Kapitel 3

Kleine Bahnfahrer-Kunde:

Wer nervt denn da?

Ein Bahnreisender ist selten allein. Und manchmal ziemlich genervt. Denn im Zug versammeln sich auf engstem Raum Mitmenschen mit erstaunlich vielfältigen Macken. Zehn Typen treten besonders häufig auf – zum Glück gibt es für (fast) jeden ein Gegenmittel.

Der Steckdosenbesetzer

Kaum hat er seinen Rollkoffer in der Ablage verstaut, reißt dieser Mitfahrer schon sein Notebook aus dem Handgepäck und sucht mit vor der Brust gehaltenem Stecker nach dem Stromanschluss. Pech für ihn, sollte der schon durch einen Sitznachbarn vergeben sein. Hat eine Verhandlung um abwechselndes Aufladen der Hightechgeräte keinen Erfolg, gibt er ein resigniertes Seufzen von sich, à la »Für die ersten drei Stunden wird der Akku wohl halten«. Mit hektischem Zweifingertippen klackert er unermüdlich auf der Tastatur herum. Bei erhöhtem Aufkommen in den Abendstunden verleiht dieser Bahnfahrertyp so jedem gemütlichen Großraum-Abteil ein stressiges Großraum-Büroflair. Er füllt öde Excel-Tabellen aus und stört sich nicht daran, dass sein mitlesender Sitznachbar ihn leicht an dem Briefkopf der Schriftstücke identifizieren kann. Da ist das Display der zweiten Variante des Steckdosenbesetzers meist spannender: Dieser hat einen Kopfhörer aufgesetzt und eine DVD in seinen Laptop geschoben, die immerhin für bewegte, wenn auch tonlose Bilder sorgt.

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Die Mitteilsame

Glaubt man, endlich ein ruhiges Plätzchen gefunden zu haben, macht dieses allzeit kommunikative Exemplar den Frieden zunichte. Die Mitteilsamen begreifen eine Bahnfahrt entweder als einmaliges Abenteuer, als Gelegenheit, interessante Menschen kennenzulernen, oder sie sind erfüllt von ihrer ­eigenen Lebens- und meist Leidensgeschichte. Neugierig ­fragen sie nach dem Flughafenzettel am Rucksack und sind beleidigt, wenn ihr Mitfahrer ihnen das Stichwort verweigert, um nonstop von ihren Urlauben der letzten 20 Jahre zu erzählen. Oder sie fangen unvermittelt an, von ihren Gebrechen, ihrem Ex oder ihrer Miniatureisenbahn zu erzählen, unbekümmert von der eisigen Stille, die ihnen entgegenschlägt. Manchmal treffen sie auch auf Gleichgesinnte. Dann ist zwar die unmittelbare Gefahr für die anderen Abteilgäste gebannt, sie müssen aber einen stundenlangen Dialog oder vielmehr zwei Monologe ertragen.

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Der Allesesser

Frisch gekochte Eier, Fast Food mit Knobi-Duft, Mettbrötchen oder Chips aus der 500-Gramm-Tüte: Erbarmungslos teilt sich dieser Bahnfahrer über Futtergerüche und -geräusche mit. Hingebungsvoll breitet er den Inhalt von Tupper-Dose und Plastiktüte auf dem Großraumtisch aus, ohne Rücksicht auf empfindlichere Sinne denn die seinen. Wenn er sich durch seine Speisen durchgeknuspert, -geraschelt und -geschmatzt hat, stopft er die Reste in den Tischmülleimer. Schon übervoll, schließt dieser sich kaum mehr, und sein Inhalt müffelt weiter vor sich hin. Wer zu diesem Zeitpunkt hofft, vor weiteren Stinkattacken sicher zu sein, wird regelmäßig ­gelinkt: Normalerweise hat der Allesesser einen nicht enden wollenden Vorrat an Lebensmitteln dabei und zerrt sogleich eine neue Köstlichkeit aus den Plastiktüten zu seinen Füßen.

