„Und? Mord oder Selbstmord?“

„Charly! Hast du wieder den Polizeifunk abgehört!“

„Nie im Leben, Kommissare! Ich bin ein seriöser Journalist, wie Sie wissen!“

„Seit wann, Charly?“

„Seit immer und ewig. Mir haben die Vögelein was gezwitschert. Schau doch einmal im Andräviertel vorbei, ganz unverbindlich. Schau ich also vorbei. Und was sehe ich? Einen Polizeiwagen. Ich hab mir gedacht, vielleicht kann ich irgendwie helfen? Man ist ja auch nur ein Mensch. Und dann war die Tür offen. Und jetzt seh ich das da! Oh Gott, schaut echt arg aus! Wer ist der Mann?“

„Martin Klinger. Kennst du den, Charly? Du kennst doch jeden in der Stadt?“

„Klinger? Martin? Nie gehört, ehrlich nicht. Schaut nach Mord aus, Kommissare, oder?“

„Wie kommst du auf Mord?“

„Meinen Sie Selbstmord?“

„Könnte ja ein Unfall gewesen sein.“

„Glauben Sie doch selber nicht, Kommissare! Was war er denn von Beruf?“

„Wir sind noch am Ermitteln.“

„Martin Klinger sagen Sie? Hat der nicht Martin Klinger geheißen, voriges Jahr, der am Hauptbahnhof in eine Schlägerei verwickelt war, mit der Türkenbande? Ein Toter. Erinnern Sie sich? War eine sehr dubiose Geschichte damals. Hat da nicht ein Klinger recherchiert, auf eigene Faust, irgend so ein Schreiberling?“

„Kuzmany, ruf im Archiv an!“

Charly Wie-immer-du-heißt, hör sofort mit dem Fotografieren auf! Du hast kein Recht dazu. Niemand hat das Recht dazu, einen Toten einfach abzuknipsen. Einfach so abzuschießen. Du schießt einen Toten ab. Hast du einen Waffenschein? Einen Toten-Abschieß-Waffenschein? Warum kontrolliert das keiner? Das ist wider die Menschenrechte! Paragraph Sowieso: Jeder Mensch hat das Recht, als Toter nicht fotografiert zu werden. Schon gar nicht zu kommerziellen Zwecken!

Du knipst und knipst, und die Bilder werden nichts über mich aussagen. Du musst dich mit meinem Leben beschäftigen, bevor du abdrückst. Du musst alles über mich wissen, alles, sonst wird das schwere Körperverletzung und sonst nichts. Du verletzt mich, meinen Körper, meine Würde mit deiner Digitalkamera. Wahrscheinlich hast du schon drei Dutzend Bilder an die Redaktion geschickt, und die schmeißen alles weg, löschen alles aus den Speichern, bis auf das eine Bild, das schrecklichste: ein Mann liegt unter Trümmern, kaputtgeschlagen von Büchern über den Tod. Und genau dieses scheußlichste aller Bilder wird morgen in der Zeitung zu sehen sein. Aus!

Verkauft ihr ein einziges Exemplar mehr, wenn ihr das Bild abdruckt? Hab ich ein Mitspracherecht? Darf ich mir zuerst noch das Cut auf der Wange wegschminken? Wer kriegt die Tantiemen? Habt ihr die Kontonummer von der Jovanka? Der müsst ihr 10.000 Euro überweisen für jedes Bild. Wenn schon ein Foto, dann eines aus meiner guten Zeit, eines aus Berlin. Ich im Ruderboot am Großen See im Tiergarten. Das Foto muss irgendwo unter den Büchern liegen, in der Berlin-Schachtel, wenn es die noch gibt. Wenn sie die Scheißbücher nicht plattgemacht haben. Den Fabian könnt ihr ja wegschneiden. Das ist der, der rudert. Und jetzt Schluss mit dieser Blitzlichtorgie! Hörst du?! Charly Wie-immer-du-heißt! Keine Genickbruch-Scheußlichkeiten! Stopp! Ich verbiete mir das! Ich verbiete mir jegliche nicht autorisierte Veröffentlichung! Ich ruf meinen Anwalt an!

„Hab ich nix ausgehalten bei Frau Stadelmaier. Hab ich geputzt schnell, schnell. Jössus, ist immer noch da, der Herr Klinger, seligerweise.“

Jovanka, dich schickt der Himmel. Steig dem Fotoaffen mit deinen scharfen Schuhen in die Eier! Jetzt! Jetzt hat er dich auch fotografiert. Jetzt wirst du berühmt.

