Kapitel 7

Kleines Mädchen vermisst

29. Dezember

Um 10:30 Uhr am selben Vormittag stapfte Wachtmeister Hardman von dem Dorf Eggarswell auf den Hügel zum Hof der Thwaites und zum Smugglers’ Cottage hinauf. Er lief in einer der Furchen, die der große Traktor des Bauernhofes durch den Schnee gepflügt hatte. Währenddessen warf er ab und zu einen Blick zum Himmel, denn sein Instinkt als Landbewohner sagte ihm, dass weiterer Schneefall drohte. Kleine Vögel drängten sich in den schneebeladenen Hecken zusammen und plusterten ihr Gefieder auf. Sie waren offenbar derart verfroren und mutlos, dass sie nicht einmal mehr die Kraft hatten, alarmiert aufzufliegen, als der Wachtmeister vorüberkam. Über ihm ragte der Bergkamm auf wie der seitlich liegende Körper einer Frau, die man mit einer weißen Decke zugedeckt hatte.

Als Wachtmeister Hardman sich dem Bauernhof näherte, hörte er zwei Explosionen, gefolgt von wildem Flügelgeflatter. Es war Jim Stocks, der in roter Wollmütze, Gummistiefeln und Armeemantel dastand und auf eine Horde ausgehungerter Tauben geschossen hatte, die sich über das Rosenkohlfeld seines Arbeitgebers hermachten.

Der Gewehrknall schreckte Paul Cunningham hoch. Seit sie in den Nachrichten gehört hatten, dass die Polizei alle abgelegenen Gebäude in der Grafschaft durchsuchen würde, hatten er und Annie Stott sich tagsüber damit abgewechselt, an einem der Fenster im Obergeschoss Ausschau zu halten. Sollte der Besuch während der Nacht erfolgen, lautete der Plan, dass Paul die Polizei im unteren Stockwerk in ein Gespräch verwickeln sollte, während Annie oben die nötigen Vorkehrungen traf.

Paul sah jetzt, wie ein Polizeiwachtmeister durch das Hoftor des Bauernhofs trat, und lief rasch nach unten, um Annie Stott Bescheid zu geben. Dreißig Sekunden später befand sich Annie bereits in Lucys Zimmer und hielt dem Kind ein Glas Orangensaft hin. Lucy trank begierig. Das Betäubungsmittel, das Annie in das Getränk gemischt hatte, wirkte fast sofort. Annie zog das bewusstlose Kind aus, zog ihm Pyjamas an, trug es in das Zimmer, das Evan bewohnt hatte, steckte es unter die Bettdecke, tränkte ein Tuch mit Kampferöl, legte es ihm um den Hals, befestigte es mit Sicherheitsnadeln und legte dann noch ein weiteres, mit Öl getränktes Tuch unter dem Pyjamaoberteil auf die Brust des Kindes. Lucy hatte jetzt eine fiebrige Röte im Gesicht und atmete schwer.

Bevor Annie die Vorhänge zuzog, schaute sie sich noch einmal rasch im Zimmer um. Es schien alles in Ordnung zu sein. Nein, für das Zimmer eines Kranken war es viel zu kalt hier drin. Sie hätte den Heizstrahler die ganze Zeit anlassen sollen. Die in ihrer Kindheit erlebte Armut hatte sie dazu erzogen, niemals Energie zu verschwenden, das war das Problem. Sie schaltete beide Brennstäbe der Heizung ein und wurde noch im Nachhinein leichenblass wegen des Fehlers, der ihr beinahe unterlaufen wäre. Sie durften den Polizisten auf keinen Fall in dieses Zimmer lassen, bevor es hier nicht wärmer geworden war.

Annie Stott war sich der Tatsache bewusst, dass sich ihre Situation seit Evans Verschwinden drastisch geändert hatte. Es hatte keinerlei Berichte über ihn gegeben, weder im Radio noch in den Zeitungen. Das könnte natürlich bedeuten, dass der elende Kerl alles ausgeplaudert hatte und dass die Polizei jetzt seinetwegen hier war, um sie zu verhören, und nicht, um nach Lucy zu suchen. Die Sorge und Ungewissheit, von der Annie vereinnahmt wurde, führten dazu, dass ihr Verstand nicht mehr ganz so scharf arbeitete wie sonst. Sie zog immer wieder die Vorhänge auf und zu, lugte zu den Gebäuden des Bauernhofs hinüber und vergaß dabei vollkommen, dass das Bett in Lucys Zimmer noch nicht gemacht war.

Wachtmeister Hardman betrat die Küche des Bauernhofs. »Guten Morgen, Mr. Thwaite. Noch so eine schlimme Geschichte. Und? Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Kinder gekidnappt?«

»Das können Sie glatt vergessen, Bert. Ich habe selbst genug. Aber das ist eine sehr hässliche Geschichte, keine Frage.«

»Wann wird denn dieses Wetter endlich mal umschlagen? Meine Frau hat es ganz schlimm mit Frostbeulen zu tun. Die machen ihr echt das Leben schwer.«

»Wenn Sie mich fragen, wird es noch eine ganze Weile dauern, bevor sich da was ändert. He, Frau!«

Mrs. Thwaite kam hereingeeilt. »Dacht’ ich’s mir doch, dass ich Ihre Stimme gehört habe, Mr. Hardman. Was ist los? Hat mein Mann seine Formulare wieder falsch ausgefüllt?«

»Gib Bert eine Tasse Tee, Frau, er sucht nach diesem Kind, das entführt worden ist.«

»Na, hier wird er es nicht finden, das arme kleine Ding. Das ist wirklich eine entsetzliche Geschichte, ganz entsetzlich. Drei Stück Zucker, Mr. Hardman?«

»Vielen Dank.« Hardman schlürfte den Tee geräuschvoll durch seinen zotteligen Schnurrbart. »Und Ihre Kinder haben auch niemanden gesehen, auf den die Beschreibung des vermissten Kindes passen würde?«, fragte er gewichtig.

