Aus einem Brief von Martin an Fritz Heidegger vom 28. Oktober 1932:
»Dass den Juden ein solches Manöver wie die Papenepisode gelungen ist, zeigt eben, wie schwer es auf jeden Fall sein wird, gegen alles, was Großkapital und dergleichen Groß- ist, anzukommen.«[175]
Paul von Hindenburg hatte Franz von Papen beauftragt, am 1. Juni 1932 eine Regierung zu bilden. Dem waren Gespräche mit Adolf Hitler und Hermann Göring vorausgegangen. Man wusste, dass die nächste Reichstagswahl den Nationalsozialisten Stimmenzuwächse bringen würde. Hitler billigte Papens sogenanntes »Kabinett der Barone«.
Die Wahl vom 31. Juli 1932 brachte der NSDAP 37,3 % der Stimmen. Sie war nun die stärkste Partei, hatte ihre Stimmen im Vergleich zur früheren Wahl vom 14. September 1930 mehr als verdoppelt. Doch es herrschte weiterhin Papen, der mit Notverordnungen die Krise zu überstehen versuchte.
Heideggers Lagebeurteilung ist bemerkenswert. Zum ersten Mal in seinen Briefen erscheinen die Juden als Täter. In den vorangegangenen Äußerungen wurden ihnen übliche Stereotype wie das der Finanzbegabung zugeschrieben. Auch hier soll es offenbar das jüdische Großkapital sein, das mit der Einsetzung Franz von Papens Hitlers Machtübernahme verhindert haben soll.
Die Frage ist, warum Heidegger gerade zu dieser Zeit begann, in den Juden einen politischen Täter zu erblicken. Ohne Zweifel war er wie viele andere Konservative schon länger gegen die Berliner Republik. In seiner Vorlesung »Der Anfang der abendländischen Philosophie« vom Sommer 1932 scheint er Anaximander und Parmenides auszulegen. Doch die Rede vom Anfang signalisiert verschwiegen mehr. Die »Schwarzen Hefte« von 1932 zeigen, dass Heidegger sich auf die Revolution vorbereitet.
Sie zeigen auch, dass er zu dieser Zeit Hitlers »Mein Kampf« liest. Obwohl er nicht vollkommen begeistert ist, empfiehlt er das Buch seinem Bruder. Der stellt gar eine Ähnlichkeit zwischen Hitler und Heidegger fest. Und wirklich gab es Identifikationsmöglichkeiten. Im gleichen Jahr 1889 geboren, stammten Heidegger und Hitler aus kleinbürgerlich-katholischem Milieu, wie der Philosoph spielte der Reichskanzler seine provinzielle Herkunft gegen die Großstadt aus. Zudem könnte sich Heidegger von der antipolitischen Haltung des Demagogen angezogen gefühlt haben: ein Politiker, der die Politik hasste. Das erinnerte geradezu an Platons »Politeia«, in der die zum Herrschen Bestimmten Philosophen waren, die nicht herrschen wollten. Welch’ ungeheuer schiefe Analogie …
Aus »Mein Kampf« könnte Heidegger auch erfahren haben, dass und inwiefern die Juden in der Geschichte die eigentlichen Täter waren. Hitler war ein enthusiastischer Leser der »Protokolle der Weisen von Zion«.[176] Was sie über vermeintliche Machenschaften der Juden berichteten, war für Hitler unbezweifelbar. Im Hintergrund der Weltpolitik verbarg sich das »internationale Finanzjudentum«, um die Völker gegeneinander aufzuhetzen, Kultur und Rasse zu zersetzen. Dass die Nationalsozialisten in ihrer antisemitischen Propaganda gegen das »Weltjudentum« hetzten, ist ein Echo der Prominenz der »Protokolle« in »Mein Kampf«.
Heideggers antisemitische Äußerungen über das »Weltjudentum« am Ende der dreißiger Jahre, aus einer Zeit also, in der die Propagandamaschine auf Touren gebracht wurde, um die Deutschen auf die »Endlösung der Judenfrage« einzustimmen, sind direkt und indirekt von Hitlers »Mein Kampf« beeinflusst. Hitler war es, der – als Stichwortgeber der Propaganda – die Juden in Täter verwandelte und jede Maßnahme gegen sie als Akt der Verteidigung im Rassenkrieg motivierte.
Wie weit Heideggers Identifikation mit Hitler ging, ist schwer zu sagen. Als am 22. Juni 1941 der Krieg gegen Russland begann, hatte sich Hitler wieder einmal an das deutsche Volk gewendet: »›Von schweren Sorgen bedrückt, zu monatelangem Schweigen verurteilt, ist nun die Stunde gekommen, in der ich endlich offen sprechen kann.‹«[177] Heidegger zitiert den Satz, ohne Hitlers Namen zu nennen. Der Kriegsausbruch habe die Deutschen aus »einer vermeintlich allzu engen Verbindung mit Rußland« erlöst. Er habe sie »endlich von dieser Last befreit«. Er möchte aber wissen, dass der Krieg zuerst dem Bolschewismus, nicht Russland gilt.
Hatte Heidegger sich in Hitlers Schweigen wiedererkannt? Auch für ihn war das Schweigen eine Weise der Zurückhaltung, der Verhüllung zudem. Es gibt viele Hinweise, dass Heidegger die Reden des »Führers« zur Kenntnis nahm. Was er in ihnen fand, ist kaum zu sagen. 1932 aber hat Hitlers »Mein Kampf« Heideggers Antisemitismus beeinflusst.