder, der als dem nach innen verlagerten Richter die moralische Autorität eingeräumt wird, über die Angemessenheit der eigenen Gefühle zu befinden und damit den Charakter des individuellen Selbst zu formen. Ob Smith gut daran getan hat, auch diese zweite Form der Anerkennung für eine Mitgift unserer ersten Natur zu halten, will ich hier offenlassen.129
Nichts von dem, was ich bislang über Smith' Idee der Anerkennung gesagt habe, rechtfertigt allerdings die zuvor aufgestellte Behauptung, er habe damit genauso wie Hume dem sich mit dem kapitalistischen Markt ausweitenden Egozentrismus seiner englischen Landsleute vorbeugen wollen. Was David Hume anbelangt, so mag diese These noch einigermaßen plausibel klingen, finden sich in seinen Schriften doch genügend Belege, die erhebliche Zweifel an der Vorstellung verraten, das Gemeinwohl lasse sich allein mittels einer geschickten Koordinierung von egozentrischen Interessen steigern. Zwar 116war Hume an der neuen Disziplin der Politischen Ökonomie höchst interessiert und versuchte sich selbst daran,130 aber der Botschaft, der Markt funktioniere umso besser, je weniger moralische Rücksichtnahmen das Eigeninteresse einschränken, stand er zeitlebens doch höchst skeptisch gegenüber; gegen Mandeville verteidigte er die Vorstellung, wie Mikko Tolonen jüngst sehr schön gezeigt hat, der Markt bedürfe einer eigenen »political sociability«, also politisch geförderter Anstandsregeln, um seinen Aufgaben gerecht werden zu können.131 Mit Blick auf Adam Smith stellen sich diese Dinge aber komplizierter dar, denn es will gewiss nicht ohne Weiteres einleuchten, dass sein philosophisches Werk primär darauf gerichtet gewesen sein soll, dem kapitalistischen Markt mit seinen Zwängen zur privaten Interessenverfolgung entgegenzuwirken. Einer solchen Annahme steht die althergebrachte, bis heute weit verbreitete Vorstellung entgegen, der schottische Philosoph sei vom gesellschaftlichen Nutzen des individuellen Eigeninteresses so überzeugt gewesen, dass er für eine möglichst weitgehende Entgrenzung des Marktes plädiert habe, es sei also in seinem intellektuellen Schaffen vor allem um eine Rechtfertigung des freien Marktes gegangen; dabei stützt man sich allerdings ausschließlich auf die Schrift The Wealth of Nations, blendet also alle Beiträge zur Moralphilosophie aus.132 Darauf, dass dieses Bild des Philosophen abwegig ist, habe ich indes schon oben, im 117Zusammenhang mit dem »Adam Smith-Problem«, hingewiesen; je weiter die Bemühungen um die Interpretation von Smith' Werk voranschreiten, so viel lässt sich heute mit einiger Sicherheit sagen, desto stärker scheint sich die gegenteilige Auffassung durchzusetzen, nach der die von ihm entworfene Wirtschaftstheorie von seiner Moralphilosophie her gedeutet werden muss und daher nicht als eine simple Verteidigung des freien Marktes gelten darf.