»Wenn es so wäre, hätten Sie das auf jeden Fall von uns erfahren«, antwortete Mrs. Thwaite ein wenig scharf. »Wollen Sie unser Haus durchsuchen?«

»Die Frage ist nicht, was ich will, Missus. Die Frage ist, wie meine Befehle lauten.«

»Jetzt reg dich nicht auf, Frau, Bert tut schließlich nur seine Pflicht.«

»Es ist so eine Art Ausleseprozess, wissen Sie«, erklärte Hardman und plusterte seinen Schnurrbart auf. »Ich schau mich gleich nur rasch ein bisschen um, ja? Was ist mit den Leuten im Smugglers’ Cottage?«

»Die haben nicht viel mit uns am Hut«, antwortete Mrs. Thwaite. »Diese Dr. Everley – die ist eine richtige Hexe. Meine Kinder sind ihr nicht gut genug, um mit ihrem Neffen zu spielen.«

»Aber, aber, Frau. Evan hat eben eine zarte Gesundheit. Liegt heute schon wieder krank im Bett, sagt Jim.«

»Sind die schon lange hier?«

»Seit zwei Wochen. Der junge Mr. Cunningham – das ist ihr Bruder – der ist zuerst hergekommen, und ein paar Tage später kam dann Dr. Everley mit dem Neffen. Der Bruder ist ein netter Herr, ein richtiger Gentleman, der auch ziemlich vornehm spricht. Man mag gar nicht glauben, dass er und dieses sauergesichtige Geschöpf aus demselben Ei geschlüpft sind.«

»Sie sind also Zwillinge, die beiden?«, fragte Bert, der immer alles sehr wörtlich nahm.

»Nein. Aber Sie wissen, was ich meine. Er sieht ihr überhaupt nicht ähnlich.«

»Ah. Das Erbgut. Jaja. Das ist schon eine seltsame Geschichte, manchmal, mit dem Erbgut, Mrs. Thwaite. Schauen Sie sich nur mal unseren Dudley und unsere Marlene an – man würde im Leben nicht drauf kommen, dass sie Bruder und Schwester sind, nicht wahr?«

»Na, hat euch da einer ein Kuckucksei ins Nest gelegt, Bert?«, fragte der Bauer vergnügt. Seine Frau machte ein schockiertes Gesicht. Bert Hardman schüttelte sich stumm vor Lachen. »Wissen Sie noch, als ich grad neu bei der Polizei war, da gab es doch diesen Charlie Pearce – der früher den Knowhill-Hof bewirtschaftet hat – der hat doch eine der Töchter des alten Gutsherrn geheiratet. Das war ein recht flatterhaftes Ding. Und, naja …« Die Anekdote zog sich eine Weile in die Länge und wurde schließlich recht umständlich und mühsam zu Ende geführt. Danach erhob sich der Wachtmeister widerstrebend. »Danke für den Tee, Missus. Ich schau mich nur kurz hier um und geh dann zum Smugglers’ Cottage hoch.«

»Da verschwenden Sie Ihre Zeit, Mr. Hardman«, sagte Mrs. Thwaite säuerlich. »Sir Henry würde sein Cottage doch wohl kaum an eine Bande von Kidnappern vermieten, oder?«

»Man weiß ja nie. Was man heutzutage so in der Zeitung liest, da könnte man meinen, dass ein paar von diesen hohen Tieren in Oxford und Cambridge kaum besser sind als die Bolschewiken.«

»Na, jetzt hör sich mal einer den Bert an!« Mrs. Thwaite kicherte boshaft. »Vielleicht werden Sie ja jetzt endlich mal befördert, Bert!«

Wachtmeister Hardmans Intelligenzquotient war nicht gerade der höchste. Aber er besaß eine für Landbewohner typische Fähigkeit, die ihm während seiner eher durchschnittlich verlaufenen Karriere oft nützlich gewesen war – nämlich die, gewisse Menschentypen und deren Verhalten instinktiv richtig einzuschätzen. Er hatte kaum mehr als eine Minute in Pauls und Annies Gesellschaft verbracht, als sein Instinkt ihm sagte, dass die beiden vor irgendetwas Angst hatten, und dass zwar Mr. Cunningham durchaus ein Gentleman war, aber Dr. Everley keineswegs das war, was er eine Lady nennen würde. Andererseits wusste er aus Erfahrung, dass es sogar bei Leuten von Adel – insbesondere, was deren jüngere Mitglieder anbelangte –, vorkommen konnte, dass sie in Gegenwart eines Gesetzeshüters nervös wurden.

Er baute sich in der Wohnstube mit stoischer Ruhe vor ihnen auf, lehnte das ihm angebotene Getränk ab und zückte sein Notizbuch.

»Ich ziehe Erkundigungen über ein kleines Mädchen namens Lucy Wragby ein, das vor kurzem als vermisst gemeldet wurde. Sie haben sicher davon gehört –«

»Oh ja, das war ja in den Nachrichten.«

»Ist nur eine Routineangelegenheit. Dürfte ich Ihre Namen und Adressen erfahren?«

Paul gab ihm seine tatsächliche Adresse, Annie nannte die einer Ärztin namens Everley, die sie im Ärzteverzeichnis gefunden hatte.

»Wohnen hier außer Ihnen noch weitere Personen?«

»Ja«, antwortete Paul. »Unser Neffe, Evan. Wir haben ihn hierher mitgenommen, damit er sich ein bisschen erholen kann. Er hatte eine schlimme Bronchitis.«

»Und jetzt ist er leider schon wieder krank«, sagte Annie. »Ich mache mir ein wenig Sorgen, dass es sich eventuell zu einer Pleuritis auswachsen könnte. Wir hatten ihn eigentlich gestern zu seinen Eltern zurück nach London schicken wollen, aber ich habe entschieden, ihn jetzt besser noch hier zu behalten.«

Also deshalb machen sich die beiden Sorgen, dachte Hardman. Gar nicht wegen der Polizei. Trotzdem fuhr er mit seiner Befragung fort.

»Ich habe mir sagen lassen, dass Sie dieses Cottage von Sir Henry gemietet haben?«

»Ja, er ist der Rektor meines ehemaligen Colleges in Oxford. Ich habe den Brief irgendwo, falls Sie –« Paul machte eine Geste in Richtung Schreibtisch, ärgerte sich jedoch im nächsten Moment schwarz, dass er so mitteilsam gewesen war, obwohl dazu gar kein Anlass bestanden hatte.

»Ja, gut, Sir, nur damit wir alles ordentlich geklärt haben.«

Während Paul Cunningham in der Schublade nach dem Brief suchte, schaute Wachtmeister Hardman zu Dr. Everley hinüber. Sie hockte zusammengekrümmt auf ihrem Stuhl, wie eines dieser verhungerten Vögelchen in dem Gebüsch, an dem er auf dem Weg hierher vorbeigekommen war. Ein sehr säuerlich wirkendes Frauenzimmer, kein Zweifel. Er las den Brief, den Paul ihm reichte, sorgfältig durch. Sir Henry hatte ihn mit »Lieber Paul« begonnen – eine Formulierung, die auf den Wachtmeister einen positiven Eindruck machte.

