„Wie kommen Sie hier herein?“
„Na, durch die Tür. Steht ja weit genug offen. Ist was passiert? Oh Gott. Der Klinger!“
„Verzeihung, aber wer sind Sie eigentlich?“
Das ist die Auerbach von links oben. Riecht ihr die Alkoholfahne? Die hat doch eine Fahne? Um die Zeit hat die immer schon eine Fahne. Mein Geruchssinn ist im Arsch. Aber ich weiß, dass die Auerbach eine Fahne hat. Glaubt ihr bitte kein Wort, die redet nur Unsinn. Der hat der Alkohol schon längst das Hirn weggefressen.
„Irene Auerbach. Ich könnte mir vorstellen … “
„Sie wohnen in diesem Haus, Frau Auerbach?“
„Ja, links oben, zweiter Stock. Er ist richtig tot, oder?“
„Richtig tot. Haben Sie ihn näher gekannt?“
„Den Klinger? Gott bewahre! Mir sind die Leute im Haus sowas von egal. Wissen Sie, ich bin Event-Managerin, da hat man mit ganz anderen Kalibern zu tun.“
„Ich verstehe. Aber wenn man in so einer Hausgemeinschaft lebt, dann lernt man notgedrungen … “
„ … notgedrungen lerne ich gar nichts. Und ‚Hausgemeinschaft’ ist eines der blödesten Wörter überhaupt. Bloß weil man zufällig im selben Haus wohnt, ist man noch lang keine Gemeinschaft. Ich grüße zurück, wenn ich im Stiegenhaus gegrüßt werde. Aber ich lasse mich in keine Gespräche verwickeln. Gemein. Ja, Gemeinheiten erlebt man, aber keine Gemeinschaft.“
„Sie wohnen schon lange in diesem Haus?“
„Zwei Jahre. Oder drei, was weiß ich.“
Gott, diese Sauftante! Riecht ihr das nicht? Schmeißt sie raus, bitte! Das ist ein Befehl! Ich bin halbnackt, und die hält schwachsinnige Vorträge über Hausgemeinschaften? Ich knall ihr eine.
„Was wollten Sie sagen, Frau Auerbach?“
„Wollte ich was sagen?“
„Sie haben gemeint: Ich könnte mir vorstellen … “
„Genau! Wissen Sie … noch dazu, wo ich ihn jetzt so sehe, nur mit dem Bademantel bekleidet und der ist fast offen … ich könnte mir vorstellen, dass das was mit seinen, sagen wir: ungewöhnlichen Vorlieben zu tun haben könnte.“
„Kuzmany, schreib mit!“
„Ich schreib die ganze Zeit schon mit, Chef!“
„Welche ungewöhnlichen Vorlieben meinen Sie?“
„Naja, man hört viel in so einem Haus, besonders nachts. Dieses Gestöhne und Geächze, widerwärtig.“
„Sie meinen Sex? Das kommt in den besten Häusern vor!“
Frau Annemarie, ein Glas Hauswein! Und du, Wolf, hör zu. Bitte keinen schwarzen Anzug und schon gar keine Krawatte. Komm so wie immer. Hast du eigentlich nur dieses eine Sakko? Und diese viel zu weiten Jeans? Rasier dich nicht. Du schaust so herrlich vergammelt aus. Und jetzt das Wichtigste: die Rede. He, was heißt da: „Zahlen, bitte?“ Und Sie, Frau Annemarie, hauen Sie ab, wir sind noch nicht fertig! Lass mich nicht im Stich, Wolf. Musst ja nicht lange reden. Aber so eine halbe Stunde wäre schon fein. Oder fällt dir da zu wenig ein? Red über mich, wie ich versucht habe schweigend die Kellnerinnen anzubaggern. Oder wie mir einmal die Festspielpräsidentin so freundlich die Hand geschüttelt hat, aber bloß weil sie mich mit einem Pianisten verwechselt hat. „Welcome, Mister Snyder!“ Da warst du doch dabei. Erzähl das.
Erzähl von unseren Gesprächen über die Zukunft der Eintagsfliegen im Wintergarten oder, Scheiße, irgendwas. Zum Beispiel, dass ich einmal im Café eingeschlafen und unter den Tisch gerutscht bin, aber nur, weil ich die ganze Nacht an einer Geschichte geschrieben habe, die ich im Morgengrauen in der Badewanne verbrannt habe, 18 Seiten. Erzähl das! Und dass die anderen Kaffeehausgäste geglaubt haben, ich bin besoffen. Vielleicht wäre das die schönste Geschichte des Jahres geworden. Sag einfach: „Im Morgengrauen, nach der fieberhaften Arbeit an einer Geschichte, die wohl die schönste Geschichte des Jahrhunderts geworden wäre, hat Martin Klinger … “, sag ruhig: „ … hat mein lieber Freund Martin Klinger 18 Seiten Poesie in seiner Badewanne verbrannt.“ Und dann die Sache mit dem Café.