In Folge dieses Einstellungswandels werden mittlerweile Smith' Absichten in The Wealth of Nations mehrheitlich ganz anders verstanden, als es der herrschenden Laissez-faire-Ideologie lieb sein kann. Folgt man etwa der Interpretation, die Samuel Fleischacker diesem Buch gegeben hat, so wollte der Autor darin zeigen, dass der kapitalistische Markt nur in denjenigen seiner Eigenschaften moralisch zu rechtfertigen sei, die aus der idealisierten Perspektive eines unparteilichen und wohlinformierten Richters zu billigen wären; und dementsprechend behauptet Fleischacker auch, Smith würde all das am Kapitalismus für tadelnswert und vielleicht sogar abschaffungswürdig halten, was einem solchen prozeduralen Kriterium widerspreche.133 Wird The Wealth of Nations im Lichte einer derartigen Deutung gelesen, so fallen daran sofort die vielen Elemente ins Auge, die keine andere Funktion zu haben scheinen, als dem Vor118dringen des ökonomischen Eigennutzes auf dem Markt einen Riegel vorzuschieben; so warnt Smith entschieden vor den destruktiven Folgen, die die hemmungslose Ausnutzung der Arbeitskraft für den Geist und die Psyche der Fabrikarbeiter haben könnte,134 außerdem empfiehlt er, stets das Ziel einer Befreiung des Lohnabhängigen von Knechtschaft und persönlicher Abhängigkeit im Blick zu haben,135 und unternimmt schließlich immer wieder Anstrengungen, eine gegebene wirtschaftliche Regelung aus der Perspektive aller von ihr Betroffenen zu bewerten.136 Gewiss, all diese Einschränkungen und Empfehlungen mögen schon damals nicht die besten Mittel gewesen sein, um den kapitalistischen Markt wirkungsvoll zu begrenzen, aber sie geben andererseits auch deutlich zu erkennen, dass Smith alles andere als ein glühender Verfechter des Glaubens an die Vorteile des wirtschaftlichen Eigennutzes war; er wollte die Anerkennung, die wir den anderen Menschen zollen, indem wir auf die Stimme unseres inneren Richters hören, nicht vor den Toren des neuen Wirtschaftssystems enden lassen, sondern sie ganz im Gegenteil auch dort in Form von prozeduralen Auflagen und moralischen Rücksichtnahmen verankert wissen.137 Selbst wenn er dabei nicht weit genug gegangen sein sollte und sicherlich zögerte, staatliche Eingriffe in den Marktkreislauf zu erwägen, so galt sein zentrales Anliegen in The Wealth 119of Nations doch dem Versuch, nach geeigneten Instrumenten zur Eindämmung egozentrischer Verhaltensweisen in der ökonomischen Sphäre zu suchen. Insofern mag es dann doch gerechtfertigt sein, Smith durchgängig die philosophische Absicht zu unterstellen, mit der Herausarbeitung der uns immer schon verbindenden Anerkennungsbeziehungen dem Anwachsen kapitalistischer Gesinnungen entgegenzuwirken; wie Hume, aber viel stärker intersubjektivistisch denkend als dieser, ist er überzeugt davon, dass wir von Natur aus die Bereitschaft besitzen, uns durch das Lob und den Tadel des generalisierten Anderen der Gemeinschaft aller Menschen zu einem dem Allgemeinwohl förderlichen Verhalten erziehen zu lassen.
Dass diese spezifische Vorstellung über den Wert der zwischenmenschlichen Anerkennung keine isolierte Erscheinung auf der britischen Insel geblieben ist, also nicht ein gedanklicher Sprössling ausschließlich der schottischen Moralphilosophie war, wird schlagend deutlich, wenn man achtzig Jahre verstreichen lässt und das Werk von John Stuart Mill in Augenschein nimmt. Nach dem ersten Augenschein sicherlich kein intersubjektivistischer Denker und zutiefst überzeugt davon, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, glaubt nämlich auch Mill an die moralische Macht von Lob und Tadel, von »praise« und »blame«, die er sich wie Hume und Smith mit dem Bedürfnis des Menschen nach sozialer Anerkennung erklärt. Freilich taucht dieser Gedanke, so entscheidend er für Mills liberale Agenda auch sein sollte, erst an einer viel späteren Stelle in seiner theoretischen Argumentation auf als bei den beiden schottischen Philosophen: Für Hume war, wie wir gesehen haben, unser Streben nach gesellschaftlichem Ansehen das Mittel, 120kraft dessen wir motivational genötigt werden, durch Selbstkontrolle soziale Befangenheiten in unseren Werturteilen zu beseitigen und uns um deren kognitive Kohärenz zu bemühen; für Smith, so hatten wir ebenfalls gesehen, war es sogar das Bedürfnis, mit allen Mitmenschen im affektiven Gleichklang leben zu wollen, welches uns dazu antreibt, unser Verhalten so einzurichten, dass es als lobenswürdig in den Augen eines unparteilichen Richters gelten kann. Für Mill aber sind solche Erwägungen über den Sitz und die Rolle eines »generalized other« in unserem Motivationssystems nicht von vorrangiger Bedeutung; zwar widmet er sich im 3. Kapitel seine Buches Utilitarianism ganz im Geiste von Smith der Frage, bis zu welchem Grade der Mensch »soziale Gefühle« besitzt,138 aber ihn interessiert das Verhältnis der Anerkennung doch vor allem in seiner gesellschaftspolitischen Funktion.