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Der Bahnverächter

Dieser meist in Businesskluft gekleidete Mitfahrer wäre gerade wohl lieber in einem teuren Sportwagen oder im Flugzeug unterwegs – doch nun muss er sich wutschnaubend mit seinem Schicksal als Bahnpassagier arrangieren. Sollte ihm von der Reisestelle seines Unternehmens ein Zugticket statt der Mercedes-S-Klasse verordnet worden sein? Vielleicht musste er aber auch seinen Führerschein nach Flensburg abgeben. Auf jeden Fall nimmt er für die Degradierung Rache an seinen Mitreisenden: Unter dem Tisch machen seine blankpolierten Schuhe nicht einen Millimeter Platz, seine Ellenbogen arbeiten sich rücksichtslos auf der Lehne vor. Und mit seinem ­Notebook der neuesten Generation und seinem Arsenal an Smartphones verwandelt er den Tisch in sein Büro. Wer protestiert, der wird aggressiv angefahren. Grundsätzlich lehnt er es auch ab, beim Kofferverstauen zu helfen – könnte ja eine VW-Polo-Fahrerin sein, die er normalerweise mit seinem schnittigen Firmengefährt von der linken Autobahnspur weghupt.

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Die Dauerquasslerin

»Schlag ihm eine Provision von zehn Prozent vor!«, »Ohne Intimrasur geht ja gar nicht!«, »Schätzelchen, das verletzt mich nun aber, hab ich gesagt; da hat er gesagt …« Die Dauerquasslerin teilt ihren Mitreisenden mehr aus ihrem Leben mit, als irgendjemand wissen will, und ruft quälendes Fremdschämen hervor. Falls sie Geschäftsfrau ist, macht sie auch gerne mal einen Mitarbeiter lautstark zur Schnecke, falls Schülerin, ist ihr Redefluss von einer Menge »Alta!« und »Ischwör!« durchsetzt. Wenn die Nonstop-Rednerin in ein Funkloch fällt, drückt sie verzweifelt auf den Tasten ihres Telefons herum. Hat das nicht den gewünschten Erfolg, schaut sie sich panisch um, ob sonst jemand etwa noch Empfang hat, oder starrt blicklos aus dem Fenster – bis sie wieder hektisch ihr Handy bearbeitet. Beim Aussteigen gerät sie in Schwierigkeiten: Wie trägt man Koffer, Aktenkoffer beziehungsweise Handtasche und hält gleichzeitig das Handy Richtung Ohr?

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Die Familien-Mafia

Eine untereinander verwandte und verschwägerte Sippe, die das Großraumabteil zu ihrem Wohnzimmer macht. Mit Kopfhörern im Ohr verständigen Jugendliche sich brüllend mit ­Eltern und Geschwistern, lautstark kommentiert der Steppke seine Kritzeleien, und das Piepsen und Ballern aus den Spielkonsolen nagt an den Nerven der Mitfahrer. Diese – falls ­kinderlos – preisen innerlich umso mehr ihre momentanen Lebensverhältnisse. Denn zudem purzeln Monopoly-Häuser und Kekskrümel in die fremde Handtasche, Saft und Cola kippen über Schöße. Wenn Spiele und Musik die Kleinen nicht mehr auf den Sitzen halten, zupfen und zerren sie an nicht verwandten Sitznachbarn, kullern und poltern durch die ­Gänge. Ungestört von dem Tumult, lästern die älteren Familien-Mafia-­Angehörigen über Schwestern, Schwäger – und das kinderfeindliche Deutschland.