»Also gut. Sir, Madam – haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich jetzt mal im Haus umsehe?«

»Überhaupt nicht«, antwortete Paul. »Tun Sie das.«

»Ich denke, das geht wohl in Ordnung«, sagte Annie widerwillig. »Auch wenn niemand ohne unser Wissen hier im Haus ein Kind verstecken könnte.«

»Es ist nur eine Formalität, Frau Doktor.«

»Dürfte ich dann zuerst Ihren Dienstausweis sehen? Nur als Formalität?«

Sarkastische alte Kuh. Mrs. Thwaite hatte recht, dachte Hardman, während er seinen Ausweis hervorkramte. Er beschloss, sich bei der Durchsuchung des Hauses nun doch sehr viel Zeit zu lassen, und sei es auch nur, um diese Frau zu verärgern.

Annie Stott ging dem Wachtmeister voraus und Paul Cunningham gab das Schlusslicht. Hardman durchsuchte alle Räume im Erdgeschoss, öffnete Schränke und bückte sich, um unter die Tische zu schauen. Annie wurde mit jeder Minute zusehends ungehaltener.

»Was ist da drin?«, fragte er und wies auf eine Tür in der Diele, die hinter der Treppe gelegen war. Dann ging er hinüber und rüttelte am Türgriff.

»Ich glaube, dort hat Sir Henry seinen Wein gelagert.«

Paul hatte mit dieser Behauptung zwar durchaus recht, aber was er nicht sagte, war, dass Annie in dem Raum auch ihren Kurzwellensender aufbewahrte.

»Öffnen Sie bitte.«

»Tut mir leid, Herr Wachtmeister, aber wir haben für diese Tür keinen Schlüssel.«

»Ich möchte die Tür nicht einbrechen müssen.«

»Ich denke, das würde Sir Henry auch nicht wollen«, blaffte die Frau. »Mein Bruder hat es Ihnen schon gesagt. Sir Henry hat uns keinen Schlüssel für diese Tür hinterlassen.«

Paul Cunningham spürte, wie ihm ein Schweißrinnsal das Rückgrat hinunterlief. Er fragte sich, ob er als ehrlicher Hausbesitzer – bzw. Mieter – nicht ein wenig Empörung ob dieser Behandlung an den Tag legen sollte, aber bevor er sich diese Frage beantworten konnte, rüttelte der Wachtmeister noch einmal am Türgriff, machte sich eine Notiz in seinem Büchlein und stapfte dann hinter Annie die Treppe hinauf.

Oben führte er dieselbe langatmige Prozedur durch, erst in Annies Schlafzimmer und dann in Pauls. Seine beiden Begleiter waren mittlerweile sehr still geworden, denn der eigentliche Test stand nun unmittelbar bevor, und sie wollten sich auf keinen Fall durch ein Zittern in ihren Stimmen verraten, mochte es auch noch so winzig sein. Hardman schob diesen Test unwissentlich auf unerträgliche Weise immer weiter hinaus, indem er zunächst das Bad und dann die Toilette inspizierte.

»Was befindet sich in diesem Zimmer hier?«, fragte er, nachdem er mit den beiden genannten Räumen endlich fertig geworden war.

»Das ist Evans Zimmer. Er liegt krank im Bett. Und schläft«, sagte Annie mit fester Stimme. »Sie müssen doch bestimmt nicht –«

»Pflicht ist Pflicht, Frau Doktor. Meine Anweisungen lauten, dass ich –«

»Also gut. Wenn Sie müssen, dann müssen Sie eben. Aber Sie dürfen ihn auf keinen Fall wecken oder sonst irgendwie stören. Ich habe ihm ein leichtes Schlafmittel verabreicht.«

Wachtmeister Hardman betrat den Raum auf Zehenspitzen. Im Innern war es mittlerweile recht warm, und es lag ein Geruch nach Kampferöl in der Luft. Das dämmrige Licht, das durch die Vorhänge sickerte, zeigte einen rotblonden Jungen, der mit fiebrig geröteten Wangen und einem Tuch um den Hals im Bett lag und röchelnd atmete. Der Wachtmeister betrachtete die Gestalt eine Zeitlang, berührte sanft das schweißnasse Haar auf der Stirn, flüsterte: »Armer kleiner Bursche!« und trat dann wieder auf den Flur hinaus.

»Ich hoffe, es geht ihm bald wieder besser, Frau Doktor. Hübsches kleines Kerlchen.«

»Er hat im Moment hohes Fieber, wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass er seine Ruhe hat.«

Nervös vor Erleichterung entfuhr es Paul: »Was soll denn das Ganze eigentlich? Ich dachte, Sie hätten gesagt, es sei ein vermisstes Mädchen, nach dem Sie suchen?«

Annie unterbrach ihn scharf. »Weißt du denn nicht mehr, Paul? In den Nachrichten haben sie gesagt, die Entführer könnten versuchen, das Aussehen des Kindes zu verändern.«

»Ah, ja, das haben sie gesagt. Aber –«

»Machen Sie sich da mal keine Gedanken. Das Kind entspricht der Beschreibung, die Mr. und Mrs. Thwaite mir von Ihrem Neffen gegeben haben. Aber so ist es eben – ich muss meinen Vorgesetzten einen Bericht vorlegen, dass ich jedes Haus in der Nachbarschaft untersucht habe.«

»Sie gehen sehr korrekt vor, Herr Wachtmeister«, beruhigte Annie ihn.

»›Bedächtig-solide bestimmt!‹«, zitierte Paul eine Kurzgeschichte von Rudyard Kipling, wenn auch sotto voce.

»Gibt es im hinteren Bereich auch noch irgendwelche Räume?«, fragte Hardman.

»Eine Abstellkammer und noch ein Gästezimmer.«

»Da sollte ich meine Nase besser auch noch hineinstecken.«

Das Abstellzimmer war bis obenhin mit Gerümpel gefüllt. Hardman verbrachte ein wenig Zeit damit, die Dinge hierhin und dorthin zu schieben, und dann gingen sie in das Zimmer, in dem Lucy normalerweise eingeschlossen war.

»Eine Art Kinderzimmer, was? Oh ja, ich erinnere mich, Sir Henry hatte früher immer mal wieder seine Enkel zu Besuch. Von einer schönen Aussicht kann man da ja nicht gerade reden.« Der Wachtmeister schaute aus dem Fenster und drehte sich dann um. »Sie haben mir gar nicht erzählt, dass noch jemand in diesem Haus wohnt.«

»Aber nein, es gibt keinen weiteren Bewohner. Nur wir drei«, protestierte Annie.

