„Sie sind der Nachbar?“

„Wohl oder übel. Zeller. Ich wohne nebenan, also eigentlich hinter dieser Wand, an der offensichtlich das Bücherregal stand. Aber ich bin nicht immer anwesend. Ich vertrag dieses Haus nicht, es tut mir nicht gut.“

„Was heißt: Es tut mir nicht gut?“

„Katastrophales Karma. Negative Energie, verstehen Sie? Alles vibriert, alles schwingt und dreht sich in die falsche Richtung, spüren Sie das nicht?“

„Spürst du was, Kuzmany?“

„Nicht wirklich, Chef.“

„Es ist unerträglich. Das hängt mit den Menschen zusammen, die hier wohnen.“

„Was sind das für Menschen?“

Blabla. Dass wir alle Agnostiker sind, gottloses Volk, das die Weinflaschen in den Papiercontainer wirft. Dass wir deinen blöden Weihwasserkessel verhindert haben, dass wir die Türe zuknallen, wenn du davor stehst, dass zwei Schwule im zweiten und ein Alkoholikerpärchen im obersten Stockwerk wohnen. Und ein Mörder. Du bist eine Nervensäge, Kuno, eine bigotte, scheinheilige Nervensäge, das ist alles. Und die Typen, die du ins Haus geschleppt hast, deine Buß- und Betbrüder. Die haben wir schnell wieder verscheucht. Wir sind keine Wilden, die man missionieren muss. Wir pfeifen auf dich. Gott sei Dank hast du das irgendwann kapiert. Und hast dich halbwegs rar gemacht.

„Warum sind Sie nicht einfach ausgezogen, Herr Zeller?“

„Ich hab eine Mission zu erfüllen.“

Die Wohnung gehört deiner Mutter und du musst keinen Cent dafür bezahlen, Kuno. Das ist es.

„Haben Sie von gestern auf heute hier geschlafen?“

„Geschlafen ist gut. Man kann ja nicht schlafen. Ich habe gebetet und gedöst.“

„Wenn so ein riesiges Bücherregal umfällt, mit so vielen Büchern, dass muss doch einen enormen Lärm erzeugen! Haben Sie nichts gehört?“

„Oder gespürt, so Wand an Wand?“

„Nachts hab ich Ohropax in den Ohren, und am Morgen, wenn ich meditiere, trag ich Kopfhörer. Anders geht es nicht in diesem Haus.“

„Aber die Druckwelle! Das muss doch wie ein kleines Erdbeben gewesen sein!“

„Wenn man sich in die ewige Wahrheit versenkt, was soll einem da ein Erdbeben?“

Okay. Also da drüben, nordseitig, 400 Meter Entfernung, wird die Eisenbahnbrücke saniert. Was heißt: saniert; neu gebaut wird die. Da werden von 7 Uhr Früh bis 6 Uhr am Abend Eisenpflöcke in den Boden gerammt, seit Monaten! Wir haben jeden Tag Erdbeben, da ist so ein Bücherregaleinsturz eine Lappalie, ein Furz in der Wüste. Komisch, ich hab’s auch nicht mitgekriegt. Ich hab keine Ahnung, wie dieses Ding umgefallen ist. Und schon gar nicht, warum. Ich weiß nur, dass ich mir dabei den Tod geholt habe. Den Tod geholt, von wo?

„Was gefunden, Kuzmany?“

„Nicht viel, Chef. Selten so ein lausiges Telefonverzeichnis gesehen. Scheint nicht viele Bezugspersonen gehabt zu haben, der Herr Klinger. Eine Klinger hab ich allerdings gefunden. Klinger Veronika. Handynummer. Wird wohl eine Verwandte sein. Soll ich anrufen?“

Erstens: Es gibt auch andere Telefonverzeichnisse. Aber die müsst ihr schon selber finden. Zweitens: okay, Veronika Klinger ist eine Verwandte von mir. Die einzige, soviel ich weiß. Eine Halbschwester. Drittens: Bitte nicht anrufen! Die weiß nichts über mich, so wie ich nichts über sie weiß. Nichts, versteht ihr, überhaupt nichts. Da weiß die Jovanka tausendmal mehr. Vergesst die Veronika!