Sag das, ich flehe dich an. Es klingt verdammt gut. Vielleicht stimmt es auch, obwohl ich mich an die Geschichte nicht mehr erinnern kann. Nur an den vorwurfsvollen Blick von der Jovanka kann ich mich erinnern. „Brennt man nicht Papierln in Badewanne, macht viele Schmutz! Ist nicht wert, die Frau Dame.“ Sie hat nämlich geglaubt, dass ich den Abschiedsbrief einer Geliebten verbrannt habe. Ist doch schön die Geschichte. Zum Heulen schön, oder? Die Frau Jovanka muss unbedingt vorkommen in der Rede. Und dass ich in Berlin drei Bücher herausgebracht habe, was hier, in Salzburg, keine Sau interessiert hat. Das mit „keine Sau interessiert hat“, kannst du wörtlich zitieren.
He, der will gar nicht zahlen, Frau Annemarie! Der trinkt noch einen Wein, auf meine Kosten. Wird alles über die Verlassenschaft abgewickelt. Genau, Wolf, kümmere dich um meine Verlassenschaft. Und halte mir, ich knie vor dir, eine schöne Rede! Die weißblonde Tussie ist nichts für dich, hörst du? Wolf!!! Ja, der Wein geht auf meine Rechnung. Der für die Tussi auch. Ich zahle beim nächsten Mal. Frau Annemarie, würden Sie was Nettes über mich sagen?
„Meinen Sie das, Frau Auerbach?“
„Zeigen Sie her. ‚Piss-Orgie, dritter Teil’! So eine Sau! Von wegen Hausgemeinschaft! Mit so einem hab ich nichts gemein, aber schon überhaupt nichts!“
„Und was soll das mit seinem Tod zu tun haben?“
„Ich kann mir vorstellen, gut vorstellen, dass das alles im Zuge einer abartigen sexuellen Aktion passiert ist.“
„Aber er war ja ganz allein!“
„Kuzmany! Sex kann man auch allein haben. Also, wie meinen Sie das, Frau Auerbach?“
„Ganz einfach. Der schaut sich im Videorekorder einen Porno an … “
„ … da gibt’s keinen Videorekorder … “
„ … schaut sich im Computer einen Porno an … “
„ … was hat das mit der Bücherwand zu tun … “
„ … greift hinter sich, im Augenblick der Ekstase … “
„ … verstehe, kriegt einen, was weiß ich, Teil des Bücherregals, so ein Querbrett oder Längsbrett, irgendwas halt in die Finger, reißt an … “
„ … während er an seinem Ding manipuliert … “
„ … er hat Boxershorts an, unter dem Bademantel, Chef … “
„ … ach so, hat er … “
„ … na, dann hat er sie eben, als die Wand mit den Büchern umfiel, rasch hochgezogen, Herr Kommissar. So reflexartig. Haben Sie keine Fantasie, junge Frau?“
Muss man sich diesen Schwachsinn bieten lassen? Bloß weil man tot ist? Kann wegen dieser simplen Tatsache jedes Arschloch so viel Mist über einem ausschütten? Hab ich die Augen offen oder zu? Kann mir gefälligst jemand Wachs in die Ohren stopfen! Verhaftet die Kuh wegen übler Nachrede! Sperrt sie in den Keller, zu den Ratten und den Fliegen! War das grad eine Fliege? Hat sich die auf meine Stirn gesetzt? Ist die wegen mir gekommen?! Oder haben sie die lieben Nachbarn in meine Wohnung gebracht, der Juxpfaffe Kuno und die Säuferin Auerbach?!
Sind Fliegen leicht oder schwer? Ist mein Schädel ein Landeplatz für fliegendes Getier geworden zuletzt? Ist das die Bestimmung des Menschen? Weiß die Fliege, dass ich tot bin? Riecht sie das? Und wenn sie es weiß, tut ihr das leid, ist ihr das egal? Oder angenehm? Scheiß mir bloß nicht in die Haare, Fliege, hab ich frisch gewaschen, bevor ich nach unten gegangen bin, die Zeitung holen. Tu das nicht, sonst klatsch ich dich tot!
Und ihr, vor Dummheit strotzende Ermittler von der Soko Genickbruch (ist mir das eingefallen oder kenn ich das aus einem Film?) sucht gefälligst in dem verdammten Trümmerhaufen meine Bücher aus der Berliner Zeit, hört ihr?! Meine Bücher! Müsst ja nur auf den Namen des Autors achten: Martin Klinger! Sucht, bevor die Entrümpler kommen und alle Spuren auslöschen!
Zwischenbilanz: Dass man sich nicht wehren kann, ist die echte Katastrophe. Das ist die Supersauerei am Tod. Schlimmer kann’s nicht werden.