»Aber jemand hat dort in diesem Bett geschlafen.«

Annie starrte das ungemachte Bett an, die zerwühlten Laken, und war außerstande, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Plötzlich fühlte sich Paul als Herr der Lage.

»Na sowas, du hast ja ganz vergessen, das Bett zu machen, Annie.« Er wandte sich an den Wachtmeister. »Evan hat dieses Zimmer in den vergangenen Tagen als eine Art Spielzimmer benutzt. Wir haben dann immer dafür gesorgt, dass er sich für den Rest des Nachmittags hier ins Bett gelegt hat, bis er dann gestern wieder krank geworden ist.«

Erneut wurde Hardman von einem animalischen Instinkt erfasst, der ihm sagte, dass hier irgendetwas nicht stimmte, aber er konnte nichts wirklich Verdächtiges entdecken. Ratlos nahm er ein Blatt Papier in die Hand, das auf dem Tisch lag. »Der Kleine schreibt also ein Buch, was? Was Kinder heutzutage alles so treiben! ›Kapitel eins. Wie Cinders geschnappt wurde‹«, las er laut vor.

»Tut mir leid. Ich dachte, ich hätte Evan rufen hören.« Annie Stott rannte aus dem Zimmer.

»Und wer ist jetzt diese Cinders?«, fragte Hardman.

»Evan hat den Bericht über die Entführung in den Nachrichten gehört und hat angefangen, eine Geschichte darüber zu schreiben. Keine Ahnung, warum er die Heldin ›Cinders‹ genannt hat. Kinder können manchmal richtig herzlos sein«, sagte Paul kaltblütig und musste das nahezu unwiderstehliche Bedürfnis unterdrücken, dem Wachtmeister das Blatt aus der Hand zu reißen. Wie sich herausstellte, wäre ein solches Vorgehen ebenso unnötig wie unklug gewesen, denn im nächsten Moment legte Hardman das Blatt wieder auf den Tisch, ohne weiterzulesen. »Also gut, Sir, ich bin Ihnen sehr verbunden. Tut mir leid, Sie belästigt zu haben. Jetzt sollte ich wohl mal weiter. Lassen Sie mich wissen, falls es irgendetwas gibt, was ich für den armen kleinen Kerl tun kann. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

»Das ist ja so gerade eben nochmal gut gegangen«, sagte Paul ein paar Minuten später zu Annie, nachdem er ihr von dem Vorfall erzählt hatte. Er verspürte immer noch ein gewisses Hochgefühl, weil er die Nerven behalten hatte, als Annie die ihren verloren hatte. Das schien in seinen Augen den Schnitzer wieder wettzumachen, den er sich geleistet hatte, als er in Panik geraten war und Evan im Schneesturm allein gelassen hatte. Zum ersten Mal schien Annie ihn mit so etwas wie Respekt zu behandeln.

»Das hast du gut gemacht«, sagte sie. »Was ist mit dieser Geschichte, die sie da geschrieben hat?«

»Oh, die habe ich verbrannt. Hab’ mich ziemlich schlecht dabei gefühlt. Wie lange haben wir dieses elendige Kind denn noch am Hals?«

»Das hängt ganz von Petrows nächstem Schritt ab.«

»Also er macht den nächsten Schritt, ja?«

Die Frau antwortete nicht. Sie hatte gestern Abend über den Kurzwellensender mit Petrow kommuniziert – mehr wusste Paul nicht.

»Wenn wir nur mit Sicherheit wüssten, was mit Evan passiert ist«, sagte sie. »Naja, er kann uns jedenfalls nicht verraten haben, denn sonst wären wir jetzt schon im Gefängnis.«

»Weißt du, was ich glaube? Evan ist durchaus in London angekommen, und Petrow tut nur so, als sei das nicht der Fall.«

Annie betrachtete das Faungesicht ihres Komplizen. »Warum um alles in der Welt sollte er so etwas tun?«

»Keine Ahnung. Um uns zappeln zu lassen, vielleicht. Er genießt solche Spielchen – Macht, Intrige, Betrug. Er genießt sie um ihrer selbst willen, meine ich.«

»Ach Quatsch«, entgegnete Annie, doch ihre Stimme klang, als wäre sie von ihrer Antwort nicht unbedingt hundertprozentig überzeugt.

»Vertraust du ihm etwa?«

»Natürlich tue ich das.«

»Dann bist du ganz schön blöd. Wenn dieser Plan, den er ausgeheckt hat, fehlschlägt, dann ist dir doch wohl klar, was er tun wird? Er wird sich aus dem Staub machen und wir dürfen das Ganze ausbaden.«

Der Gesichtsausdruck der Frau verhärtete sich. »Ich verstehe. Du schlägst also vor, dass wir uns aus dem Staub machen sollten, bevor es so weit kommt?«

»Wenn du auch nur ein Fünkchen Verstand hättest, würdest du das sofort tun. Ich kann es nicht tun – er hat mich vollkommen in der Hand, wie du ja nur zu gut weißt. Aber natürlich wirst du das Ganze durchziehen – Parteidisziplin und all dieser Scheiß. Es muss schön sein, wenn man von dem Gefühl durchdrungen ist, dass nichts anderes zählt als der Sieg der kommunistischen Sache.«

»Es gibt viele andere Dinge, die wichtig sind, Paul. Du redest, als wären wir keine menschlichen Wesen. Wir wissen einfach nur, was das Wichtigste ist. Und handeln entsprechend.«

Es war etwas Weicheres, nahezu Gefälliges in ihrem Gesichtsausdruck, das Paul als noch viel verstörender empfand als ihre übliche Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit. Er merkte, wie er innerlich vor ihr zurückzuckte, als hätte sie ihm gerade sexuelle Avancen gemacht. »Das Problem mit euch Kommunisten ist, dass eure Wertmaßstäbe euch dazu ermutigen, Lügen zu erzählen – uns anderen, euch gegenseitig – wann immer es euch gerade zweckdienlich erscheint.«