Mein Vater hat uns früh verlassen, Mutter und mich. Nach Mutters Tod ist er einmal bei mir aufgetaucht, mit einem jungen Mädchen. Das ist deine Schwester, hat er gesagt. Ein paar Jahre später ist auch Vater gestorben; wir hatten keinerlei Kontakt. Es ist auch egal. Die Veronika hab ich vielleicht vier, fünf Mal gesehen in meinem Leben. Ich wüsste nicht einmal, wie sie aussieht oder wo sie wohnt.

„Veronika Klinger? Hier Kripo Salzburg, Kuzmany. Kennen Sie einen gewissen Martin Klinger? Ihr Halbbruder? Ja, es ist etwas passiert. Könnten Sie in seine Wohnung kommen? Ach so, Sie leben in Linz?“

„Sie soll trotzdem kommen. So schnell wie möglich. Irgendwer muss ja auch die Beisetzung organisieren. Sag ihr das!“

„Frau Klinger, ich hab eine traurige Nachricht … “

Nicht die Veronika! Die hat null Ahnung. Die hat schon Vaters Begräbnis kaputt gemacht. Der bin ich doch völlig egal, wie sie mir völlig egal ist. Von so einer lass ich mir nicht den Abschied ausrichten. Da bleib ich lieber hier liegen und vermodere. Lasst mich hier liegen und vermodern. Das ist ein Befehl! Und überhaupt – es ist 11 Uhr, ich muss ins Café!

„Braucht ihr uns noch?“

„Eigentlich nicht, Doktor. Das heißt: außer Genickbruch … “

 … jede Menge Prellungen und Hautabschürfungen. Von den Regalen und den Büchern.“

„Das Riesencut auf der Wange?“

„Wahrscheinlich vom Computerbildschirm oder von der Vase mit der Kerze drin. Ist ja alles zu Bruch gegangen. Er muss mit dem Gesicht auf den Bildschirm oder auf die Vase gefallen sein.“

„Und dann ist er mitsamt dem Schreibtisch und allem Drum und Dran umgekippt.“

„Domino-Effekt. Bücherwand ins Genick … dann der Körper nach vor … auf den Schreibtisch, den Monitor oder die Vase; dann knallen die Bücher, der Mann, der Bildschirm, die Kerzenvase samt Schreibtisch auf den Parkettboden. Und jede Menge Bücher rutschen nach. Das war’s. Mehr wird wohl die Gerichtsmedizin rausfinden.“

„Okay. Danke. Ciao!“

Hi, Frau Annemarie. Ich bin tot und ich hätte gern einen Espresso-Schwarz, wie immer. Funktioniert nicht. Espresso, wie immer!!! Wieso sitzt da einer auf meinem Stammplatz? Klar, ich bin zu spät. Aber, pardon, ich bin grad gestorben, da schleichen sich solche Verzögerungen schon mal ein. Schreckt Sie das Riesencut auf meiner Wange? Wahrscheinlich ist da gar nichts; das hat der Notarzt erfunden, damit wollte er sich wichtig machen, und die Kripo-Leute haben mitgespielt. Wow, dieses Riesencut! Ich hab kein Cut auf der Wange, ich schau aus wie immer. Oder?

Na schön, Espresso muss nicht sein. Platz brauch ich auch keinen. Ich wollte bloß kurz vorbeischauen. Weiß schon jemand, dass ich tot bin? Geh ich irgendwem ab? He ihr, ich liege tot in meiner Wohnung! Martin Klinger liegt tot in seiner Wohnung, von Büchern erschlagen!

Wolf, weißt du schon was? Wir waren ja fast so etwas wie Freunde. Stille Freunde, im Schweigen vereint. Haben unsere Zeitungen gelesen, uns freundlich gegrüßt, manchmal ein paar Worte gewechselt. Kannst du mein Begräbnis organisieren? Halt mir wenigstens die Rede! Schick die blonde Frau aufs Klo … ist die neu? … und hör mir fünf Sekunden lang zu. Ich zahl dir auch den nächsten Wein. Frau Annemarie! Funktioniert nicht. Shit!

