Vor Jahrzehnten begann ich, Heidegger zu lesen; eine faszinierende, zunehmend schwierigere Lektüre. Ich wollte mein Buch darüber, besser, daraus schreiben. Eine Untersuchung oder Abhandlung ists nicht geworden; die in sich geschlossene Form nahm mir den langen Atem. Stattdessen aus kurzem, aber befreitem Atem: Brechungen, Scherben, Splitter, ein Kaleidoskop von Versuchen – Fragmente zu Heidegger.
Also: kurze Gebilde von großer Intensität, verharrende Flüchtigkeit, Ansatz und Abbruch, Offenheit. All das hat etwas mit Heideggers Denken zu tun. Es umkreist Worte als Keimzellen von Gedankengängen, die kein Talent zur Systematik zeigen. Alles ist Bewegung, unterwegs. Selbst »Sein und Zeit« blieb Bruchstück.
Doch dann ist mir auch wichtig, was Friedrich Schlegel übers Fragment schreibt. Es sei »Lessingsches Salz gegen geistige Fäulnis, vielleicht eine zynische lanx satura im Styl des alten Lucilius oder Horaz, oder gar fermenta cognitionis zur kritischen Philosophie, Randglossen zu dem Text des Zeitalters«.[1] Das scheint locker dahingesagt: wahrscheinlich ist das Fragment dies.
Die geistige Faulheit der Heidegger-Dogmatik ist unübersehbar. Wenn ich auch nicht über »Lessingsches Salz« verfüge, gefällt mir die Vorstellung eines Heidegger lesenden Lessing. Hätte Lessing Heidegger ausgehalten? Hätte er ihn gemocht? Seine Vorliebe für Spinoza hatte damals nicht einmal sein Freund Moses Mendelssohn erwartet. Man sagt, er sei aus Verschnupftheit über Lessings Spinozismus gestorben.
Es ließe sich gewiss eine Satura schreiben. Da wären die Lordsiegelbewahrer des Heidegger’schen Denk-Werks, die die reine Lehre zu Tode konservieren. Mit grimmer Leidenschaft versenden sie E-Mails zur Rettung des Abendlandes; verfolgen Un-Orthodoxe mit erzkatholischem Nächstenhass. Die Satire ließe sich schreiben, doch unter Philosophen und Philosophinnen ist Humor ein rares Gut. Man würde ihr das Böse unterstellen, das ihrem Gegenstand eignet. Sie schlagen den Sack und müssen den Esel meinen: Der Satiriker wäre der Böse – typische Verdrehung der Verhältnisse.
Die Fragmente sind fermenta cognitionis, kritische Denk-Hefe. Im Idealfall geht sie beim Lesen auf. Dabei ist nicht zu kontrollieren, wie sehr oder wie wenig. Nur der Meister, von dem die Fragmente handeln, kennt die Zutaten, die im Brot des Denkens zusammenspielen. Kritisch, d.h. unterscheidend und urteilend, soll das Fragment sein. Gäbe es eine gute Gewalt, dann wäre sie seine.
Randbemerkungen zum Text der Zeit. Gibts das bei Heidegger? Immer noch? Oder überhaupt? Ich bekenne, dass ich ihn so lese. Ich sage nicht, er sei der Einzige. Doch die Vielfalt seiner Ausdrucksformen, seine eigentümliche Performanz, seine Irrtümer, sein nicht seltenes Von-allen-guten-Geistern-Verlassensein – das gehört zum Text des Zeitalters.
Eine philosophische Biographie – ich erzähle nicht Heideggers Leben aus historischer Sicht. Diese Sicht hat den Vorzug, das Leben in gleichsam objektiven Zusammenhängen zu betrachten; ihr Hauptmerkmal ist die Kontinuität in Zeit und Raum. Das Leben beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Dazwischen wächst man auf, bildet sich, liebt, arbeitet, leidet, altert. All das findet an Orten statt, die sich mit Leben verbinden.
Mich interessiert das Leben in seinem Selbstbezug. In ihm fragmentiert sich die Kontinuität, überhaupt die Lebensgeschichte. Die Sicht von innen entzieht sich der Vergegenständlichung des Historikers. Ja, es gibt eine Erfahrung des Werdens und Vergehens. Doch sie wandelt sich im Akt des Erzählens. Ich verändere mich, mein Leben erzählt sich anders und anders und anders – Verwandlung …
Wir unterscheiden die Biographie von der Autobiographie. Das kann der Historiker, weil er meint, den Gegenstand des anderen Lebens vor sich zu haben, in klarer Abtrennung von sich selbst. Sicher ist der Historie inzwischen der Zusammenhang zwischen dem Erzählen und seinem Gegenstand bekannt. Das hebt die Trennung zwischen Biographie und Autobiographie nicht auf. In diesem Buch wird sie destabilisiert. Meine Sicht auf Heidegger, auf dieses Leben – dieses Heidegger-Leben – ist meine.
Dieses Buch ist also ein persönliches. Nietzsche sagt einmal, dass es in der Philosophie »ganz und gar nichts Unpersönliches«[2] gebe. Ich stimme zu, wenn man das Persönliche nicht als etwas nur Subjektives oder Privates versteht. Wie die Handschrift, die Signatur, hat das jeweilige Philosophieren etwas Unverwechselbares. Wer meint, das als bloße Form vom Inhalt trennen zu können, geht von einer Metaschrift aus, in der alles so geschrieben ist, wie es ist. Ich meine dagegen, dass die Handschrift das Denken markiert. Es verweht, wie Leben, wie Asche.
Das gilt erst recht für Heidegger. Kaum ein anderes Denken des 20. Jahrhunderts ist so persönlich wie dieses. Am ehesten ist es mit dem Wittgensteins zu vergleichen. Der Stil ist unverkennbar; und Stil ist mehr als die Summe von Form und Inhalt. Heidegger hat zu seinen stets mit der Hand geschriebenen Texten kein wissenschaftliches, sondern ein künstlerisches Verhältnis. Die Schrift wird – bei aller philosophischen Motivation – zur Lebens-Spur. Heidegger ist ganz in ihr. Es gibt nicht noch einen anderen Heidegger, der womöglich »Aktenzeichen XY« schaut, nachdem er einen Bausparvertrag abgeschlossen hat.
Diese Einheit von Arbeit und Leben, diese Lebens-Arbeit als Arbeits-Leben, verwandelt Leben und Arbeit in etwas Drittes, durchaus Künstliches. Kunst vielmehr als Wissenschaft ist Heideggers Biotop. Der Denker erscheint als ein Mensch, der sich die Philosophie auf die Haut tätowiert. Er ist eigentlich kein Mensch mehr, weil er das Menschliche als Problem fasst. Das gilt für Heidegger wie sonst nichts. Er bewegte sich in der Welt wie das fleischgewordene Denken selbst. Wir haben seine Texte als Spur; der Abwesende gehört zu ihr.
Hydra/Griechenland, Oktober 2017