»Glaubst du denn, kapitalistische Politiker würde niemals lügen?«

»Darum geht es doch gar nicht. Eure Überzeugung, dass es keine Wahrheit gibt außer der Wahrheit der Zweckmäßigkeit, bedeutet im Endeffekt, dass ihr niemandem trauen könnt. Und Menschen, die niemandem trauen, haben sich selbst dazu verdammt, zur Hölle zu fahren. Diese ganzen öden Slogans, die ihr euch ausdenkt – die Solidarität der Massen und dieses andere leere Gerede – dienen doch nur dazu, die Wahrheit zu vertuschen. Sie sind nichts als eine Fassade aus Papier, die euch daran hindert, echten Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Das könnt ihr gar nicht, weil ihr ja immer misstrauisch bleiben müsst und immer bereit seid, im Interesse der Menschheit andere menschliche Individuen zu verurteilen oder zu zerstören. Ihr lebt in der Hölle, auch wenn ihr euch dessen nicht bewusst seid. Die Hölle ist die Einsamkeit. Ihr betet den heiligen Zweck an, betet ihn so unterwürfig an, dass ihr sofort bereitwillig lostrottet, wenn euer Gott euch sagt, ihr sollt für ihn in die Hölle gehen.«

»Du hättest Quäker werden sollen«, sagte Annie. Doch ihre Worte klangen nicht aggressiv. »Du und dein spießbürgerlicher Romantizismus, Paul.«

»Da fängst du schon wieder an. Wenn du einem Argument nichts entgegenzusetzen hast, tust du es einfach ab, indem du deinem Gegenüber ein sinnentleertes Schlagwort an den Kopf wirfst.«

»Nach dem, was ich dir über meine Kindheit erzählt habe, redest du immer noch so, als wäre ich nie mit der Realität in Berührung gekommen? Wir erkennen die Realität, indem wir nach ihr handeln, und nicht, indem wir herumsitzen und aus respektvollem Abstand darüber nachdenken und Theorien aufstellen.«

»Aber –«

»Du gehörst doch selbst einer Arbeitsgruppe an. Da müsstest du doch wissen, dass ich als Parteimitglied und Vertrauensperson automatisch eine enge, aktive Beziehung zu anderen Menschen habe. Wir sitzen alle in einem Boot und arbeiten gemeinsam daran, die Welt zu einem besseren Ort –«

»Oh mein Gott! Damit Kinder nicht mehr frierend und hungrig zur Schule gehen müssen, wie du das erlebt hast, und nicht mehr so schrecklich von älteren Kindern gehänselt werden – aus diesem Grund empfindest du es als gerechtfertigt, dieses Kind da oben die Hölle durchmachen zu lassen.«

»Du tust es doch auch.«

»Ich wurde dazu gezwungen. Du hast es aus freiem Willen getan – falls ich dieses dreckige Wort einer Deterministin gegenüber benutzen darf.«

»Du hättest dich weigern können.«

»Ich hätte mich weigern müssen. Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, dass ich gekniffen habe, Annie. Warum müssen Frauen bloß bei jeder Gelegenheit ihre Krallen ausfahren?«

»Du könntest dein Gewissen beruhigen, mein lieber Paul«, sagte sie nun wieder auf ihre übliche giftige Art, »indem du dem Kind hier und da ein wenig Gesellschaft leistest. Falls du der Meinung bist, dass deine Gegenwart die Hölle ein wenig abschwächt, von der du behauptest, dass sie sie gerade durchmacht.«

Nach einem Moment des Schweigens sagte Paul: »Also gut.« Es klang fast wie eine Drohung. Er stürzte aus dem Raum, kehrte kurze Zeit später jedoch schon wieder zurück. »Sie schläft immer noch. Und atmet schrecklich schwer. Du hast es doch wohl mit diesem Schlafmittel nicht übertrieben, hoffe ich.«

»Natürlich nicht …«

Es dauerte tatsächlich bis nach zwei Uhr nachmittags, bis Lucy vollends aufwachte. Sie hatte schlimme Kopfschmerzen und wurde von der Erinnerung an einen scheußlichen Albtraum geplagt. Sie erinnerte sich noch, dass die Wahnsinnige ihr Orangensaft zu trinken gegeben hatte, und danach an nichts mehr als an die Wesen aus ihrem Albtraum, die wirres Zeug geredet, sie verspottet und verfolgt hatten, während sie selbst durch endlose Straßen gelaufen war, um ihren Vater zu finden, der, als sie ihn endlich gefunden hatte, sich zu allem Überfluss selbst in eines dieser Wesen verwandelte. Das Entsetzen über diesen fürchterlichen Verrat stand ihr immer noch lebhaft vor Augen. Lucy vergrub den Kopf im Kissen und begann zu weinen. Sie wusste, dass sie ihren Vater nie wiedersehen würde. Die Abenteuerphantasien, aus denen sie bisher noch ein wenig Kraft geschöpft hatte, hatten sich vollständig in Luft aufgelöst. Es war nichts mehr davon übrig. Sie blieb vollkommen allein zurück. Allein, vollkommen allein.

Nach einer Weile hörte sie, wie eine neue Stimme sagte: »Hallo, Lucy!« Das elektrische Deckenlicht war eingeschaltet. Sie fuhr im Bett hoch und rieb sich die Augen, nicht sicher, ob dies nicht der Beginn eines weiteren fürchterlichen Albtraums war.

»Wie geht es dir?«

»Mir ist so schrecklich heiß!«

»Dann schalten wir die Heizung aus.«

Lucy sah, dass sie sich in dem Zimmer an der Vorderseite des Hauses befand und nicht in ihrem eigenen. Ein Mann betrachtete sie. Ein Mann mit ziemlich langen Haaren und einem kleinen, knopfähnlichen Mund. Der Mund öffnete sich und sagte: »Du hast ja geweint, mein liebes Kind. Du brauchst doch nicht zu weinen.«

»Ich konnte nicht anders«, antwortete sie kläglich.

»Es gibt Shepherd’s Pie und Dosenpfirsiche zum Mittagessen. Kriegst du das runter, du armes kleines krankes Kind?«

Lucy schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. Es gefiel ihr, wie er mit ihr sprach.

»Ich denke schon. Habe ich lange geschlafen?«

»Mehrere Stunden.«

»Aber ich schlafe nie nach dem Frühstück. Und ich habe ganz scheußliche Kopfschmerzen.«

»Pech. Es wird bald vorbeigehen.«

»Wird es das? Wer sind Sie?«

»Ich heiße Paul.«

»Sind Sie der Irrenwärter dieser verrückten Frau?«

Der Mann kicherte. Es klang nett. Lucy fiel auf, dass er lange Wimpern hatte. Wenn seine Augen nicht gerade fröhlich tanzten, hatten sie etwas seltsam Melancholisches.

»Tante Annies Wärter? Tja, wo du’s sagst, könnte man das tatsächlich so bezeichnen. Aber sag ihr das nicht. Die Kuh stand auf, und dann stand der Wärter auf, um die Kuh zu warten.«

Lucy fing an zu lachen, auch wenn sie gar nicht wusste, warum.