Der Ort, an dem Mill seine darauf gerichteten Überlegungen maßgeblich entwickelt, ist seine liberale Streitschrift On Liberty. Den gedanklichen Mittelpunkt dieses Buches bildet bekanntlich die gesellschaftspolitische Forderung, jeden Einzelnen in die Lage zu versetzen, möglichst ungestört und ungezwungen zu verwirklichen, was die Natur ihm und nur ihm als Persönlichkeitsanlagen in die Wiege gelegt hat.139 Auf diesen ethischen 121Grundpfeiler seines Liberalismus war der Autor gestoßen, nachdem er sich mit dem Schrifttum der englischen und deutschen Romantik beschäftigt hatte, das ihm eine gänzlich neue Vorstellung über die Eigenart der menschlichen Individualität vermittelte; in jeder Person, so war er seither überzeugt, ist ein Keim an ureigenen Fähigkeiten und Bestrebungen angelegt, den es im Laufe eines Lebens nach dem Muster eines organischen Prozesses sukzessive zu entfalten gilt.140 Auf der Basis dieses Ideals sah es Mill nun mehr und mehr als die primäre Aufgabe einer liberalen Gesellschaftsordnung an, für all die rechtlichen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen zu sorgen, die es dem Einzelnen ermöglichen würden, seine ihm in einzigartiger Weise zukommenden Anlagen so ungezwungen wie nur eben möglich zu verwirklichen. In der Schrift On Liberty, veröffentlicht im Jahr 1859, findet sich zum ersten Mal zusammengefasst, was das im Einzelnen mit Blick auf das gesellschaftliche Institutionengefüge beinhalten sollte: Vorgesehen ist hier ein Grundrecht auf Meinungs-, Gedanken- und Diskussionsfreiheit, das nur in ganz wenigen Ausnahmefällen eingeschränkt werden darf,141 ferner eine staatliche Verantwortung für ein ausreichendes Maß an kultureller Vielfalt142 und schließlich die Bereitstellung von Erziehungsmethoden, die das Kind über das ganze Spektrum 122unterschiedlicher Lebens- und Denkweisen informiert sein lassen sollen.143 Nimmt man die Studie Chapters on Socialism hinzu, die unvollendet blieb und von Helen Taylor erst 1879 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde,144 so scheint Mill an seinem Lebensende darüber hinaus zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass zu diesem Kranz liberaler Grundrechte und Einrichtungen auch eine staatliche Verpflichtung gehören müsse, die Erprobung neuer, den Belangen der Arbeiterschaft stärker entgegenkommender Wirtschaftsformen zu initiieren.