„Frau … “

„Eberherr, is nix schwer der Name. Eberherr, Jovanka. Können Frau Eberherr zu mir sagen, Herr Polizist. Macht nix.“ „Frau Eberherr, ist Ihnen in der letzten Zeit irgendetwas Besonderes aufgefallen an Herrn Klinger?“

„No, was soll aufgefallen sein. Bissl zugenommen hat er. Aber Mann in seinem Alter darf ruhig bissl zunehmen. Mein Mann seligerweise … “

„War er krank?“

„Aber Gotteswillen, niemals krank. Hat nix gesagt. Ausgeschaut wie blühender Zwetschgenbaum. Einmal, voriges Jahr, eine Woche Krankenhaus, aber sonst nix.“

„Eine Woche Krankenhaus? Warum?“

„Ja bin ich Frau Onkel Doktor von Herrn Klinger? Hat nur gesagt: jetzt war ich bissl krank, jetzt bin ich wieder bissl gesund. Ist ja ganz normal.“

„Was heißt ‚bissl gesund’, Frau Eberherr?“

„Na heißt: bissl gesund. Das ist doch genug. Bissl gesund ist besser als bissl krank. Viel besser.“

„Fällt Ihnen sonst was Wichtiges ein?“

„Bissl ernst ist er gewesen, Herr Klinger, letzte Zeit. Weiß nicht, Sorgen vielleicht mit Arbeit … “

„Mit welcher Arbeit, Frau … “

„Immer schreibt er. So viele Papier. Ich trag Papierkorb runter in Mist – so viele Papier, alles zusammengedrückt wie Schneeball. Hunderte Papierschneeball in einem Kübel. Jeden Tag hunderte Schneeball.“

„Was hat er denn geschrieben?“

„Herr Polizist! Bin ich Schnüffler? Jovanka stierlt nix in fremde Sachen. Ich bin anständige Frau!“

„Das glaub ich schon, aber a bissl stierln?“

„Nix bissl stierln. Gar nix. Geht mich nix an.“

„Andere Frage: Haben Sie heute schon den Papierkorb ausgeleert?“

„Gute Frage, Kuzmany! Also, Frau Eberherr, haben Sie heute schon den Papierkorb ausgeleert?“

„Hab ich nicht ausgeleert. War ja nix drinnen.“

„Kein Papierschneeball?“

„Nix! Darf ich Herr Klinger a Kreuzl in die Hand drücken, für die ewige Seligkeit?“

„Was wollen Sie?“

„Da, diese Kreuzl! Hab ich immer in Geldtaschl, aber jetzt Herr Klinger braucht das mehr als ich. Hat eh nix genutzt in Geldtaschl. Soll ihm helfen rüber in andere Welt. Hab ich meinem Mann seligerweise auch in die Hand gedrückt.“

„Ein Kreuz?“

„Eh so klein. Passt in a Kinderhanderl. A bissl orthodox, macht nix. Darf ich das, Herr Polizist?“

„Von mir aus. Aber ziehen Sie die Handschuhe an, wegen der Fingerabdrücke.“

Danke, Jovanka. Das ist ganz lieb von dir. Darfst mich auch auf den Mund küssen. Schade. Hab ich wirklich zugenommen? Und warum schaust du so verheult aus? Wegen mir?

„Das nimmt Sie ziemlich mit, Frau Eberherr, oder?“ „Weil ich hab rotgeweinte Augen, Frau Polizist? Das ist wegen der Frau Stadelmaier. Die hat so geheult. Und wenn wer heult, ich muss mitheulen. Da hupft der Aff’ ins Wasser! Das ist wie Wasserfall.“

He! Die Sonja hat geheult? Das finde ich stark. Ein richtiges kleines Glücksgefühl so gegen Ende. Ja, ich hab dich auch sehr geliebt, Sonja. Mehr als die anderen. Waren ja nicht viele. Und du warst die Wichtigste von allen.

„Hat so geweint, Frau Stadelmaier, wegen blöden Trottel, pardon vielmals. Hat schon oft geweint, wegen blöden Trottel. Einmal ganz wie schnurrender Kater, einmal wie Teufel. Einmal kommt, einmal geht. Immer so viel schreien! Hat nicht leicht, Frau Stadelmaier. So geweint!“

