Kapitel 9

Weltreisen per Zug:

Erleuchtung im Indien-Express

Eine Reise rund um den Globus kann heute eine Sache von wenigen Tagen statt von Wochen sein – das Flugzeug und vor allem die Billigflieger haben die Welt schrumpfen lassen. Hat der ­moderne Globetrotter erst Check-in und Sicherheits­kontrollen am Flughafen überwunden, nimmt er in der ­Maschine Platz, schließt den Sitzgurt – und los geht es. Die Entfernung, die er im Flug zurücklegt, misst sich an der Zahl der Filme, die er geschaut hat, der Zahl der Mahlzeiten, die er auf seinem Klapptischchen balanciert hat, der Zahl der Tomatensäfte, die er getrunken hat. Und dann ist er da, am Ziel der Reise, kaum dass er in der Heimat abgehoben hat. Er tritt durch die Tür des Flughafens und kann schon in eine fremde Kultur eintauchen.

Doch nicht für jeden Weltenbummler ist dieses Instant-Erlebnis die richtige Reiseform – manche sind mit Vorsatz vor allem per Eisenbahn unterwegs. »Ich liebe die langsame Annäherung an mein Ziel und dass man die Ver­änderungen der Vege­tation, der Menschen und des Klimas erfährt«, sagt Man­fred Weis über seine Reisephilosophie. »Das ist Erdkunde, hautnah erlebt.« Der 50-jährige Bahnfan aus Karlsruhe hält seit 25 Jahren den Guinness-Rekord der längsten Interrail-Reise. 36.000 Kilometer innerhalb Europas legte er damals in vier Wochen zurück, inzwischen hat er die halbe Welt auf Gleisen erkundet. So langsam, dass »die Seele mitkommt«, sagt er.

Auch Christoph Kessel aus Mainz nutzt am liebsten öffentliche Verkehrsmittel und hat mit Bus, Bahn und Schiffen innerhalb eines Jahres den Globus umrundet. »Fliegen hat mit dem eigentlichen Reisen nicht mehr viel zu tun«, sagt der 39-Jährige. Im Flugzeug werde man wie im Hollywood-Film von A nach B gebeamt, ohne etwas von den ­Ländern, die man überfliegt, mitzubekommen. »Beim Bahnfahren dagegen erlebt man bei der Ankunft keinen kulturellen Schock.«

Was Slow-Travellern wie Weis und Kessel wichtig ist: Wenn sie in China, Indien oder Pakistan, in Russland, Sudan oder Peru unterwegs sind, dann wollen sie dort die Menschen und ihre Kulturen kennenlernen. Sie wollen nicht nur in Bord­magazinen von Airlines oder in »Lonely Planet«-Reiseführern blättern, sondern ins Gespräch kommen, sich austauschen.

»Wir fahren nicht in andere Länder, um Gebäude und ­Monumente zu sehen, sondern Leute«, sagt auch der 30-jährige Björn Felber, der mit seiner Freundin Maria Seffar nach dem Studium zu einer Weltreise aufbrach. Im Zug – und vor allem in den günstigsten Klassen – könne man die Menschen in ­ihrem Alltag beobachten: »Man sieht, wie sie leben, mit ­ihren Familien umgehen«, sagt die 29-jährige Maria Seffar. Man teile sogar eine gewisse Intimität: »Manche essen ihr selbstgekochtes Essen, manche ziehen sich nachts einen Pyjama an, putzen sich die Zähne.«

Die beiden Biologen haben in den 16 Monaten ihrer Reise die Langsamkeit des Bahnfahrens für sich entdeckt und nutzten den Zug, wo es ging – von Russland und China bis Indien und Thailand. Maria Seffar mag die Annäherung an ihre Mitreisenden ohne Hektik: »Am Anfang kennt man sich nicht. Dann sitzt man lange nebeneinander und kommt langsam ins Gespräch«, erzählt sie. »Die Begegnung kann sich allmählich entwickeln, es gibt kein knappes Zeitlimit.«

Extrem viel Zeit hatten Seffar und Felber auf ihrer Fahrt von Moskau nach Irkutsk. »Mit der Transsibirischen Eisenbahn fährt man tagelang, die Sonne geht jeden Morgen auf der gleichen Seite auf«, erzählen die beiden. Stunde um Stunde ratterten sie gen Osten und lernten dabei ihre »Russka Mama« ­kennen, wie sie sie heute nennen.