Selbstverständlich wirft dieser gesellschaftspolitische Forderungskatalog, wenn er derart ohne jede methodische Rahmung präsentiert wird, eine Reihe von Fragen auf, die uns hier aber nur am Rande beschäftigen müssen. An vorderster Stelle wäre natürlich zu klären, ob Mill seine Reformvorschläge eher utilitaristisch oder perfektionistisch zu begründen gedachte, ob er sich diese also als Summe des größtmöglichen Wohls aller oder als institutionellen Inbegriff einer auf keinerlei Nutzen abzielenden Konzeption des guten Lebens vorstellen wollte; die damit angeschnittene, eher metaethische Frage, die als Erster wohl Isaiah Berlin aufgeworfen hat, um die notorische Zurechnung Mills zum Utilitarismus zu proble123matisieren,145 ist jedoch für unser Thema der Rolle der Anerkennung in seinem Denken ohne Belang. Viel relevanter ist in dieser Hinsicht hingegen die ebenso häufig diskutierte Frage, welche Mittel der sozialen Kontrolle Mill für den Fall vorgesehen hat, dass der institutionell zu fördernde Prozess der individuellen Selbstrealisierung der einen Person eine Richtung annimmt, in der er mit den Absichten der Selbstrealisierung einer anderen Person kollidiert. Geregelt werden sollen derartige Konflikte, wie hinlänglich bekannt ist, nach dem sogenannten »harm principle«; dieses sieht vor, dass die Äußerungen oder Lebensstile einer Person oder Gruppe dann legitimerweise unterdrückt werden dürfen, wenn sie eine andere Person oder Gruppe in ihren parallelen Versuchen der Selbstrealisierung beeinträchtigen oder einschränken könnten.146 Mill hat in seinem Werk viel Mühe darauf verwendet, exakt die normative Grenze zu bestimmen, ab der eine derartige Schädigung vorliegen könnte; in seinem Buch Utilitarianism spielt er mit dem Gedanken, dass jedes Individuum aufgrund des kulturellen Fortschritts inzwischen über »moralische Rechte« verfügt, die nicht verletzt werden dürften;147 und auch in On Liberty tauchen diese Rechte wieder auf, aber hier geht es Mill vor allem darum, die genannte Grenze so auszudehnen, dass möglichst viel Freiraum 124für das mit sich experimentierende, dabei auch Selbstschädigungen in Kauf nehmende Individuum bestehen bleibt.148 In beiden Büchern jedoch findet sich an jeweils sehr zentralen Stellen der Hinweis, dass das geeignetste Mittel zur frühzeitigen Vermeidung oder nachträglichen Schlichtung solcher Konflikte darin bestehe, die Subjekte durch moralisches Lob oder moralischen Tadel zur Rücksichtnahme auf die Interessen ihrer Mitmenschen zu bewegen; nicht durch Androhung gesetzlicher Strafen, sondern durch öffentliche Billigung oder Missbilligung, so ist Mill überzeugt, kann eine Gesellschaft am ehesten und effektivsten darauf hinwirken, dass Konflikte zwischen unterschiedlichen Wegen der individuellen Selbstrealisierung bereits im Keim erstickt werden. Natürlich gibt Mill, wo er dieses soziale Instrument empfiehlt, immer auch zugleich der Sorge Ausdruck, dadurch könne schnell eine »Tyrannei der Mehrheit« entstehen, die einer »moralischen Polizei« gleich jeder Innovation unserer Lebensgewohnheiten den Atem zu nehmen droht;149 in einem solchen Fall fungiere die öffentliche Billigung oder Missbilligung nicht als Stimulanz der moralischen Selbstkontrolle, sondern als Mittel der Unterdrückung von kreativen Impulsen der sozialen Neugestaltung. Trotz dieser Bedenken bleibt Mill aber überzeugt davon, dass unter der Bedingung eines behutsamen, liberalen Gebrauchs öffentliches Lob und öffentlicher Tadel die vorläufig besten Instrumente darstellen, über die eine Gesellschaft verfügt, um Konflikte zwischen sich ins Gehege kommenden Lebensweisen zu vermeiden.