»Sie klingen genauso verrückt wie sie. Oh, was ist dieses stinkige Zeugs an meinem Hals? Und da auf meiner Brust ist auch noch was.«

»Das war Tante A. Die hat wohl gedacht, du hättest Bronchitis oder sowas. Ich denke, die können wir dir jetzt wieder abnehmen. Aber nur, wenn du versprichst, das Fenster nicht zu öffnen. Die kalte Luft wäre gefährlich, nachdem man dich mit Wärmowickeln und Kupferöl eingewickelt hat.«

»Sie reden doch aber jetzt Unsinn! Es heißt Wärmewickel und Kampferöl, Sie Dummkopf!«

»So heißt es in der Tat. Und? Kein geöffnetes Fenster, versprochen?«

»Versprochen.«

Paul nahm ihr die Wickel wieder ab und warf sie in eine Ecke. »Hier, zieh diesen Pullover an. Ich hole dir das Mittagessen.«

Der Mann blieb eine Weile bei ihr sitzen, während sie aß. Er schien nett zu sein, dachte Lucy, aber andererseits konnte er nicht wirklich nett sein, wenn er dabei half, sie gefangen zu halten. Außerdem war da etwas an der Art, wie er sie ansah, das bei ihr ein vages Unbehagen auslöste.

Paul dachte gerade, was sie doch für einen hübschen Jungen abgab, mit diesem wohlgeformten Kopf und den leuchtenden grauen Augen.

»Können wir nicht die Vorhänge öffnen?«, fragte sie schließlich.

»Klar, warum nicht?«

Lucy schaute aus dem Fenster in die weite schneeige Landschaft. »Ich wünschte, wir könnten Schlitten fahren gehen«, sagte sie wehmütig.

»Vielleicht machen wir das ja irgendwann.«

»Oh, wann denn? Morgen? Sonst könnte es vielleicht alles wegschmelzen, bevor wir –« Lucys Stimme begann zu zittern, und sie konnte nicht weiterreden, weil sie gerade daran denken musste, wie ihr Vater ihr versprochen hatte, mit ihr Schlitten fahren zu gehen.

»Du wirst doch nicht etwa wieder anfangen zu weinen?«

Die sich ankündigenden Tränen versiegten sofort wieder, so entrüstet war sie über seinen Tonfall. »Das ist unfair. Sie können schließlich nicht erwarten, dass ich hier glücklich bin.«

»Aber man kümmert sich doch hier sehr gut um dich, oder?«, fragte Paul, wandte jedoch gleichzeitig den Blick ab.

»Ich will zurück zu meinem Vater und zu Elena. Ich weiß nicht, warum Sie mich hierbehalten.«

»Das wirst du auch bald, hoffe ich – zu ihnen zurückgehen.«

Lucy sah ihn unverwandt an und versuchte einzuschätzen, wie ehrlich er das meinte. »Schwören Sie das? Hand aufs Herz!«

Paul schluckte schwer. »Hand aufs Herz!«

»Ich habe heute Morgen ganz furchtbar geträumt. Ich habe geträumt, ich würde überall nach Papa suchen und könnte ihn nicht finden.«

»Komm schon, Lucy, Kopf hoch. Sollen wir eine Partie Dame spielen?«

»Ich würde lieber ein Bad nehmen. Ich stinke.«

»In Ordnung.«

Er brachte sie ins Badezimmer und ließ Wasser ein. Als sie fertig war, wartete er draußen. Er schnüffelte theatralisch die Luft über ihrem Kopf. »Jetzt riechst du gut, Lucy.«

»Muss ich den ganzen Tag in diesem anderen Zimmer eingesperrt sein?« Sie waren jetzt wieder zurück in dem Raum, der sich an der Vorderseite des Hauses befand. »Es ist so langweilig dort. Ich kann gar nichts sehen, wenn ich aus dem Fenster gucke.«

»Ich muss Annie fragen. Ich sehe eigentlich keinen Grund, warum wir dich nicht ein bisschen durchs Haus laufen lassen sollten.« Jetzt, da Evan nicht mehr hier war. »Aber – weißt du, was ›auf Bewährung‹ bedeutet?«

»Das ist eine Bedingung, unter der Leute aus dem Gefängnis kommen.«

»Ja, genau. Wirst du versprechen, dass du nicht versuchen wirst zu fliehen? Du würdest ohnehin nicht weit kommen, die Straßen sind alle noch vollkommen verschneit. Versprichst du es mir? Ehrenwort? Dann wärst du sozusagen auf Bewährung!«

Bei einem Jungen hätte diese Methode möglicherweise funktioniert. Lucy sah ihn unschuldig und mit weit aufgerissenen Augen an. »Natürlich verspreche ich das. Ehrenwort!« Sie war bereits Frau genug, um nicht das Geringste auf diese Art von »Ehre« zu geben, und es war ihr vage bewusst, dass Paul eine Schwachstelle innerhalb dieser Gefängnismauern war und dass es sich lohnte, auf diese Schwachstelle einzuwirken.

»Na gut. Dann schaue ich mal, was Annie dazu sagt.«

»Aber ich dachte – wollen Sie damit sagen, dass sie nicht wirklich verrückt ist?«

Die dicken, knopfartigen Lippen des Mannes verzogen sich zu einem Schmollmund. »Nicht die ganze Zeit jedenfalls. Man muss ihr jedoch ihren Willen lassen.« Er dachte gerade, dass sie irgendwann entscheiden mussten, ganz gleich, ob der Erpressungsversuch gelang oder nicht, was sie mit diesem Kind anfangen sollten, und dass es daher gar keine schlechte Idee wäre, es auf seine Seite zu ziehen. Er hatte den Gedanken verdrängt – wie er es mit allen unerfreulichen Dingen tat –, dass Petrow möglicherweise plante, dem Mädchen für immer den Mund zu stopfen.

Er strich ihr über die stoppeligen Haare. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde auf dich aufpassen, Lucy.«

Sie zog automatisch den Kopf weg – sie mochte es nicht, von wildfremden Leuten gestreichelt zu werden – erinnerte sich dann jedoch, dass sie sich bei ihm einschmeicheln musste, und drückte seine Hand. »Kann ich hier in diesem Zimmer bleiben?«, fragte sie.

»Aber all deine Bücher und übrigen Sachen sind doch in dem anderen Zimmer.«

»Könnten Sie mir nicht etwas holen, womit ich spielen könnte? Ich schreibe gerade –« Lucy verstummte.