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Der Querulant

Gefühlt verläuft kaum eine Bahnfahrt ohne Panne – dankbares Futter für dieses Exemplar. Es schnauft verächtlich, wenn eine Verspätung von zwei Minuten angesagt wird, und bei zehn ­Minuten Verzögerung schießt ihm das Blut in den Kopf. »Scheiß-Bahn« und »Da hätte ich doch lieber das Auto nehmen sollen!« sind seine häufigsten Lautäußerungen, und zunehmende Verzögerungen verfolgt er auf seiner Smartphone-Bahn-App. Dem Schaffner, der geknickt und sich entschul­digend des Weges kommt, würgt er rein: »Auf den letzten 47 Bahnfahrten habe ich schon 1355 Minuten Lebenszeit vergeudet!« Dann beginnt er eine ermüdende Diskussion über Unfähigkeit und Entschädigungen und blickt nach Zustimmung heischend um sich. Eine Entschädigung wünschten sich aber auch die Mitfahrer, weil sie den Querulanten wegen der Verspätung noch länger ertragen müssen.

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Das Gruppentier

Dieses Exemplar tritt meist in Regionalzügen und in streng nach Geschlechtern getrennten Rudeln auf, die entweder ihren Fußballvereinen hinterherreisen oder ihre Damenkegelclub-Erfolge feiern. Männer wie Frauen sind dabei froh, endlich mal ohne ihren Partner unterwegs sein zu können, und »lassen so richtig die Sau raus«. Verbunden ist das mit reichlich Gegröle beziehungsweise Gekreische, dabei lassen sie sich weder von genervten Gesichtern ihrer Mitfahrer (»Haben Sie sich doch nicht so!«) noch von den hilflosen Protesten des Schaffners (»Sie sind aber humorlos!«) irritieren. Es werden Zoten gerissen, die daheim tabu wären, und durchgängig Bier beziehungsweise »Piccolöchen« konsumiert. »Ach, was haben wir uns amüsiert«, freuen sich die Gruppentiere nach ihrer Fahrt, »Gott sei Dank steigen die aus«, atmen die Mit­fahrer auf.

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Der Bahn-Comfort-Bucher

Ausgebuffter geht es nicht – diese Variante kennt alle Tricks des Bahnfahrens. Mit vorgehaltener Sitzreservierung bedauert er es vorgeblich, dass er seinen Mitfahrer vom Bahn. Bonus-Comfort-Sitz vertreiben muss. Als Vielfahrer spielt er dieses Privileg quasi schon seit Einführung des Services aus. Keine Tarifwinzigkeit, kein Sonderangebot entgeht ihm. Er weiß auch sekundengenau und ohne aus dem Fenster zu schauen, wann er sich vor seinem Reiseziel aus dem Sitz erheben muss, um als Erster an der Tür zu sein. Den Kaffee der Am-Platz-Bedienung weist er empört von sich, er hat sich daran schon mal den Magen verdorben. Zum Klimaanlagen-, Winter- und Weichenchaos der Bahn könnte er endlose Anekdoten erzählen. Die gutwillige Variante dieses Bahn-Besserwissers klärt seine unbedarfteren Mitfahrer über jegliche Zugverbindung bis zu ihrem Reiseziel auf.

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Die Versunkene

Vergraben in ihrem 500-Seiten-Schmöker, bildet diese Bahnfahrerin die Kulisse für die aktiveren Artgenossen. Nichts und kaum etwas kann sie aus ihrer Faszination an dem »Biss«-Vampirroman (oder Terry-Pratchett-Schmöker bei den selteneren männlichen Varianten) reißen – keine Bahnverspätung, kein Personenunfall, keine Gruppentiere. Störungen bewirken höchstens ein verträumtes Hochsehen zur groben Orientierung und eine leichte Drehung des Oberkörpers weg von der Lärmquelle. Sollte sie bei einem eventuellen Bahnchaos auf einem abgelegenen Bahnhof stranden, ist die Gefahr groß, dass sie dies kaum bemerkt. Manchmal jedoch erschreckt sie ihre Mitfahrer, wenn sie unvermittelt zusammenzuckt, »Mistmistmist« schreit, ihre Utensilien zusammenrafft und zur Tür stürzt – meist hat sie dann schon ihr Ziel verpasst.

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