125Den Grund dafür, dass das Mittel der moralischen Missbilligung derart effektiv ist, scheint Mill nun aber in einem Grundzug unserer Natur zu erblicken, auf den er in seinen Schriften immer wieder zurückkommt. An diesem spezifischen Punkt seiner gesellschaftspolitischen Überlegungen stoßen wir dann endlich auf seine eigene Verwendung der Idee der Anerkennung. Er ist nämlich davon überzeugt, dass wir uns deswegen durch die öffentliche Missbilligung so bereitwillig zur moralischen Rücksichtnahme auf Andere bewegen lassen, weil wir ein tiefsitzendes Bedürfnis haben, von unseren Mitmenschen sozial wertgeschätzt zu werden. Der Wunsch, ein anerkanntes Mitglied der eigenen Gemeinschaft zu sein, ist Mill zufolge die motivationale Wirkkraft, die das Instrument des öffentlich gemachten Tadels so erfolgreich sein lässt: Jede Person, die sich in dieser Weise vor den Augen aller ihrer Mitbürger zurechtgewiesen sieht, muss befürchten, über kurz oder lang nicht mehr dazuzugehören ‒ und wird daher schnell die Bereitschaft entwickeln, den angemahnten Normen zu folgen. Für Mill ist das soziale Band, das uns als ein Gemeinwesen zusammenhält, somit aus dem Stoff der wechselseitigen Anerkennung gewebt, und entsprechend heißt es in Utilitarianism, es sei »die Furcht vor Mißfallen seitens unserer Mitmenschen«, die »uns dazu bring[t]«, dem Willen der Gemeinschaft »auch ohne selbstsüchtige Folgen« zu gehorchen.150
So kehrt also in den gesellschaftspolitischen Überlegungen John Stuart Mills ungefähr ebenjene Idee von Anerkennung wieder, die uns bereits in psychologisch gewiss raffinierterer Form bei David Hume und Adam 126Smith begegnet war. Der utilitaristische Denker ‒ wenn er denn ein solcher war ‒ verzichtet zwar gänzlich auf die Konstruktion eines unparteilichen Beobachters oder inneren Richters, glaubt aber doch wie seine beiden schottischen Vorgänger, dass wir Menschen um der Wertschätzung durch die soziale Gemeinschaft willen bereit sind, unsere Motive oder Handlungsabsichten einer Selbstrevision zu unterziehen, durch die sie mit denen aller unserer Mitmenschen in moralische Übereinstimmung gebracht werden. Auch wenn keiner der drei Philosophen den Begriff »Anerkennung« ausdrücklich verwendet, so steht ihnen doch gemeinsam das, was damit der Sache nach gemeint ist, als ein positives Gut vor Augen: Für Mill ‒ nicht anders als für Hume oder Smith ‒ bedeutet die Abhängigkeit des Menschen vom Urteil Anderer nämlich zunächst und vor allem, sich genötigt zu sehen, das eigene Verhalten daraufhin zu prüfen, ob es mit der normativen Erwartungshaltung der sei es idealisierten, sei es realen Gemeinschaft aller Zeitgenossen als vereinbar gelten kann.151
Über die Ursache für diesen Gleichklang in der Idee der Anerkennung auf der britischen Insel lässt sich nur spekulieren; gleich zu Beginn dieses Kapitels habe ich vermutet, dass die im Vergleich mit den anderen Ländern Europas schnellere Ausweitung kapitalistischer Mentalitäten hierfür nicht ohne Bedeutung gewesen sein mag; um diesen kulturellen Tendenzen mit philosophischen 127Mitteln entgegenzuwirken, so meine These, haben sich die britischen Denker des 17. und 18 Jahrhunderts bemüßigt gesehen, gegenüber dem seit Hobbes vorherrschenden »Besitzindividualismus«152 die soziale Natur des Menschen hervorzukehren. Das Beispiel John Stuart Mills scheint mir diese Mutmaßung nun für das 19. Jahrhundert zu bestätigen: Auch Mill nimmt die Steigerung von Selbstsucht, Profitgier und sozialer Rücksichtslosigkeit als die bestimmenden Züge des Englands seiner Zeit wahr, so dass er glaubt, dagegen mit Hilfe einer den Gemeinsinn hervorkehrenden Theorie ankämpfen zu müssen. Der Impuls des Denkers, sich im fortgeschrittenen Alter sympathisierend mit dem Frühsozialismus auseinanderzusetzen, verdankt sich unzweideutig genau dieser Motivlage; immer wieder ist in der Schrift vom bedrohlich schwachen »Gemeinsinn« und von der wachsenden »Gier nach persönlicher Bereicherung« die Rede,153 denen gegenüber es gälte, gemeinsam mit den sozialistischen Parteigängern nach Mitteln der institutionellen Abhilfe zu suchen.
