Charisma

Es war einmal eine Zeit, in der männliche Figuren des politisch-sozialen Lebens Ausnahmegeltung beanspruchten und also beanspruchen konnten. Ein Dichter wie Stefan George reiste durch Deutschland und zog die Gemüter in seinen Bann. An den Universitäten herrschten Mandarine unangefochten. Nur in einem Klima der begrüßten Ausnahme konnte Heidegger der werden, der er war.

[180] Das Charisma sei »die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen«. Im Unterschied »von der ebenfalls revolutionierenden Macht der ›ratio‹, die entweder geradezu von außen her« wirke, nämlich »durch Veränderung der Lebensumstände und Lebensprobleme und dadurch mittelbar der Einstellungen zu diesen, oder aber durch Intellektualisierung«, könne Charisma »eine Umformung von innen her sein, die, aus Not oder Begeisterung geboren, eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtungen unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zu ›Welt‹ überhaupt« bedeute.[181] Die Zeit des Charismas war offenbar auch eine der langen Sätze.

Ratio und Charisma sind demnach revolutionäre Mächte. Die eine bedient sich der technischen Instrumente und ihres Geistes, um die Welt zu verändern. Die andere verwandelt den Menschen, um ihn die Welt anders sehen zu lassen. Bemerkenswert, dass es Weber überhaupt um Revolution und Wandlung geht. Auch moderne Herrschaft war auf Verwandlung aus.

Was χάρις ist, steht im Römer-Brief des Paulus: »Und haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist.« Der Gaben sind folgende: »Hat jemand Weissagung, so sei sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so warte er des Amts. Lehrt jemand, so warte er der Lehre. Ermahnt jemand, so warte er des Ermahnens. Gibt jemand, so gebe er einfältig. Regiert jemand, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s mit Lust.«[182]

Warten bedeutet hier pflegen, sich kümmern. Die Gabe soll entsprechend genutzt werden. Ihr scheint eine Gefahr innezuwohnen. Wer die Gabe nicht als Gnade versteht,

Heidegger hat in den »Anmerkungen II« gefordert, dass man sich »eines Tages« über sein »Anti-Christentum wenigstens einmal nur einen Gedanken« mache. Und dann: »Ich bin nicht Christ, und einzig deshalb, weil ich es nicht sein kann. Ich kann es nicht sein, weil ich, christlich gesprochen, die Gnade nicht habe.«[183] Beinahe ein performativer Widerspruch: Da spricht einer christlich über sein Anti-Christentum. Das hat ihn für eisenerzene Katholiken, aber auch für feinere Seelen zur religiösen Autorität werden lassen.

Wer die christliche χάρις ablehnt, braucht nicht auf sie zu verzichten. Das Wort ist älter als das Christentum, findet sich in der griechischen Tragödiendichtung, z.B. in Sophokles’ Oidipus. Daher hat es Heidegger, wenn er es einmal in Webers Nähe rückt: »Herrschaft ist die χάρις des Seyns als des Seyns, stille Würde der milden Bindung, die sich nie in das Bedürfen der Macht zu versteifen braucht.«[184] Die χάρις wird dem Subjekt entzogen. Sie ist Herrschaft, aber als »stille Würde der milden Bindung«. Dann später einmal wird die χάρις zur »wesenden Schönheit selbst«, zum »Ausgleich des Schicksals, dieses in der Innigkeit seines vollendeten Wesens, das west, wenn Götter und Menschen das Brautfest feiern«.[185] Hölderlin lässt grüßen.

Immerhin, die Richtung ist klar. χάρις ist auch die Herkunft der drei Chariten, Vorbild der drei Grazien. Sie tauchen im Umkreis der Aphrodite auf. Herrschaft bekommt eine andere Nuance. Auch Schönheit kann herrschen, doch

Wichtiger ist die Frage, ob das Charisma notwendig auf Diktatoren, sei es in Politik, Philosophie, Wissenschaft oder Kunst, hinausläuft. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint man in Deutschland davon ausgegangen zu sein. Das Charisma hat keinen legitimen Anspruch auf Herrschaft, jedenfalls nicht, wenn sie demokratisch ist. Das scheint das Charisma selbst zu spüren, hat es sich doch umfänglich verdünnisiert: In der Politik gibt es, wenns hochkommt, die Pflicht zum flächendeckenden Konsens; daneben noch die BMW-Mäßigkeit des Managers, in den Institutionen die fleißigen Bienen und Biener, die es schaffen wollen um jeden Preis. Das ist dermaßen konformistisch, dass nur der Heilige Geist noch helfen könnte.