Die 67-jährige Frau in ihrem Sechserabteil redete am ­ersten Tag auf Russisch auf sie ein. Keiner konnte die Sprache des anderen. Sie verständigten sich per auf Zettel gemalte Zeichnungen, zeigten sich Fotos. »Wir haben alles hundertmal wiederholt.« Und am zweiten Tag hat die Kommunikation mit Händen und Füßen plötzlich funktioniert, sie hatten ihre ­gemeinsame Sprache gefunden. Am Ende wussten die Deutschen, wo sie herkam, wohin sie wollte und wieso. Völkerverständigung auf Schienen – noch heute ist die kleine Abteil­gemeinschaft in Kontakt.

Eine Party auf Schienen erlebte Christoph Kessel auf einer Fahrt, die ihn vom Pazifik bis zum Atlantik führte. In Kanada saß er auf seiner tagelangen Bahnfahrt von Vancouver bis ­Halifax im Via-Rail-Zug »Canadian« und vertrieb sich die Zeit im Barwagen. »Mit den Kanadiern kam ich schnell in Kontakt«, erzählt er, in dem Autofahrerland falle man schon auf, wenn man nur mit der Bahn unterwegs sein will. »Irgendjemand holte dann seine Gitarre raus, und schnell bekam das eine Lagerfeueratmosphäre«, erzählt er. »Der ganze Wagen sang ›Knockin’ on Heaven’s Door‹ mit, alle kannten den vollständigen Text.« Und da allein die Fahrt nach Toronto 83 Stunden dauerte, schlief Kessel erst, wenn er müde von der Party wurde.

Vor allem in Ländern, in denen die Bahn das Hauptverkehrsmittel für die ärmere Bevölkerung darstellt, ist die Neugierde der Einheimischen auf die Europäer und ihr Leben zu Hause groß. »Als Ausländer ist man oft eine Kuriosität, eine willkommene Ablenkung vom langweiligen Bahnfahren«, sagt Kessel, für den Indien mit seinem riesigen Streckennetz das Bahnfahrerland überhaupt ist. Phrasen wie »What’s your ­name? What’s your country? Are you married?« sind dort ­unausweichlich und auf Dauer ziemlich nervig. Häufig sind sie aber auch der Einstieg in ein intensives Gespräch. Unvergessen für Kessel ist eine Unterhaltung mitten in Indien, nachts um 2 Uhr auf einem Bahnsteig. »Den Ort weiß ich längst nicht mehr«, erzählt er, »aber dass der Mann begeistert über die deutsche Krankenversicherung sprach und das US-System verteufelte, das weiß ich noch.«

Manfred Weis, dem Interrail-Rekordhalter, brachte eine Bahnreise in den achtziger Jahren tiefe Einblicke in die afrikanische Politik. Auf der Fahrt von Kairo nach Khartum lernte er nach der Überfahrt über den Nasser-Stausee den sudanesischen Arzt Hassan kennen. Heftige Regengüsse hatten Gleise weggeschwemmt, die Weiterfahrt verzögerte sich, dann verbrachten sie 48 Stunden gemeinsam im Zug, Hassan erzählte von seiner Verwicklung in die südsudanesische Freiheitsbewegung, zeigte Weis dann seine Heimatstadt Khartum und sein Zuhause. »Wäre ich mit dem Auto unterwegs gewesen«, sagt Weis, »hätte ich ihn nie getroffen.« Die beiden sahen sich in Deutschland wieder. Und Jahrzehnte später verfolgte Weis die Unabhängigkeitsfeier des Südsudans mit einem ganz anderen Verständnis.

Umgeben von einer fremden Kultur, herausgerissen aus dem Alltag, sind Reisende oft empfänglicher für Neues – was manchmal auch ihr Leben verändert. Der Informatiker Weis kam auf einer mehrmonatigen Bahnfahrt von Deutschland nach Hongkong mit einer holländischen Reiseveranstalterin ins ­Gespräch. Begeistert von ihren Ideen ließ er nach seiner Heimreise die IT zunächst ruhen und machte ein Reisebüro auf. Bei dem Biologen Björn Felder war es eine Begegnung in einem indischen Zug: Auf der Fahrt von Delhi nach Agra, in einem vollbesetzten Abteil, ergriff ein Mitte-50-jähriger, bis dahin schweigsamer Mitfahrer plötzlich seine Hände, drehte sie nach oben und sagte: »Ich bringe dir jetzt was über Indien bei.«

Umringt von rund 20 Leuten, forderte der schlanke Mann in Jeans Felber auf, sich den Kopf zu reiben und dann die ­Augen zu schließen. »Angst und Zweifel werden beseitigt. Verbinde dich mit der Quelle«, sagte er und meinte damit den höchsten Geist des Hinduismus. Der deutsche Tourist spürte einen Druck auf dem Kopf und Wärme »wie von einem Lichtstrahl«. Der Inder – der eine große Ruhe ausstrahlte, wie ­Felber erzählt – verabschiedete sich in der Taj-Mahal-Stadt Agra. Und Felber? War von dem spirituellen Erlebnis tief berührt. Seitdem meditiert der Naturwissenschaftler täglich.