Es bietet sich auf den ersten Blick an, die damit skizzierte These über das spezifisch britische Verständnis von Anerkennung durch eine Würdigung des Neohegelianismus abzurunden, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Vorherrschaft Mills in der englischsprachigen Philosophie beendet.154 Und in der Tat drängt sich die Vermutung auf, diese philosophisch-soziale Bewe128gung wolle den bereits bei Hume, bei Smith und selbst bei Mill angelegten Intersubjektivismus durch Anleihen beim Deutschen Idealismus nur noch einmal vertiefen: An die Philosophie Kants und Hegels knüpft man an, weil deren Begriff der positiven Freiheit es erlauben soll, gegenüber dem in England grassierenden Individualismus die Angewiesenheit des Einzelnen auf eine unterstützende Gemeinschaft zu demonstrieren; jeder Mensch, so argumentieren Thomas Hill Green und Francis Herbert Bradley, wird zu einer moralischen Person nur dadurch, dass er innerhalb eines sozialen Gemeinwesens lernt, sich gemäß der dort jeweils herrschenden Regeln zu verhalten und sich diese zu eigen zu machen;155 umgekehrt bedeutet das für beide Philosophen aber auch, dass die Gemeinschaft ihrerseits eine Verpflichtung besitzt, jedes ihrer Mitglieder mit den sozialen Voraussetzungen auszustatten, die es zum Erlernen und zur Übernahme der gesellschaftlich bindenden Regeln überhaupt erst befähigen.156 Insofern fällt, wie alle Anhänger der neuen philosophischen Bewegung annehmen, der Prozess der individuellen Selbstverwirklichung mit dem der ethischen Perfektionierung einer Gesellschaft zusammen; und politisch zieht man daraus den Schluss, wohlfahrtsstaatliche Reformen vorzuschlagen, die dem Zweck der Integration der Arbeiterklasse in den demokratischen Rechtsstaat dienen sollen.157 129Wird noch hinzugenommen, mit welch großer Vehemenz man von Seiten der Bewegung gegen die Auswüchse des Manchesterkapitalismus aufbegehrt, so scheint tatsächlich nichts gegen die Behauptung zu sprechen, dass alles, was ich bislang über die Verwendung der Idee der Anerkennung bei Hume, Smith und Mill gesagt habe, in noch viel stärkerem Maße auf den britischen Neohegelianismus zutrifft. Allein, diese These hat einen gravierenden Haken, der eine solche Abrundung meiner Rekonstruktion unmöglich macht: Bei den moralphilosophischen Entwürfen von Green, Bradley oder Bosanquet handelt es sich so sehr um direkte gedankliche Importe aus der Ideenwelt des Deutschen Idealismus, dass darin Züge eines spezifisch britischen Denkstils kaum mehr wiederzuentdecken sind.158 Im Neohegelianismus wird gerade nicht weiterentwickelt, was zuvor in der Tradition der schottischen Moralphilosophie mit Bezug auf die soziale Natur des Menschen entfaltet worden war; vielmehr erschließt man, was die menschliche Intersubjektivität ausmacht, im begrifflichen Horizont einer Tradition, die ihre wesentlichen Impulse gerade aus der Entgegensetzung zu Strömungen wie dem englischen Empirismus gewonnen hat.159 Daher unterscheidet sich die Idee der Anerkennung, die implizit im britischen Neohegelianismus Verwendung findet, ganz wesentlich von derjenigen, die ich bislang als typisch für den philosophischen Diskurs im Großbritannien der entstehen130den Moderne beschrieben habe; was hier als eine empirische Größe gefasst wird, nämlich unsere motivationale Abhängigkeit von der Zustimmung oder Wertschätzung durch Andere, gilt dort als eine konstitutive Bedingung unserer moralischen Subjektivität. Wie tief die Kluft aber tatsächlich ist, wird sich im nun folgenden Kapitel zeigen, in dem ich die Entstehung und die Entwicklung der Idee der Anerkennung im Deutschland der entstehenden Moderne nachvollziehen werde.