Bin schon da, Sonja. Im Trösten war ich immer gut. Vergiss ihn. Lass dich nicht quälen! Wenn du schon nicht wegen mir heulst – wegen „blöden Trottel“ brauchst du auch nicht heulen! Wo bist du? He, die Kerze ist ganz schön weit runtergebrannt! Aber das Foto hast du nicht gefunden: ich, im Yogi-Kopfstand, auf den Steinen am Saalach-Ufer. In unserer paradiesischen Zeit. When I was young … didl-dididl-didumm … when I was young. Eric Burdon, erinnerst du dich? Scheiße, wer stöhnt da drinnen! Soll ich dir helfen, Sonja? Sonja, Mistvieh! Du lässt dich vögeln am helllichten Tag? In der Küche? Von diesem blöden Trottel? Einmal kommt, einmal geht. Versöhnungsfick? An meinem Sterbetag? Ist dir gar nichts heilig? Ein altes Weib wie du?! Und ein Fettsack wie dieser Kotzjürgen?! Schämt ihr euch nicht? Und wegen dir heult sich die Jovanka die Augen aus dem Leib? Oh Gott, Sex im Alter. Schaut Scheiße aus, so von außen betrachtet. Der hat einen Arsch wie ein Schlauchboot! Ich schalt jetzt die Herdplatte ein!

„Bitte möchte jetzt gehen. Muss kochen für Familie.“

„Eine Frage noch.“

„Bitte, Herr Polizist.“

„Ach nichts. Schreiben Sie uns Ihre Telefonnummer auf … “

 … Hab ich nur Handy!“

„Okay. Wir rufen Sie an.“

„Aber erst 18 Uhr. Vorher putzen. Da telefonier ich nix mit Handy. Außer ein Notfall. Also tschüss.“

„Äh, Frau Jovanka … doch noch eine Frage. War der Herr Klinger manchmal, sagen wir: jähzornig. Hat er getobt, hat er gebrüllt, hat er, was weiß ich, vor Wut etwas kaputtgeschlagen. Haben Sie Scherben entsorgen müssen, zertrümmertes Geschirr. Hat es in seinem Büro öfter so ausgesehen wie jetzt? Trümmer und Bücher. Wie nach einer Explosion oder nach einer Schlacht. Nur halt ohne Herrn Klinger als Leiche darunter. Sie verstehen, was ich meine?“

„Versteh ich, ja, Frau Polizist. Hab ich ja nicht Sprung in der Schüssel. In Mazedonien bin gegangen in Mittelschule, gut gelernt. Bin nix bleed!“

„Also hat er … war er … “

„Hat er nix geschrieen, Herr Klinger. So ein feiner Mensch. Immer kleines Lächeln. Einmal, das war voriges Jahr, glaub ich, hat bissl so ausgeschaut wie heute. So Bücher auf Fußboden und so viele Papierlschneeball. Alles drunter, drüber. Aber ich hab nix gefragt, hab nur aufgeräumt und geputzt.“

„Sie haben ihn nicht gefragt … “

„Bin ich Polizist? Nix gefragt. Nur: Geht’s Ihnen gut, Herr Klinger. Und er gesagt: Jetzt schon. Jetzt schon wieder. Und dann hat er mir doppelte Lohn gezahlt. War immer großzügig, immer Spendierhose.“

„Aber warum … “

„Geht mich nix an. Vielleicht jemand anderes hat gestierlt und alles drunter und drüber gemacht.“

„Sie meinen, ein Einbrecher?“

„So viele Einbrecher heutzutage.“

„Wann war das genau?“

„War Juli, Anfang von Juli. Weiß ich noch, weil ich hab geputzt halbnackert, so heiß war es. Aber erst, nachdem Herr Klinger weg gegangen. Putz ich doch nicht halbnackert, wann er da ist! Hat nix gesagt, wegen Einbruch oder sowas. Doppelte Lohn, weil so viel Arbeit für mich!“

Jovanka, Jovanka! Du hast halbnackert bei mir geputzt? Echt stark. Aber diesen Idioten von der Kripo hättest du das nicht erzählen müssen. Die haben sowieso schon eine schlechte Meinung von mir. Was glaubst du, was jetzt in deren Köpfen vorgeht! Ich hätte das damals der Polizei melden sollen. Aber das war mir zu blöd. Ich weiß ja auch gar nicht, was der Arsch in meinem Büro gesucht hat. Ob das eine Warnung gewesen sein soll. Und ob er es überhaupt war. Oder sie? Oder ganz wer anderer, ein Strohmann. Seit damals ist nichts mehr vorgefallen. Es herrschte wieder Frieden im Haus … wie man so schön idiotisch sagt. Glaubst du, dass der was mit meinem Todesfall zu tun hat? Oder sie? Wieso kann ich mich ausgerechnet an die Details von heute früh nicht erinnern? Ich hab die Zeitung geholt, im Bademantel, wie immer … warum hab ich die Tür nicht zugesperrt? Totales Blackout. Und wie halbnackert? So richtig in BH und Höschen? Und wenn ich früher als sonst heimgekommen wäre? Jovanka! Was man alles erfährt, wenn man tot ist! Jetzt geh. Hab dich, Sie gern gehabt.