»Oh, diese Geschichte, die du angefangen hast. Es tut mir schrecklich leid, aber Annie hat sie heute früh gefunden und zerrissen.«

»Zerrissen? Warum?« Ein quengelnder Ton hatte sich in Lucys Stimme geschlichen.

»Sie macht manchmal sehr seltsame Dinge. Mach dir nichts draus. Du kannst doch eine neue Geschichte schreiben.«

»Aber sie hat kein Recht dazu, meine –«

»Und ich sorge dann dafür, dass sie die neue Geschichte nicht in ihre langen, hässlichen Krallen bekommt.«

Lucy war nicht besänftigt. »Ich nehme an, sie hat sie zerrissen, weil sie von einem Mädchen handelte, das entführt wurde. Das war richtig gemein von ihr.«

»Jetzt nörgele nicht rum, junge Dame. Ihr Weibsbilder müsst euch immerzu beschweren. Also, was soll ich dir holen?«

»Dieses Buch von Arthur Ransome, das neben dem Bett liegt, bitte.«

»Alles klar, Kumpel. Wie steht’s jetzt mit den Kopfschmerzen?«

»Sind weg, vielen Dank, Kumpel.«

So weit, so gut, dachte Lucy. Paul hatte ihr das Buch gebracht und sich dann zurückgezogen. Ein ziemlicher Waschlappen, befand sie, auch wenn er sehr viel freundlicher zu ihr gewesen war als diese verrückte Frau. Obwohl die Frau ja anscheinend gar nicht verrückt war – jedenfalls nicht die ganze Zeit. Lucy vergewisserte sich, dass Paul die Tür nicht abgeschlossen hatte. Aber sie konnte hören, wie sich die beiden unten stritten, und entschied sich dagegen, einen Fluchtversuch nach draußen zu wagen.

Sie schlich durch den Flur zum Kinderzimmer, holte sich das Blatt Papier, das sie unter der Verkleidung der Schublade versteckt hatte, stieg wieder ins Bett und las sich das Ganze noch einmal durch. Zweites Kapitel: Wo bin ich? Dann schob sie sich das zusammengefaltete Papier unter den Pullover und dachte nach.

Es mussten doch ab und zu andere Leute zu diesem Haus kommen. Der Mann, der die Milch brachte, zum Beispiel. Dieser Jim. Wenn jemand kommt, werde ich ihn sehen – solange man mir erlaubt, in diesem Zimmer zu bleiben. Es wird nichts nützen, mich durch die Fensterscheibe mit ihm zu unterhalten – er würde das, was ich sage, nicht hören können. Und wenn ich schreie, würde die Frau das hören und sofort mit dieser scheußlichen Spritze herbeigestürzt kommen. Wenn es aber möglich wäre, das Fenster zu öffnen –

Sie stellte sich auf das Bett und versuchte es. Die untere Hälfte war nicht zu bewegen, aber mit viel Kraft gelang es ihr, die obere Hälfte ein wenig herunterzuziehen, wenn auch nur wenige Zentimeter. Doch sie konnte ihren Mund nicht nahe genug an die Öffnung heranbringen, um hindurchzusprechen und draußen noch gehört zu werden. Und wenn sie nur Grimassen schnitt und gestikulierte, würde die Person draußen denken, sie wollte sie foppen oder wäre nicht ganz bei Trost. In Buckinghamshire suchte bestimmt niemand nach Lucy Wragby.

Sie werden hier noch nicht einmal von mir gehört haben. Also würde es auch nichts nützen, wenn ich eine Botschaft schreibe, wie zum Beispiel: »Hilfe! SOS. Ich bin Lucy Wragby. Ich bin entführt worden. Holt die Polizei!« und wenn ich diese Botschaft dann aus dem Fenster werfe. Die Person draußen würde glauben, ich wollte nur ein Spiel spielen.

Lucy wusste nur zu gut, welche Schwierigkeiten die Erwachsenen damit hatten, den Unterschied zwischen ernst gemeinten und scherzhaften Bemerkungen zu erkennen. Dann hatte sie eine Idee. Wie wäre es, wenn sie auf die Rückseite des Blatts schreiben würde, dass der Finder es sofort an Professor Alfred Wragby, F. R. S., Das Gästehaus, Downcombe schicken sollte. Und dann würde sie noch schreiben: »Belohnung: fünf Pfund. Es ist ein wissenschaftliches Experiment.«

Begeistert von dieser verheißungsvollen Idee nahm sie den Bleistift zur Hand und schrieb genau diese Worte in riesigen Großbuchstaben auf die Rückseite des Blatts Papier, auf dem ihre Geschichte stand. Mit ein wenig Glück könnte es ihr gelingen, ein Papierflugzeug durch den Spalt in der oberen Fensterhälfte zu werfen. Lucy faltete sorgfältig ein Flugzeug aus dem Blatt Papier. Aber wo konnte sie es verstecken, damit ihre Entführer es nicht fanden, bevor jemand auftauchte, dem sie es zuwerfen konnte?

Nach einer Weile des Nachdenkens schob sie das Flugzeug behutsam hinter die gerahmte Photographie des Mannes mit Hut und Robe, die an der Wand gegenüber hing.

Nun hieß es also nur noch, geduldig darauf zu warten, dass auch jemand auftauchte. Jetzt, da sie einen Plan hatte, verging die Zeit noch viel langsamer als vorher. Dort draußen gab es nichts zu sehen außer der verschneiten Landschaft, die sie mittlerweile unendlich langweilig fand. Vom Bauernhof her war das Muhen von Kühen zu hören. Sie nahm das Buch zur Hand, aber die darin geschilderten Abenteuer einer schrecklich einfallsreichen Horde von Kindern vermochten sie nicht lange zu fesseln. Ich wette, diese Kinder hätten im echten Leben ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut, dachte Lucy, wenn sie in so ein Abenteuer geraten wären, wie ich es gerade erlebe. Da würde es ihnen aber auch gar nichts nützen, dass sie so toll segeln und ihre eigenen Mahlzeiten kochen können.

Sie beobachtete den Schatten eines Baumes, der sich bläulich über den Schnee legte, und versuchte ihn mit purer Willenskraft dazu zu bewegen, sich schneller zu verlängern. Beeil dich, Zeit! Oder nein, lieber doch nicht, denn dann würde es bald dunkel werden, und die Person, der ich mein Papierflugzeug zuwerfe, würde es nicht finden können – weißes Papier in weißem Schnee unter dem Fenster – und ich würde bis morgen warten müssen.