Die behandeln mich, als wäre ich Luft. Mein Espresso und der Wein für den Wolf, verdammt noch mal! Frau Annemarie, ich greif Ihnen an den Busen. Jetzt! Gezuckt hat sie schon. Oder zuckt sie immer so, wenn die Chefin den Raum betritt? Scheiß dich nicht an wegen der Chefin! Der blas ich Staubzucker in die Augen, bis sie blind ist! Nächstes Mal. Ach, Frau Annemarie!

„Chef, haben Sie das gesehen?“

„Was gesehen?“

„Die Bücher! ‚Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod’; ‚Die letzte Reise – Sterben, Tod und Trauersitten’; ‚Die neue Sichtbarkeit des Todes’; ‚Lexikon merkwürdiger Todesarten‘ … Eigenartige Lektüre!“

„Hast du das gesehen, Kuzmany?“

„Was?! He! Pornocassetten!“

„Ich würde sagen: der schärferen Art!“

„, Piss-Orgie, dritter Teil’ … ‚Natursekt pur’ … ganz schön pervers, oder?“

„Bücher über den Tod und das Sterben. Pinkel-Sex-Cassetten. Normal ist das nicht.“

„Jetzt wird die Geschichte langsam spannend!“

Okay. Bitte keine Legendenbildung! Kann ich alles aufklären, hört zu! Ich hab die Wohnung möbliert übernommen, mitsamt den Regalen und den Büchern. Hat alles meinem Vorgänger gehört, der überraschend gestorben ist. Warum, weiß ich nicht. War auch ein Schriftsteller, nicht rasend erfolgreich. Ich bin aus Berlin zurückgekommen, vor fünf Jahren, und hab eine günstige Bleibe gesucht. Die Wohnung war günstig, die Bücher haben mich nicht gestört. Ein paar hab ich gelesen, aber weiß Gott nicht alle. Wär auch gar nicht zu schaffen. Dann sind noch etliche Bücher dazugekommen, alles Mögliche, auch über den Tod und das Sterben. Ist ja nicht unspannend.

Am Schluss waren alle Regalfächer belegt, von oben bis unten, in Doppelreihen. 15 Quadratmeter mindestens. Drei Meter hoch. Habt ihr ein Maßband dabei? Ist auch egal. Da sind richtige Ziegel von Büchern darunter, kiloschwer. Die meisten vom Vormieter. Dass mich die Bücher eines Tages erschlagen – wer rechnet mit sowas?!

Mit den Pornocassetten hab ich nichts zu tun. Wo die herkommen, weiß ich nicht, hört ihr? Ich weiß es nicht. Die gehören nicht mir. Null Ahnung. Ich besitze keine Pornocassetten und hab nie welche besessen. Ihr seid pervers! Eure Gedankengänge sind pervers. Ihr seid auf dem falschen Dampfer, komplett! Das ist Leichenschändung, Störung der Totenruhe! Hört ihr?!

„Hören Sie zu, Chef!“

„Wir sind nicht zum Lesen da, Kuzmany. Wir ermitteln! Leg das Buch weg!“

„Irre! ‚Ein Schmied legte seinen Kopf zwischen die Blöcke eines Schraubstocks und drehte mit der Rechten das Gerät zu, bis der Schädel zerbrach.’ Ist doch irre, oder? Und sowas hat der gelesen!“

Hab ich nicht gelesen. Der Satz ist mir vollkommen fremd. Ich kenne das nicht. Mir kommt das Kotzen, wenn ich so einen Satz höre! Den Kopf in den Schraubstock! Das ist nicht mein Niveau! Das Buch hat ihm gehört, meinem Vorgänger. Ich hab seinen Namen vergessen. Mannsfeld, so irgendwie. Nehmt euch meinetwegen jeder ein Buch, setzt euch ins Wohnzimmer und lest. Aber lasst mich hier in Ruhe liegen und verschont mich mit euren geisteskranken Verdächtigungen. Sonst piss ich euch voll ins Gesicht. Nehmt euch Kaffee, ist noch heiß. Und schaltet mir ja die Maschine ab. Ich bin nicht mehr dazu gekommen. Mir ist schon einmal eine Kanne verschmort. Brauch ich kein zweites Mal. Kuchen ist auch noch da, unter dem Glassturz.