So grandios und faszinierend die Landschaften sind, die vor den Zugfenstern vorbeiziehen, so mühsam ist oft auch das ­Reisen in den Zügen Afrikas, Indiens und vieler Schwellenländer. Die Bürokratie ist überbordend, die Streckennetze sind marode, Züge und Technik stammen zum Teil noch aus Kolonialzeiten. Selbst an den bequemeren Waggon-Varianten wie Softseater und Foursleeper hat der Zahn der Zeit genagt.

Für Zugfahrer aus Überzeugung macht genau das den Reiz des Transportmittels aus – hilfreich sind außerdem ein paar Eigenschaften: »Man muss auch mal ein paar Stunden nur Landschaft angucken können, ohne sich zu langweilen«, sagt Maria Seffar, »und man darf nicht internetsüchtig sein. In ­Indien muss man die oft dreckigen und überfüllten Waggons ertragen können, und man darf keine Berührungsängste haben – oft quetschen sich so viele Leute wie nur möglich auf eine Bank, Armlehnen gibt es nicht.«

»Zeit und Geduld muss man mitbringen, wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln um die Welt reist«, sagt Kessel. »Zeit ist viel wichtiger als Geld.« Und wenn man Zeit habe, dann habe man auch die Gelassenheit, Ungewissheiten wie verspätete oder ausfallende Züge auszuhalten – was einen zu Hause schon in die Krise treiben würde. Manfred Weis’ Quintessenz aus Tausenden gefahrenen Schienenkilometern: »Nicht alles minutiös vorplanen.« Damit nehme man sich die Spon­taneität, auf Begegnungen zu reagieren, auch mal Einladungen anzunehmen. »Man wird auf Bahnreisen immer etwas erleben, das ist sicher.« Das Wichtigste sei: den Moment zu genießen.

Einig sind sich die Vielfahrer, dass Bahnreisen langweilig werden, wenn die Züge zu modern sind. Was einen Fortschritt für die Einheimischen bedeutet und mehr Komfort für Touris­ten, ist oft öder für Reisende, die das Abenteuer und den Kontakt suchen. »In den Großraumabteilen mit ihren Flugzeug­sitzen sind Begegnungen seltener geworden«, meint Weis. »Die Hightech-Züge an Chinas Ostküste waren im Vergleich unspektakulär«, sagt Maria Seffar.

Und Kessel konnte sich für ein Bahnerlebnis in Bolivien wenig begeistern: »Der Zug fuhr zum Salzsee Salar de Uyuni durch schöne Landschaften, doch in den klimatisierten Waggons wurde auf Video-Bildschirmen ›Men in Black‹ gezeigt.« Auch waren vor allem Touristen statt Einheimische in dem ­Luxuszug, dasselbe erlebte er in Peru auf der Strecke nach ­Machu Picchu. In Indonesien brachten immerhin die fliegenden Märkte Leben in moderne Züge, immer noch stürmten Händler an den Haltestellen die Waggons. Mit Snacks, rosa Kämmen und Toilettenpapier im Angebot.

In Mitteleuropa hat die Eisenbahn für den Ex-Interrailer Weis ihr Flair längst verloren. Nicht nur der Schwund der kleinen Abteile sei schuld und die Schnelligkeit der Verbindungen, auch seien die Zugpassagiere in ICE, IC und TGV kaum mehr ansprechbar: »Jeder hat irgendwas im Ohr, einen Laptop vor sich und ist mit sich beschäftigt.« Definitiv ein Verlust, meint der Vielfahrer. Das direkte Gespräch sei doch ­immer noch die beste Informationsquelle für Reisetipps, und nicht das Internet auf dem Smartphone.

Viel kommunikativer geht es nach Ansicht der Weltenbummler im Osten Europas zu. In Rumänien, Bulgarien und der Slowakei kann man das Abenteuer Bahnfahrt noch erleben. Das Bahnsystem sei noch nicht modernisiert, und man komme leichter ins Gespräch – ein Genuss für Bahnnostalgiker.