Aber was für eine Person? Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn es der Mann vom Bauernhof oder ein vollkommen Fremder war? Woher sollte sie wissen, dass diese Person auch auf ihrer Seite sein würde? Es könnte sich um einen Komplizen ihrer Entführer handeln. Der Mann vom Bauernhof, dieser Jim – wenn er nicht Bescheid wusste, warum sollte Annie sie dann dazu gezwungen haben, ihm heute früh durch das Fenster zuzuwinken? War das heute Morgen gewesen? Es kam ihr so vor, als wäre es eine Woche her.

Aber Moment mal. Annie hatte sie hier in dieses Bett gebracht und sie gezwungen, Jim zuzuwinken, und er hatte etwas zu ihr hochgerufen, etwas darüber, dass sie krank sei. Aber natürlich hatte sie in seinen Augen wie ein Junge ausgesehen. Wie ein kranker Junge. Die senfgesichtige Hexe hatte diesem Jim wahrscheinlich gesagt, dass sie – Evan – irgendeine ansteckende Krankheit hatte, wie die Masern oder Lepra, damit sie einen Vorwand hatte, ihn oder irgendeinen der anderen Leute auf dem Bauernhof daran zu hindern, sie zu besuchen. Also konnte Jim unmöglich mit ihnen unter einer Decke stecken.

Lucy war von dieser eleganten Schlussfolgerung, die sie da gerade gezogen hatte, so begeistert, dass sie fast das knirschende Geräusch der Schritte im Schnee überhört hätte, die sich vom Bauernhof her näherten.

Sie sprang aus dem Bett, holte das Papierflugzeug hinter dem Bild hervor, strich eine Flügelhälfte glatt, die zerknittert war, und stellte sich so nah wie möglich ans Fenster auf das Bett.

Es war tatsächlich Jim, der da gerade kam. Er trug einen Korb, in dem einige sehr große Orangen lagen. Lucy klopfte leise ans Fenster, weil sie Angst hatte, zu viel Lärm zu machen. Dennoch sah sie sich gezwungen, noch etwas lauter zu klopfen. Jim schaute hoch und winkte. Sie legte sich die den Finger auf die Lippen und sagte »Sschsch!«, was er bestimmt nicht hören konnte. Bevor er zu ihr hochrufen konnte, was vielleicht dazu geführt hätte, dass die anderen beiden aus dem Haus gestürzt kamen, warf Lucy das Papierflugzeug durch den Spalt in der oberen Fensterhälfte. Es segelte in einem herrlichen Bogen nach unten und fiel ihm genau vor die Füße.

Doch im nächsten Moment verwandelte sich der Triumph in eine Katastrophe. Jim hob das Flugzeug zwar auf, doch dann warf es sofort wieder zu ihr zurück. Ein lustiges Spiel mit dem Kind. Der kleine Evan war ja ein netter Kerl, der verstand Spaß.

Das Papierflugzeug prallte gegen die Fensterscheibe, strudelte dann nach unten wie ein abgeschossener Vogel und landete ein paar Zentimeter von der Hauswand entfernt im Schnee.

Lucy versuchte verzweifelt, ihm durch das Fenster Zeichen zu geben, zeigte mit ihrem Finger immer wieder nach unten und führte ihm dann eine Pantomime vor, indem sie ein imaginäres Papierflugzeug auseinanderfaltete und so tat, als würde sie es lesen. Jim grinste zu ihr hoch und sah verwirrt aus. Genau in diesem Moment hörte Lucy Schritte unten in der Diele, die sich der Haustür näherten. Sie musste um jeden Preis verhindern, dass die betreffende Person nach draußen ging und das Papierflugzeug entdeckte. Sie schrie, so laut sie konnte: »Hilfe! Hilfe!«

Die Schritte änderten sofort die Richtung und kamen die Treppe hinaufgestampft. Annie Stott stürmte ins Zimmer, schlug Lucy eine Hand vor der Mund und zog sie vom Fenster fort.

»Wie kannst du es wagen, einen solchen Lärm zu machen? Was bist du doch für ein böses Kind!«

»Es tut mir leid«, sagte Lucy, als sie wieder reden konnte. »Ich hatte einen schlimmen Traum. Ich habe geträumt, das Haus würde brennen.«

Annie ging zur Tür und rief nach unten. »Paul! Komm sofort hoch, bitte.«

Jim klopfte an die Haustüre.

»Paul, sieh zu, dass dieses Kind still ist. Sie hat behauptet, sie hätte einen Albtraum gehabt. Hast du dieses Fenster geöffnet, Kind?«

»Mir war so heiß. Und dann bin ich eingeschlafen und hatte einen ganz scheußlichen Traum.«

»Schließ das Fenster, Paul, und bleib hier. Halte sie vom Fenster fern.«

Annie Stott eilte nach unten, von einer gewaltigen Wut erfüllt.

»Was wollen Sie?«, blaffte sie Jim an. »Was war hier los? Haben Sie mit Evan geredet?«

Wie die meisten Leute vom Land konnte Jim sowohl widerspenstig als auch verschlagen sein, auch wenn sein Verstand nicht immer besonders schnell arbeitete. Er wollte auf keinen Fall, dass der kleine Bursche mit dieser sauertöpfischen Tante Ärger bekam, mit der er geschlagen war. Am besten war es, überhaupt nichts davon zu erzählen, dass der Junge ein Papierflugzeug aus dem Fenster geworfen hatte.

»Nichts war hier los. Jedenfalls nichts, wovon ich wüsste. Ich habe nur dem kleinen Evan zugewinkt. Dann sind Sie gekommen und haben mich angekreischt.«

»Der Junge ist im Fieberdelirium, er muss unbedingt Ruhe haben.«

»Tut mir leid, das zu hören. Bert Hardman hat mich gebeten, diese Orangen hier für Evan hochzubringen.«

»Hardman?«

»Unser Dorfpolizist.«

»Ach ja, der ist heute früh hier gewesen. Das ist sehr nett, vielen Dank.«

Annie Stott sah sich argwöhnisch um, doch Jim hatte sich zwischen sie und das Papierflugzeug gestellt. Sobald sie mit dem Korb im Haus verschwunden war, bückte er sich, hob das Flugzeug auf, stopfte es in eine seiner Manteltaschen – und vergaß es sofort wieder.

Lucy hatte keine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, ob ihre Nachricht angekommen war oder ob sie immer noch am Fuß der Mauer lag, denn sie wurde sofort zurück in das Kinderzimmer auf der Rückseite des Hauses gebracht.