Die Geschichte von Courbets Gemälde »L’origine du monde« ist legendär. Der erste Eigentümer, ein Baron Ferencz Hatvany, der es 1913 in einer Pariser Galerie erstand, hatte das Bild 1944 in Budapest an die Deutsche Wehrmacht verloren, nach Kriegsende aber wieder zurückerhalten. 1947 siedelte Hatvany nach Paris über und starb 1958 in Lausanne. Drei Jahre zuvor hatte Jacques Lacan mit seiner späteren Frau Silvia, die zu dieser Zeit noch mit Georges Bataille verheiratet war, das Bild Hatvany abgekauft.
Lacan transferierte das nur 46 × 55 cm kleine Gemälde in sein Landhaus La Prévôté in Guitrancourt bei Mantes-la-Jolie. Dort hing es in einem verschließbaren Doppelrahmen hinter einem cachesexe des Malers André Masson, der das Gemälde in einer Art von andeutender Kalligraphie darstellte. Lacan spricht und schreibt nicht über das Gemälde. Selbst als er 1964 ein Seminar zu »Blick und Bild« abhält, schweigt er. Es kommt nicht zur Sprache, kann nicht zur Sprache kommen.
1955, das Jahr, in dem Lacan Courbets Gemälde kauft, ist auch das Jahr eines Besuchs bei Heidegger in Todtnauberg.[192] Lacan wollte den Philosophen darum bitten, seinen Aufsatz »Logos (Heraklit, Fragment 50)« aus den »Vorträgen und Aufsätzen« übersetzen zu dürfen. Er wollte ihn in seiner Zeitschrift »La Psychanalyse« veröffentlichen. Heidegger sagt in diesem Aufsatz, dass der λόγος die Wahrheit als ἀλήθεια sei. Die ἀλήθεια aber sei das »Entbergen«, das »Verborgenheit«[193] brauche. Das wechselseitig in sich umschlagende und sich bedingende »Ent«- und »Verbergen« sei die »Unverborgenheit«, die »Wahrheit des Seins«.
Abb. 1: Gustave Courbet: Der Ursprung der Welt
Hatte Lacan eine Verbindung zwischen Heideggers Auffassung der Wahrheit und Courbets »L’origine du monde« gesehen? Die Verbindung ist nicht so überraschend. Sensible Ohren wie die Nietzsches haben in der griechischen ἀλήθεια das Spiel von Ver- und Enthüllung wahrgenommen. »Vielleicht«, so schreibt er in »Nietzsche contra Wagner« (ich wiederhole den Gedanken gern …), sei »die Wahrheit ein Weib«.[194] Heidegger kannte das. Für ihn war die Ἀ-Λήθεια eine Göttin. Anders aber als Nietzsche meinte er, dass man das Weibliche von der ἀλήθεια her verstehen musste, nicht die ἀλήθεια vom Weiblichen aus.
Lacan hätte diese Verschiebung wahrscheinlich beargwöhnt, ohne übrigens einen vernünftigen »Diskurs« über die Vagina für möglich zu halten. Dass die »Unverborgenheit« ein Primat vor der Vagina beansprucht, klingt dennoch allzu akademisch, zumal wenn die Bedeutungen aus ihren Ordnungen herausspringen und beginnen, sich übereinanderzuschieben und sich zu durchdringen. Das geschieht aber überall, wo es um erotische Bedeutungen geht. Der Philosoph, der hier den Überblick bewahren will, wird schnell zu einer komischen Figur.
Sich übereinanderschiebende, sich verschlingende Bedeutungen gibt es in Courbets Malerei. »L’origine du monde« zeigt einen entblößten Frauentorso, der sich dem Betrachter unvermittelt entgegenspreizt. Die sachte Öffnung der Vagina wird von der flaumigen dunklen Schambehaarung umrahmt. Erscheint dieser Weltursprung von der Mitte des Bildes aus gesehen etwas nach links versetzt, so ist es oben auf dem Gemälde nach rechts versetzt die rechte Brust, die sich in ein weißes Tuch schmiegt, das den Rest des sichtbaren Körpers bedeckt.
Man darf freilich das weiße Tuch nicht unterbewerten. Es könnte den Anschein erwecken, als wäre Courbet nichts Besseres eingefallen, als den Torso eben auf diese simple Weise sehen zu lassen: Man deckt ab, was unwesentlich ist. Das wäre aber in der Welt der erotischen Bedeutung eine Naivität. Das Tuch wiederholt, was die entblößte Vulva präsentiert: eine Verbergung, die einen Sog freisetzt, dem sich der magnetisch Angezogene überlässt. Wie sich die weiße Decke um die Brust, ja um die Brustwarze schmiegt, so tut es der Blick, der in den Bildraum hineingezogen wird.
Keine Frage, dass hier eine fruchtbare Reduktion stattfindet. Es gibt kein anderes Objekt, das den Blick ablenken könnte. Wie durch ein Schlüsselloch sieht der Betrachter, was er sehen soll. Nichts davon ist pornographisch. Die malerische Gestaltung des Körpers, der Haut, des Lichtes auf der Haut, des Haars – das alles ist zu deutlich Malerei, als dass man davon ausgehen könnte, hier gehe es primär um eine Erregung. Vielmehr geht es um die erotische Erfahrung – der Kunst.
Bemerkenswert ist nun, dass Courbet im Frauenkörper und in der Grotte – wie im Landschaftsgemälde »Die Felsengrotte der Loue« von 1864 – gleichsam ein Vexierbild erblickt.[195] Die Grottenlandschaft, die Öffnung der Grotte ins unterirdische Gebirge, das ihr entströmende Wasser – diese Bedeutungen schieben sich über die Bedeutungen des Frauenkörpers. Gibt es das Spiel von Verbergung und Entbergung, der Wahrnehmung eines Innen im Außen sowie eines Außen im Innen, zugleich in der Anwesenheit eines Frauenkörpers und einer Grotte?
Die mythischen Signifikate haben sich im Hintergrund bereits aufgebaut. Der Übergang vom weiblichen Geschlecht zur Erde, zur Natur, ist fließend. Diese mythische Identifikation ist allzu bekannt. Noch dass im Sündenfall Eva dem Begehren erliegen muss, indem sie selbst zum Begehrten wird, ist mit ihr verbunden. Doch wenn der Mythos in allen öffentlichen Belangen der Welt notwendig rationalisiert und d.h. vernichtet wurde, bleibt in der erotischen Erfahrung die mythische Bedeutung möglich. Auch im Blick auf die ἀλήθεια.
Ende 1966 schreibt Heidegger an Medard Boss, dass er die »Ecrits« von Lacan erhalten habe. Er sei nicht dazu gekommen, in dem »offenkundig barocken Text zu lesen«.[196] Dann, ein paar Monate später, schreibt Heidegger erneut an Boss, dass Lacan ihm geschrieben habe. Er lege den Brief für Boss bei: »mir scheint, der Psychiater bedarf des Psychiaters.«[197] Aus Boss’ ehemaligem Mitarbeiterkreis wird berichtet, dass dieser Heideggers Bonmot mit Lust zitierte. Ob Heidegger die Verbindung zwischen der »Unverborgenheit« und dem weiblichen Geschlecht anerkannt hätte? Was hätte Heidegger zu Courbets Gemälde gesagt? Er hätte das Ende des Denkens gesehen.